Читать книгу Sprache, Haltung, Freiheit. Ein Zustandsbericht - Christof Sperl - Страница 6

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Vom zweifachen Tod des Halit Yozgat. Warum die Rechte stark, die Linke aber schwach ist

Im März 2020 erscheint auf libération.fr ein Bericht zu staatlichem Übereifer1. Obdachlose aus den Zentren von Bayonne, Paris und Lyon waren in den Tagen vor dem Hintergrund der Infektionskrise von Polizeibeamten mit Platzverweisen und Bußgeldern bedacht worden. Zwar wurden infolge von Protesten die Bescheide umgehend aufgehoben, dennoch offenbaren die Vorgänge viel von der Hilflosigkeit der Behörden, die sich dort, wo sie das Terrain noch kontrollieren, mit den Schwächsten, nicht aber mit dem Notwendigen befassen.

Ganz anders sieht es in den Vorstädten aus, denn in manche banlieue traut sich die Staatsmacht schon gar nicht mehr hinein, vor allem dann nicht, wenn sie in Uniform auftaucht. Omnipräsente Hütchenspieler bieten dem zivilen Beobachter ebenso schnelle wie illegale Tricks, um Unbedarften das Geld aus der Tasche zu ziehen, Dealer verstecken ihre Ware in gerösteten Maiskolben, die immergleichen Straßenlungerer stehen in abgewetzten Jacketts an den Ecken herum, außer befristeten Billigjobs gibt es keine Chancen, Perspektiven, Wege. Der hohe innere Druck des Soziotops wird für mich nahezu körperlich spürbar, als ich im berüchtigten achtzehnten Pariser Arrondissement beim arabischen Bäcker kein Brot mehr bekomme. Wie Luft oder ein unerwünschter Eindringling behandelt zu werden ist zur neuen, schmerzhaften Erfahrung und Lektion desjenigen geworden, der genau hinschaut und sich ins Geschehen traut. Als offensichtlich befremdlich wirkender, interessierter Beobachter der Straßenszenen vor dem Ladengeschäft angezischt und angefeindet, werde ich einer wütenden hauptstädtischen Ellenbogengesellschaft gewahr, die Abweichendes, sich Hineinwagendes, nicht Einschätzbares kategorisch ausschließt, so wie auch sie selbst von den Bewohnern des wohlhabenden Zentrums als störend wahrgenommen wird. Mathieu Kassovitz hat Teile des Milieus in seinem Film La haine eindrucksvoll geschildert. Es ist eine Umgebung, in der sich die Enttäuschung des Nicht-mehr-dazu-Gehörens unmittelbar einstellt. Denn egal wie man es zu drehen versucht, vor Ort ergibt sich fast immer das unbestimmte, aber dennoch ziemlich bittere Gefühl des alten Mannes, der zufällig in eine Gruppe feixender Jugendlicher hineingeraten ist.

Nach Tage währenden Kämpfen zwischen konkurrierenden nordafrikanischen und tschetschenischen Banden wird weiter südlich in Dijon das Auto eines französischen Filmreporters von überholenden Mopeds aus mit Fußtritten traktiert. Ihr gehört nicht hierher, das ist unser Territorium, so lässt sich die Bedeutung kurz umschreiben. Im Anschluss an die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Viertel Grésilles gelingt dem Reporter doch noch in Interview mit einem der führenden Tschetschenen: „Polizei? Die brauchen wir nicht“, sagt der Chef im ruhigen Ton als gönnerhaft kaschierter Überlegenheit und mit erhobenem Finger. „Wir regeln unsere Probleme untereinander. Einen Tschetschenen fasst man nicht an.“ Der Befragte wiederholt den letzten Satz noch einmal ganz langsam, und setzt zur Verdeutlichung zwischen jedes einzelne Wort eine grotesk lange Pause.

Nun ist all das kein Wunder. Die Polizei hatte sich die erste Zeit trotz all der Spannungen kaum sehen lassen. Nur fünfzehn Beamte standen hunderten aufgebrachten und europaweit eigens angereisten Männern gegenüber. Nach drei Tagen hatte Paris schließlich einhundertundfünfzig zusätzliche Polizisten in den Südwesten abkommandiert. Auf begrenzte Zeit, wie sich versteht.

