Читать книгу Beurteilungsfehler bei (kollegialen) Feedbacks - Christof Morscher - Страница 10
Оглавление3. Fehler und Umgang sowie Einordnung von diesen
Bevor genauer auf Feedback an sich eingegangen wird, ist zuerst der Begriff des Fehlers genauer zu klären. Bei praktisch jeder Tätigkeit besteht die Möglichkeit, Fehler zu begehen, und „Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden […] Fehler werden dauernd […] gemacht.“47 Dies ist sicherlich keine neue Erkenntnis und kann auch schon etwa bei Sophokles48, Euripides49, Demosthenes50 sowie Augustinus51 nachgelesen werden und auch Goethe meinte: „Es irrt der Mensch, so lang‘ er strebt.“52 Insb. auch im Klassenzimmer müssen Entscheidungen oftmals schnell gefällt werden, und es ist nicht (immer) möglich, alle Umstände und Informationen in jeder Situation zu sammeln, zu bedenken und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, wodurch es schon aus diesem Grund zu Fehlern kommen kann.53
Schon Aristoteles unterscheidete zwischen Unglücksfällen, einem Fehler und einer Rechtsverletzung. Während das Unglück ohne böse Absicht und unvorhersehbar eintritt, war ein Fehler zwar vorhersehbar, dieser wurde allerdings nicht mit übler Absicht begangen. Demgegenüber war eine Rechtsverletzung sowohl absehbar und wurde zudem mit schlechter Absicht begangen.54 Eine Differenzierung des Fehlerbegriffs hinsichtlich des Wissens und Könnens nahm Weimer (1925) vor. So wird von einem Irrtum gesprochen, wenn das nötige Wissen nicht vorhanden war und es daher etwa zu Fehlschlüssen kam, welche aus der Sicht eines besser Informierten nicht stimmen. Um einen Fehler jedoch handelt es sich dann, wenn wider vorhandenem Wissen und Fähigkeit bspw. ein Schüler eine Rechenaufgabe nicht richtig löst.55 Gemäß Rigby (1970) handelt es sich dann um einen Fehler, wenn durch eine Handlung, eine Grenze überschritten (oder diese nicht erreicht) wird und damit eine Toleranz nicht eingehalten wird, womit auch klar ist, dass nicht jede beliebige Handlung automatisch zu einer unbeabsichtigten oder negativen Folge führt.56 Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass auch dann ein Fehler vorliegen kann, wenn keine Aktivität gesetzt wurde. Allgemeiner kann der Begriff des Fehlers auch dahingehend erklärt werden, dass es sich bei diesem um eine Abweichung von einem Soll-Zustand gegenüber einem Ist-Zustand handelt. Die Begriffe Versehen, Ausrutscher oder Flüchtigkeitsfehler können so verstanden werden, dass hierbei zwar eine Intention besteht, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, dies jedoch aufgrund einer mangelhaften Ausführung nicht gelingt. Meist aufgrund multikausaler Gründe werden dabei etwa nicht passende (jedoch ggf. korrekte) Schemata ausgeführt oder an sich richtige Schemata in nicht richtiger Art beendet oder zu falschen Zeiten ausgeführt.57 Eine dreiteilige Klassifikation des Fehlerbegriffs geht auf Reason (1990a/b) zurück. Er unterscheidet zwischen den schon genannten Flüchtigkeitsfehlern (bzw. bei ihm Skill-based Fehler) und Regel- bzw. Wissensbasierten Fehlern. Regelbasierte Fehler treten daher auf, da es in einer Entscheidungssituation an dem nötigen Wissen fehlt und deshalb falsche Annahmen als Ausgangspunkt der Überlegungen verwendet werden oder ein vermuteter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung so nicht stimmt. Weiters können wissensbasierte Denkfehler auftreten, da eine Person bspw. Fehlschlüsse zieht.58 Fehler an sich können systematisch, sporadisch oder zufällig auftreten und damit ganz unterschiedliche Wirkungen zeigen.59 Fehler können auch einmalig oder mehrmals gemacht, innerhalb eines kurzen Augenblicks begangen werden oder sich über einen langen Zeithorizont ziehen.
