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5 NAHTODERFAHRUNGEN

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Ich habe mich schon immer für den Tod interessiert. Das hing möglicherweise damit zusammen, dass ich mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt kam und im Alter von drei Jahren eine damals noch lebensbedrohliche Operation überstehen musste, um ein normales Leben führen zu können. Ich habe alle Bücher über Nahtoderfahrungen verschlungen, die ich finden konnte.

Außerdem haben mich In besonderer Weise die Wundergeschichten, die mein Vater aus dem Krieg mitbrachte, geprägt. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde mein Vater als Jugendlicher zur Waffen-SS eingezogen. Sein Schicksal war kein Einzelfall, sondern eine kollektive Erfahrung, die männliche Jugendliche seiner Generation teilten.39 Persönliche schuldhafte Verstrickung und die fiktive Schuld des Überlebens lastete auf seinen Schultern. Zugleich förderten seine Kriegserfahrungen den Glauben an einen Gott, der Gnade walten ließ, und tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal für seine wundersamen Rettungen.

Als mein Vater mit anderen Soldaten auf einem Panzer saß, der von der Straße abkam und eine Böschung herabstürzte, fühlte er sich von unsichtbaren Vogelschwingen sanft auf den Rand des Abhangs gehoben und blieb unverletzt. Wenn er später davon erzählte, zitierte er gerne Moses 32, 11f.: »Wie ein Adler, der seinen Jungen das Fliegen beibringt, über ihnen schwebt und sie auffängt, seine Schwingen ausbreitet und sie auf seinen Flügeln in die Höhe trägt, so führte der Herr sie.«

Während des Krieges in Russland lebte mein Vater mit seiner Kompanie in einem Haus zusammen mit russischen Soldaten. Die Deutschen bewohnten das Erdgeschoss, die Russen das Obergeschoss. Es bestand eine unausgesprochene Übereinkunft, dass man sich ruhig verhielt und das Ende des Krieges abwartete. Mit den feindlichen russischen Soldaten teilten sie sich die Lebensmittel im Haus, zum Beispiel die geräucherten Würste, die im Kamin hingen. Eines Tages tauchte im Garten eine Tasche auf. Sein Vorgesetzter befahl meinem Vater, die Tasche zu holen. Mein Vater weigerte sich, weil er eine Falle befürchtete. Er hatte Glück, dass sein Vorgesetzter die Sache auf sich beruhen ließ. Einige Tage später pirschte ein anderer Soldat an die Tasche heran und wurde erschossen.

Schließlich geriet mein Vater in russische Gefangenschaft und wurde erneut auf wundersame Weise gerettet. Mehrere russische Offiziere und Ärzte suchten nach SS-Angehörigen unter den Gefangenen. Alle mussten sich in Reihen aufstellen und ihre Arme heben, weil bei den Mitgliedern der Waffen-SS in der Achsel die Blutgruppe eintätowiert worden war. Mehrere Personen übersahen die Tätowierung bei meinem Vater. Er musste zusehen, wie seine Mitgefangenen, die die Blutgruppe in der Achsel trugen, auf der Stelle erschossen wurden, während er wieder unverhofft überlebte. Bei Kriegsende war mein Vater achtzehn Jahre alt und entschloss sich, Pfarrer zu werden. Sicher hat auch das in seiner Generation weit verbreitete Schuldgefühl der Überlebenden zu seiner Berufswahl beigetragen. Er arbeitete die längste Zeit seines Berufslebens als Gefängnispfarrer.

Mein Vater hat das, was seine Kriegserfahrungen von Angst, Schuld und spektakulärer Rettung auslösten, Bekehrung genannt. Für mich gibt es viele Parallelen zum Aufwachen, wie ich es verstehe. Nahtoderfahrungen und existenzielle Bedrohungen initiieren oft das innere Erwachen. Dann begegnet man dem Göttlichen, in welcher Gestalt auch immer es sich zeigt. Die Erzählungen meines Vaters haben auch mein Bewusstsein dafür geprägt, dass im Leben eine höhere Macht wirkt.

Eine Nahtoderfahrung ist oft der Grund, dass überhaupt ein spiritueller Weg eingeschlagen wird. Dabei muss es sich nicht immer um äußerst dramatische Ereignisse wie eine Überdosis Drogen oder einen lebensbedrohlichen Unfall handeln. Wenn Menschen einen Terroranschlag oder Amoklauf aus nächster Nähe erleben, kann das ihre Perspektive auf das Leben verändern. Eine Krebsdiagnose kann auf die Persönlichkeit eine stark transformierende Wirkung haben, selbst wenn der Betroffene schnell wieder geheilt entlassen wird. Auch die Pflege sterbender Angehöriger erweitert den Horizont.

SPIRITUELLE HERAUSFORDERUNGEN MEISTERN

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