Im Oktober desselben Jahres wird der Geschichtslehrer Samuel Paty am Rande einer hauptstädtischen Agglomeration auf offener Straße erstochen, seine Leiche darauf obendrein noch enthauptet, weil dieser Lehrer es wiederholt gewagt haben soll, im Unterricht das Recht der Meinungsfreiheit zu thematisieren.2 Das Bild des abgetrennten Kopfes kursiert für einige Zeit sogar auf Twitter. Die Wörter liberté, égalité, fraternité schmücken immer noch als basale Elemente, als ein „idealistisches Versprechen“ der Republik (Joseph de Weck) die Eingänge jeder einzelnen französischen Schule. Präsident Macron verweist in einer ersten Stellungnahme auf deren wichtigste Funktion: Der Heranbildung aufgeklärter Staatsbürger. Wie schon in den Monaten und Jahren zuvor sind der Staat und seine gedankliche Grundlage auch diesmal wieder bis ins Mark erschüttert. In den folgenden Tagen registrieren die Behörden Dutzende, der Tat in aller Deutlichkeit zustimmende Kommentare.

Noch ein paar hundert Kilometer weiter südwestlich wird fast zur gleichen Zeit der Busfahrer Philippe Montguillot, Vater dreier Kinder, in Bayonne von Jugendlichen totgeprügelt, weil er sie nicht ohne Maske das Fahrzeug betreten lassen wollte. Rechte Foren beeilen sich, die Identität der vier polizeibekannten Verhafteten preiszugeben. Die Vornamen werden umgehend zum hasserfüllten Programm gemacht, als gäbe es nicht auch originär französischen Kriminelle und Schläger, die beispielsweise auf die Namen Marcel oder Éric getauft sind. Die Kommentarspalten der Onlinepresse schäumen über, man freut sich unverholen, dass, wie im fast gleichnamigen Lied von Francis Cabrel, mal wieder, habt ihr es gehört, ein Mohammed oder Ali der Täter war. Cabrel verdammte in seinem Lied den Rassismus. Die Foristen aber befeuern ihn: Der Mord ist ein gefundenes Fressen, Wasser auf die Mühlen der seit einiger Zeit von findigen Politikberatern als gemäßigt recycleten und in der typischen Art französischen Politikdesigns völlig neu produzierten Marine Le Pen, Markierungen auf dem Kerbstock der Migrationskritik, und wieder einmal deutliche Rückschläge für am Ausgleich orientierte Mitmenschen.

Es ist dies keine sensationsheischend und unter Anklagegesichtspunkten gewählte Aneinanderreihung von die Argumentation unterstützenden europäischen Problemlagen. Diese Sammlung von Ereignissen entstand durch nicht mehr als den gelegentlichen Konsum von Medienberichten aus einem Land, dem ich mich als Demokrat verbunden fühle. Sein Zustand bereitet mir Unbehagen. Andere Länder, andere Sitten, so wäre man nach diesem kurzen Ausflug zum Nachbarn schnell versucht zu sagen. Wie aber fühlt es sich als Gegenprobe in deutschen Städten an? Denn trotz des noch immer währenden Hypes um die Verheißungen des Urbanen sei bereits jetzt die hier kurz eingeschobene Bemerkung erlaubt, nach der in einschlägigen Straßenzügen die Freude am Schönen oftmals unter erheblichen Leidensdruck geraten kann. Urban heißt nämlich nicht immer auch gleich attraktiv: Müllberge und herrenlose Einkaufswagencluster säumen weitab der arrivierten Viertel die Straßen. Anwohner scheinen im Dauerbetrieb ein- und auszuziehen, wobei offensichtlich ein jedes Mal der gesamte Hausrat komplett entsorgt, Küchen und Matratzen im Wochenwechsel getauscht werden. In den Schulen ändern sich die Klassenlisten mitunter monatlich. Die Elternschaft aus dem Niedriglohnsektor ist gezwungenermaßen hochmobil. Sie muss, gegebenenfalls in Windeseile, Job und Wohnort wechseln, um ein Einkommen zu sichern, das ohnehin kaum zum Leben reicht. Schließt eine Fleischfabrik auf behördliche Anordnung, wie es im hessischen Berndorf 2020 mit fataler Verspätung der Fall war, wechseln Teile des Personals bis zum vielleicht kommenden Lebensmittelskandal zur nächsten Verarbeitungsstelle. Und selbstverständlich zieht auch die Familie mit. Keine noch so engagierte Lehrkraft kann die wichtigen, engen Beziehungen zu den Kindern aufbauen, in deren Klassen die Schülerschaft mehrheitlich kein Deutsch oder nur wenig davon spricht, und einer beständigen Fluktuation unterliegt.