Die Frage ist nun, wie mit Fehlern umgegangen werden kann. Gegenüber dem Ansatz, einen Fehler einer oder mehreren bestimmten Person(en) oder Handlung(en) zuzuordnen, wird beim systemischen Ansatz eine ganzheitliche Sicht auf komplexe Umstände und Verknüpfungen, welche zum Fehler geführt haben, vorgenommen. Eine bestimmte Handlung mag am Ende einer Kette letztlich zu einem Fehler geführt haben, doch ist bspw. zu hinterfragen, ob der Fehler durch ein anderes Design, etwa einer notwendigen Art eine Maschine zu bedienen, nicht schon wesentlich früher in der Kausalkette verhindert werden hätte können und dieser somit schon latent vorlag.60 Manche Bereiche sind so sensibel, dass Fehler schlichtweg nicht passieren dürfen, da diese zu einer Katastrophe führen würden. Hierunter fällt etwa der Betrieb eines Atomreaktors. Um ein solches System sicher(er) zu machen, wird versucht, dieses resilienter auszugestalten, indem eine ungewollte Abweichung durch ein Sicherungssystem erkannt sowie „aufgehalten“ wird und diese nicht zu einem Gesamtfehler bzw. zu einer Katastrophe führt.61
Gegenüber dem systemischen Ansatz kann der Fokus jedoch bei einer bestimmten Person und deren Handlungen als Ausgangspunkt eines unerwünschten Resultats liegen. Neben durch mutwillige Handlungen herbeigeführten Resultaten sind hierbei auch die unerwünschten sowie unbeabsichtigten Auswirkungen von Entscheidungen zu berücksichtigten.62 Werden Fehler sowie deren Verursacher hierbei generell als negativ wahrgenommen oder ist es möglich, einen konstruktiven Umgang mit diesen zu pflegen, indem diese erkannt 63 sowie anschließend verstanden werden und aus diesen gelernt wird, wie diese in Zukunft vermieden werden können64. Ist dies der Fall, kann sich ein Fehler als überaus nützlich erweisen65. Zusätzlich kann durch einen Fehler „negatives Wissen“66 erworben werden, also etwa Wissen darüber, wie etwas nicht funktioniert.67 Gegenüber der Ansicht, dass Fehler grundsätzlich positiv sind68, ist jedoch anzumerken, dass ein ständiges Scheitern etwa zu Verlust des Selbstbewusstseins und zu Entmutigung führen kann.69 Wie schon dargestellt, gehören Fehler jedoch zu einem Entwicklungsprozess und Marquard (1986) meinte dazu sogar, dass „… wir irren uns empor.“70 Letztlich ist niemand vor Fehlern gefeit und es empfiehlt sich wohl, diese als Lerngelegenheit anzusehen und – wenn ein Fehler einer Person zugeordnet wird – dieser auch vergeben zu können.71
47 Popper (1999), S. 324, wobei es sich bei der Quelle ursprünglich um einen am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen sowie am 16. März 1982 beim Toleranzgespräch in der Alten Universität Wien wiederholten Vortrag handelt und die angegebene Quelle die Wiener Fassung beinhaltet.
48 Vgl. Sophokles (2016), 1023 ff.: „Denn den Menschen insgesamt gemeinsam ist das In-die-Irre-Gehen. Wenn einer aber in die Irre ging, ist der nicht länger ein gedankenloser oder glückverlassner Mann, der, falls ins Unglück er sich stürzte, Heilung sucht und sich nicht unbeugsam verhält. Nur Starrsinn macht des Unverstands sich schuldig.“
49 Vgl. Euripides (1891), 615, S. 113: „sei nicht zu streng. zu sünd’gen ist ja menschlich.”
50 Vgl. Demosthenes (1856), 289, Inschrift, S. 143: „Göttliches Vorrecht ist’s nicht fehlen …“, wobei damit allen nicht göttlichen Wesen dieses Vorrecht nicht anheim ist.
51 Vgl. Augustinus von Hippo (1473), XI, 26: „si enim fallor, sum” (Übersetzung: Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich.)