Alle paar Meter finden sich die schäbigen Spielotheken mit ihrer elendig blassen, kettenrauchenden Daddlerstaffage, die tagein tagaus ihr weniges Geld in die gierigen Einwurfschlitze steckt. Der Filterkaffee ist immerhin gratis. Mittlerweile müssen die müden Zocker nicht einmal mehr die Wohnungen verlassen: Was zählt, ist Geld, daher hat man kürzlich noch schnell die republikweit bis zum Zeitpunkt nur geduldeten Online-Glücksspiele nachträglich legalisiert, wie süffisanterweise das Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung berichtet.3 Dem genauen Betrachter waren die einschlägigen Anbieter schon zuvor von den Werbetafeln der Fußballstadien einschlägig bekannt. Es stellt sich die Frage nach legalen oder illegalen Geschäftsmodellen, doch wen kümmert diese Unterscheidung noch? Was wäre passiert, so könnte ein Gedankenexperiment verlaufen, hätten die Händler vom Görlitzer Park in Berlin vor ein paar Jahren angefangen, professionelle Öffentlichkeitsarbeit für ihr Suchtmodell zu betreiben? Hätte man auch dort vom mutlosen und resignierten Einsatz der Duldung Gebrauch gemacht? Ein paar schnell zusammengestellte Dokumente zur Prävention hätte man immerhin schnell noch nachschieben können. Schließlich drängt sich auch die Überlegung auf, ob das Prinzip der schleichenden Legalisierung nicht der Taktik der religiös-rechtspopulistischen Bolsonaro-Regierung Brasiliens genauestens entspricht, deren Präsident ebenso danach bestrebt ist, illegal durchgeführte Brandrodungen nachträglich zu entkriminalisieren. Schließlich geht es auch dort um sehr viel Geld.

Ein aus der Türkei stammender Mann aus Duisburg hat jahrzehntelang in Fabrik und Werkstatt doppelt hart gearbeitet, um sich ein paar Häuser als Altersvorsorge zu kaufen, die nun allesamt von heruntergewirtschafteten Schrottimmobilien und ihren rücksichtslosen Bewohnern umgeben, ihren Nutzwert nahezu komplett verloren haben, heißt es in einem TV-Bericht. Hier lohnt es nicht mehr für ihn, sich noch weiter anzustrengen. Die nunmehr vergebens erbrachte Lebensleistung erstreckt sich ins Vergangene. Es blüht der Handel mit gefälschten Geburtsurkunden, die von findigen Unternehmen gebündelt bei hilflos in Regelungen verstrickten Ämtern zur Kindergeldzahlung eingereicht werden. Graue Problemzonen, durchfurcht von schmutzigen, tristen, hoffnungslos anmutenden Straßen, in denen niemand gerne lebt.