52 Goethe (1838), S. 24; ähnlich auch bei Planck (1922), S. 80: „Wer es einmal so weit gebracht hat, daß er nicht mehr irrt, der hat auch zu arbeiten aufgehört.“
53 Vgl. dazu etwa Dörner (2000), S. 63: „Man muß sich, etwa beim Planen, mit Ungefährlösungen zufriedengeben. Man muß darauf verzichten, alle Informationen, die man vielleicht bekommen könnte, auch zu sammeln, da die Vollständigkeit der Informationssammlung mit dem Zwang zum Handeln unter Zeitdruck kollidiert.“; Beccaria (1851), S. 65: „Es ist unmöglich, allen Unordnungen im allgemeinen Widerstreit menschlicher Leidenschaften vorzubeugen.“
54 Vgl. Aristoteles (2007), 1374b, S. 65 f.
55 Vgl. Weimer (1925), S. 2 ff.
56 Vgl. Rigby (1970), S. 458; hierzu auch der „Incident Iceberg“ bei Hofinger (2012), S. 47 f. bzw. ursprünglich schon bei Pierre et al. (2008), S. 37; bzgl. den (noch) nicht akuten Problemen Dörner (2000), S. 127: „Wenn man sich um die Probleme, die man nicht hat, nicht kümmert, dann hat man sie bald!“
57 Vgl. ausführlicher zu dieser Unterkategorie von Fehlern Steuer (2014), S. 21 f. sowie Norman (1981).
58 Vgl. dazu übersichtsartig Reason (1990a), S. 69 sowie die weiteren Ausführungen in seinem Buch.
59 Vgl. Hofinger (2012), S. 48 in Anlehnung an Chapanis (1951); zu weiteren Einteilungsmöglichkeiten von Fehler etwa Oser (2015), S. 76 f.
60 Vgl. Hofinger (2012), S. 43 ff.
61 Vgl. dazu Reason (1990b), insb. S. 479, Figure 1 (Limited windows of accident opportunity) sowie das bei Reason (1990a), S. 202 angedeutete und später ausformulierte und eingeführte „Swiss cheese model“ (Schweizer-Käse-Modell), wobei der Name dabei auf Rob Lee zurückzuführen ist, vgl. Reason (2013), S. 121, bei welchem verschiedene Schutzbarrieren dafür sorgen, dass ein Fehler nicht zu einer unbeabsichtigten Folge führt. Durchdringt ein Fehler die erste Absicherung, wird er ggf. durch eine zweite, bei welcher der Fehler nicht durch ein gleichartiges „Loch“ in der Abschirmung „durchrutschen“ kann, aufgehalten etc., vgl. Reason (2000), S. 769 f. sowie zur Kritik über das Model etwa Larouzee/Coze (2020). Bei Atomreaktoren gilt, aufgrund den katastrophalen Folgen, welche hier ein Unfall hätte, der Null-Fehler-Ansatz.
62 Und dabei auch jene, bei welchen Personen dachten richtig gehandelt zu haben, es jedoch durch die dabei getätigten Entscheidungen zu Fehlern kam. Hierzu Dekker (2014), S. 7: „The point of a new View ‘human error’ investigation is not to say where people went wrong (that much is easy). The point is to understand why they thought they were doing things right; why it made sense to them at the time.”; dazu etwa schon Weimer (1925), S. 11: „Wären wirklich die zahllosen Fehler, die täglich und stündlich von allen Menschen gemacht werden, das Erzeugnis kranker Seelen, so müßte die Welt ein großes Irrenhaus sein.”
63 Vgl. Price (2006), S. 9: „For purposes of becoming better teachers, awareness of our weaknesses is probably more important because there’s so much more room for improvement.“
64 Vgl. Cicero (1868), XII, 2, 5, S. 87: „Jeder Mensch kann irren; nur der Thor wird in seinem Irrthum beharren.“
65 Köhler (1973), S. 88, 90, 95, 112, 113, 140, 157 und 162 verwendete das Begriffspaar des „guten Fehlers“ im Rahmen von Intelligenzprüfungen an Schimpansen. Gemeint ist dabei, dass beim guten Fehler der Ansatz richtig, jedoch die Ausführung (ggf. notwendigerweise zuerst) mangelhaft ist, wohingegen beim schlechten / törichten Fehler eine frühere Lösung nachgeahmt / wiederholt und auf ein Problem übertragen wird, ohne dabei über ein Funktionalverständnis des Vorganges zu verfügen (bspw. springt ein Affe von einer Kiste in die Luft, wobei das Ziel an einem anderen Ort hängt), vgl. Duncker (1974), S. 8. Der gute Fehler kann (oftmals) eine (notwendige) Voraussetzung sein, um die Lösung von (schwierigen) Problemen zu finden, vgl. Weinert (1999), S. 104.