Es sei erlaubt, die New Yorker Underground-Kultur der Siebziger zu bemühen. Ihre dem popkulturell Gebildeten allgemein bekannte, bisweilen dystopische und schlechtgelaunt unterkühlte Themensetzung scheint die für uns gegenwärtige Misere dieser sich überall gleichenden „Nicht-Orte“ der Postmoderne (ein Ausdruck von Marc Augé) in kluger Vorschau zu bestätigen: Wir sehen Stadtteile, die „sozio-kulturell im Sinne einer aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft ’gekippt’ sind“, wie sie Heise und Meyer-Heuer (2020) mit ihrem Bezug auf kriminelle Familienbande ziemlich treffend beschrieben haben,4 Orte, deren Bewohner ganz erstaunt über das Erscheinen des als fremd Empfundenen reagieren. Gern hätte der Verfasser einige hilfreiche Songzitate vorangestellt, doch das in diesem Bereich sehr strenge Uhrheberrecht hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Werfen wir einen Blick in die geographische Mitte Deutschlands. Ein Besuch der Stadt und ein Ausflug in ihren am Rande gelegenen Bergpark lohnen sich immer. Nicht weit der Kasseler Innenstadt aber befindet sich ebenfalls einer der für viele Orte so ikonischen Wohnkomplexe, deren Bewohnern wohl so ziemlich alles einerlei geworden ist, was im Leben noch egal sein kann. Draußen werden auch hier für jedermann sichtbar zwielichtige Geschäfte gemacht, es ist per ordnungsamtlich fachgerecht angeschraubtem Piktogramm sogar verboten, an einem der Eingänge herumzustehen, als würde das vor und im Problembau irgendetwas ändern können. Ob das Verbot durchgesetzt werden kann, vermögen von den Milieufremden nur die Autofahrer einzuschätzen, die im ewigen Stau zwischen den Baustellen an der Kreuzung stehen. Im Frühjahr 2021 verbrannte eine Person in ihrer Wohnung. Es hat lange gedauert, ihre Identität festzustellen. Niemand aus dem Komplex kannte den Mieter, dessen Wohnung nicht einmal ans Stromnetz angeschlossen war, und in der man vielleicht deshalb zahlreiche Reste von Teelichtern gefunden hatte, wie die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine im März 2021 schrieb.

Den Unrat wirft man auch hier praktischerweise einfach aus dem Fenster. Die Spendenboxen draußen werden regelmäßig nachts geplündert, indem man kleine Kinder hineinklettern lässt, die die Kleidungsstücke durch die Drehluke nach draußen werfen müssen. Der nicht verwertbare Rest wird dem Kreislauf entzogen, und verrottet am Boden. Man ist sicherlich erleichtert, wenn der gemeldete Nachwuchs vormittags gelegentlich die Schule aufsucht, um wegen mangelnder Sprachkenntnisse von mit immer mehr Sonderaufgaben betrauten Lehrkräften in den heruntergekommenen Schulgebäuden kaum etwas zu lernen. In die Wohnungen kommen, wie die Presse berichtet, regelmäßig Kammerjäger.5 Auch hier, in der Gegend um den gelben Komplex, reihen sich Daddel-Hölle an Wett-Bude, das dämlich grinsende, weißgelbe und fürs Elend schon ikonisch gewordene Sternzeichen und die blaue Narrenkappe sind allgegenwärtige Verzierung und zugleich auch Ortsschild der Szenerie geworden, denn schließlich gilt die Regel, dass in Stadtteilen mit dem geringstem Durchschnittseinkommen bei Wettspielen immer die höchsten Gewinne zu erzielen sind. In den Achtzigern galten solche Viertel noch als einigermaßen erträglich. Trotz aller Probleme gab es noch viele soziale Berührungspunkte. Heute dringen selbst gesundheitspolitische Vorgaben und Maßnahmen kaum noch durch. So wehrte man sich im nahe gelegenen Göttingen in einer vergleichbaren Gegend mit handfester Gewalt gegen eine auferlegte Corona-Quarantäne. Ob Impfskepsis, Misstrauen oder ein Mangel an Verständigungsmöglichkeiten daran schuld sind, darüber muss man spekulieren.

Viele von uns kennen solche Orte nicht. Man hat an ihnen nichts zu suchen. Man kennt sie nur vom Hörensagen, von zu schnellen Durchfahrten auf dem Weg ins Zentrum oder zur Autobahn. Das eigene Milieu liegt unfassbar weit davon entfernt, welches im Laufe des, sagen wir: letzten Jahrzehnts vornehmlich damit befasst war, Konsumbefehle zur Anschaffung großformatiger Edel-Kaffeemaschinen, teurer Thermomix-Geräte oder, jedenfalls in dieser Klimazone, überflüssigen Außenküchen entgegenzunehmen. Die Parteien, die wir mehrheitlich noch wählen, haben solchen Lebenswelten und ihren Bevölkerungen nichts anzubieten. Didier Eribon beschreibt in seinem Essay Retour à Reims die späte Entfremdung vom ureigenen, vergleichbar ärmlichen Lebensraum der Kindheit und Jugend. In den oben genannten Beispielen aber findet eine Entfremdung gar nicht statt. Denn es hat die vormaligen Gemeinsamkeiten des Milieus an sich niemals gegeben. Die meisten von uns haben mit alldem nichts zu tun und haben allenfalls ein paar Sprüche zur liberalen Selbstberuhigung aus Lager. Diese Haltung aber tut der Demokratie nicht gut.

In der Warteschlange im Drogeriemarkt herrsche babylonisches Sprachengewirr, nur an der Kasse sagten manche auf Deutsch, was unbedingt zu sagen sei, sofern sie das überhaupt könnten. Auf einen Smalltalk stiege ohnehin niemand ein. Versuche rufen Reaktionen hervor, die nach „Was willst du hier, was hast du an diesem Ort verloren“ klingen. Das sei alles nicht sein Land, sagt ein Freund, alles andere als ein Rechter, somit also viel zu klug für die Fänge ressentimentgeladener, verbohrter, einfach strukturierter Ideologen und deren Lehren, und, wie ich mit einigem Neid zugebe, wesentlich schneller im Kopf als ich selbst. Man kann diesen Satz, rein wissenschaftlich gesehen, nicht vorbehaltlos unterstreichen, allerdings ergeben sich bei längerem Nachdenken Zweifel, der Freund könnte mittlerweile doch irgendwie richtig liegen, wenn es, allein von der Sprache her ausgehend, auch nur ein klein wenig an Wahrheit wäre. Der politische Standpunkt hat sich bei manchem nicht geändert, doch die Welt um ihn hat sich sehr schnell gedreht. Viele von uns sind zwischen die Fronten geraten. Welche Welt soll für Progressive, Linke, Konservative, Liberale oder Säkulare eigentlich noch richtig sein? Welche Haltung solle man einnehmen, um Demokratie zu stärken?

Ein babylonisches Gewirr aus Idiomen wird hier also beklagt, ein System parallel laufender Kommunikationskanäle, mit dem wir es allenthalben immer mehr zu tun haben. Sprachen sind faszinierend. Ich beherrsche, sie wurden mit dem nötigen Fleiß erarbeitet, selbst ein paar davon. Vor Urlauben in noch unbekannten Ländern lerne ich stets das Wichtigste, und seien es bloß Floskeln wie Guten Tag und Dankeschön. Ausdrücke also, deren oberflächliche Kenntnis schon allein der menschliche Respekt gebietet, und für die man sich fast immer dankbar zeigt. In jedem Land allerdings sollte eine Hauptsprache als Leitmedium unmissverständlich und als maßgeblich respektiert sein, derer jeder sich mit Leichtigkeit, auch an der Kasse, bedienen, in der er jederzeit reagieren können muss. Wo aber Menschen bloß noch im eigenen Zeichensystem herumlärmen, jahrzehntelang nur im spezifischen Saft der Zugehörigkeit vor sich hin schmoren, rechts und links ganz offensichtlich nichts wahrzunehmen bereit und in der Lage sind, entstehen Sprachblasen, die kaum mehr miteinander kommunizieren, es entstehen Entfremdung, Konflikte und auch ein Unwohlsein, nicht nur bei der Primärbevölkerung. Ich bin Sozialjunkie, neugierig, spreche an, und ernte dort, wo Raphael, Radovan und Redouane aufeinander treffen bloß Widerwillen, Erstaunen oder ostentatives Desinteresse. Viele, die sich diesen Teil Zentraleuropas als Lebensmitte ausgesucht haben, begeistern sich keine Spur für das Land, seine Rechte, sein Grundgesetz, wo doch die Zukunft gerade in diesen schwierigen Zeiten nur in einer demokratisch fundierten Gemeinsamkeit zu liegen scheint.