66 Vgl. zu diesem Begriff genauer bei Oser et al. (1999), S. 17 ff.; wobei Oser (2015), etwa S. 71 f. später auch insb. die Möglichkeit betont, dass aus einem Fehler neue Dinge entspringen können.
67 Hierzu etwa Goethe (1906), S. 450, welcher ein holländisches Sprichwort wiedergibt: „Stolpern fördert.“; Mackay (1841), S. 3: „The study of the errors into which great minds have fallen in the pursuit of truth can never be uninstructive.” und 3 f.: „No man is so wise but that he may learn some wisdom from his past errors, either of thought or action, and no society has made such advances as to be capable of no improvement from the retrospect of its past folly and credulity.“; Fuller (1969), S. 92: „… every time man makes a new experiment he always learns more. He cannot learn less. He may learn that what he thought was true was not true. By the elimination of a false premise, his basic capital wealth which in his given lifetime is disembarrassed of further preoccupation with considerations of how to employ a worthless time-consuming hypothesis. Freeing his time for its more effective exploratory investment is to give man increased wealth.”; Meadowcroft (1911), S. 301 f.: „If, in following out his ideas, an experiment does not show the results that Edison wants, it is not regarded as a failure, but as something learned. This attitude is illustrated by his reply to Mr. Mallory, who expressed regret that the first nine thousand and odd experiments on the storage battery had been without results. Edison replied, with a smile: “Results! Why, man, I have gotten a lot of results! I have found several thousand things that won’t work.”” sowie später ähnlich Edison (1921), S. 89: „I never allow myself to become discouraged under any circumstances. I recall that after we had conducted thousands of experiments on a certain project without solving the problem, one of my associates, after we had conducted the crowning experiment and it had proved a failure, expressed discouragement and disgust over our having failed ‘to find out anything.’ I cheerily assured him that we had learned something. For we had learned for a certainty that the thing couldn’t be done that way, and that we would have to try some other way. We sometimes learn a lot from our failures if we have put into the effort the best thought and work we are capable of.”; Feyerabend (1993), S. 158: „These 'deviations', these 'errors', are preconditions of progress. They permit knowledge to survive in the complex and difficult world which we inhabit, they permit us to remain free and happy agents. Without 'chaos', no knowledge.”; Bean (1960), S. 193: „Our aim, then, must not be to deny error, but to learn from it, avoiding the stability we give it from repetition.“; Norman (2013), S. 216: „We should deal with error by embracing it, by seeking to understand the causes and ensuring they do not happen again. We need to assist rather than punish or scold.”; Popper (1999), S. 325: „… daß wir, um zu lernen, Fehler möglichst zu vermeiden, gerade von unseren Fehlern lernen müssen.“
68 Vgl. etwa Beckett (1989), S. 101: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.” auch wenn der nachfolgende Text bei Beckett weniger passend in diesem Sinn ist, dazu und mehr zur Verwendung dieser Textpassage etwa bei O’Connell (2014); Brecht (1967a), S. 377: „»Woran arbeiten Sie?« wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: »Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.«“
69 Vgl. dazu etwa Bakke (1933), S. 64 ff. bzw. in grafischer Form bei Harrison (1976), S. 340 und die Entmutigung, welche sich bei einer arbeitslos gewordenen Person allmählich einstellen kann.
70 Marquard (1986), S. 22; sowie später bei Vollmer (1995) und Vollmer (2007). Gemäß Romfeld (2016), S. 261 FN 10 ist es so, dass Marquard diesen Ausspruch eingeführt und Vollmer diesen dann bekannt gemacht hat.
71 Vgl. Pope (1711), S. 30: „… To Err is Humane; to Forgive, Devine.“; Arouet, François-Marie (besser bekannt als Voltaire) (2019), S. 31: „Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, daß wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen.“