Dabei ist Sprache als Werkzeug zur Teilhabe überaus wichtig: Nur wer mitzureden in der Lage ist, kann auch dazugehören.6 Sozialer Aufstieg, den wir brauchen und ermöglichen müssen, ist nicht nur, aber auch durch Redefähigkeit zu schaffen. Der Rückzug in einen linguistisch limitierten Isolationsraum behindert die Herausbildung von Debatten, die Verhandlung von Bedeutungen, verhindert gruppenübergreifendes Engagement und fördert den Argwohn der Umwelt. Wer aber erst aus der Hürriyet erfährt, dass Fatih Akin einen Filmpreis gewonnen hat, lebt an der Gemeinsamkeit vorbei. Also sollten wir uns miteinander fragen: Sind wir als Gesellschaft so unattraktiv geworden, dass sich mit uns niemand mehr identifizieren mag? Und wenn dies so ist, woran kann das liegen? Wie steht es mit den Chancen, als fremd wahrgenommener Mitmensch überhaupt soziale Anerkennung zu erfahren? An der Ladenkasse lässt sich ein vor mir stehender Mann mit seinem deutlichen Akzent über Ersatzteile beraten. Vom Verkäufer wird er während der gesamten Debatte geduzt. Aus dem Gespräch geht allerdings hervor, dass beide sich mit Sicherheit niemals zuvor begegnet sind. Ich selbst bin unmittelbar nach diesem Mitmenschen an der Reihe, und werde, ganz selbstverständlich, mit dem formalen Sie begrüßt.

Kommen wir also zu denen, die offenbar nicht ankommen dürfen. In der Holländischen Straße, nicht weit vom beschriebenen Schmuddelhaus entfernt, wurde im April 2006 der türkischstämmige Unternehmer Halit Yozgat in seinem Internet-Café als neuntes Todesopfer der nach wie vor weitgehend ungeklärten NSU-Mordserie hingerichtet. Große Teile der Stadtbevölkerung forderten die Umbenennung der Straßenbahnhaltestelle Mombachstraße in Halitplatz. Mit großem Geschrei wollte die lokale CDU das Vorhaben stoppen: Denn wer Yozgat heißt, darf offensichtlich keinesfalls dazugehören. Jedenfalls nicht zum ordnungsgemäßen Christdemokratendeutschland, in dem man das Opfer in allerlei Foren posthum noch als aufmüpfigen Problemschüler zu brandmarken versuchte, sein Tod irrelevant, als hätte ein Schulrabauke die Todesstrafe verdient, und als sei die Sechs in Mathe erwähnenswerter als ein zu früh erloschenes, noch junges Leben. Die Namensänderung der seit neuestem in Walter-Lübcke-Schule umbenannten Lehranstalt im benachbarten Wolfhagen ging im Vergleich um einiges schneller über die lokalpolitische Bühne. Lübcke war ein bekannter, engagierter CDU-Politiker. Den unbekannten Halit Yozgat aber hat man zweimal umgebracht. Physisch und verbal.

Die Städte und ihre Gewalt. Sie ginge landesweit zurück, wie man das statistisch immer wieder untermauert. Doch was fließt in solche Statistik ein? Nur Mord und Totschlag, oder auch all die unterschwelligen, lokalen Übertretungen? Einige Agglomerationen haben Waffenverbotszonen eingerichtet, wohl nicht ganz grundlos, so zum Beispiel die berüchtigte Schlägermetropole Wiesbaden.7 Weitere Kommunen wollen folgen. Dabei wird gern übersehen, dass vernünftigerweise doch das ganze Land eine Waffenverbotszone sein sollte, sofern es sich zivilisiert nennen will. Nicht nur paranoide Reichsbürger, Munitionsabzweiger aus Elitetruppen oder zweifelhafte Sportschützen, niemand sollte in einem modernen Staat Waffen zu Hause lagern oder sie gar mit sich führen. Wozu auch? Europäische Stadtzentren sind kein Dschungel. Und das mit der Sicherheit sollte man doch besser ausgebildeten Schutzkräften und einem demokratisch legitimierten Gewaltmonopol überlassen. Messerfans (zum Beispiel im ziemlich clever geschriebenen knifeblog) sehen das natürlich ganz anders: Kontrollen seien „mit dem Rechtsstaat nicht kompatibel“.8 Doch wer will sich in einem Land wohl fühlen, in dem jeder Tötungsmittel mit sich führen kann und kaum jemand kontrolliert wird? Ein Second Amendment gibt es in Deutschland nicht.

Frau Weidel von der AfD sieht in ihrer sattsam bekannten Art solche Waffenträger, in einer vom souveränen Bundestagspräsidenten Schäuble eigens gerügten Bundestags-Tumultrede, vor allem dann als gefährlich, wenn sie als „alimentierte Messermänner“ daherkommen.9 Nun gibt es zwar auch den einen oder anderen pekuniär gestützten Deutschen, sogar mehr als genug, doch diese Menschen sollten sich von der Dame mit dem Schweizer Nebenwohnsitz ausdrücklich nicht angesprochen fühlen, denn das selektive Ausschlachten der Migrationsthematik bildet für ihre Partei von Beginn an ein geradezu überlebenswichtiges Fundament. Historische Entsprechungen aus allen Epochen liegen auf der Hand.

An Halit Yozgats ehemaligem Internet-Café rasen Rennwagen vorbei, die jedem hart arbeitenden Anwohner im Umkreis von ein paar hundert Metern rund um die Uhr die wohlverdiente Ruhe stehlen. In den mit der großen Treffsicherheit des Volkmundes als Dönercorvetten bezeichneten Großlimousinen mit wählbarem Auspuffklang sitzen gut trainierte Jungmänner, deren sonstiges Outfit mit Sicherheit nicht dem Marktwert der Karossen entspricht, zumal der Listenpreis oftmals dem einer mittleren Eigentumswohnung entspricht. Man hat familienmäßig zusammengelegt, und das Fahrzeug geleast. Was zählt, ist Darstellung: Der gut bezahlte Kampfradler simuliert eine Realität. Der einkommensschwache Poser aber realisiert die feinstaubgeschwängerte Simulation. Hier trifft Scham- auf Schuldkultur. All die hoch motorisierten Limousinen und Pick Up Trucks wirken in den Zeiten des Klimawandels als letzte ihrer Art und so absurd deplatziert wie all die röchelnden Raucher vor den Toren der städtischen Krankenhäuser. Zu Coronazeiten sind die Straßen leer, weshalb man die virologisch begründete Verlassenheit der Verkehrswege nun gern für illegale Rennen nutzt: Der Zuwachs des egomanen Prinzips wird an ebendieser Zeitstelle überdeutlich: Endlich sind die Straßen leer. Da kann man mal wieder richtig Gummi geben.10

Den zahlreichen Anwaltskanzleien, die sich auf Verkehrsfotos spezialisiert haben, gelingt es, die Bußgeldstellen mit dem Geschäftsmodell der Behauptung fehlerhafter Bescheide und durch andere Widerspruchseingaben gelegentlich nahezu lahm zu legen; der Bleifußminister Andreas Scheuer hat die vom Bundesrat nicht von ungefähr verschärften Bußgeldregeln nach langem Gezerre wieder abmildern lassen, damit gezeigt, auf wessen Seite er steht, und wer beim Radiohören genau aufpasst, bekommt die Blitzerwarnung noch öffentlich-rechtlich unterstützt ans Ohr geliefert. Da bremst man kurz ab, und gibt zweihundert Meter weiter hinten wieder richtig Gas – und trägt zum Frustrationszuwachs der Polizei bei. Soviel fürs erste zu denen, die ihr bewegtes Menschsein und den dazugehörigen Freiheitsbegriff über nicht mehr als unzivilisierte Mobilität definieren. Über sie soll weiter unten noch detaillierter berichtet werden.

Manche Bereiche innerstädtischen Lebens haben einiges an Sinn für Renaturierung, Kunst und noch ganz andere Formen der Umweltästhetik im Angebot. Zum Beispiel offenbart sich hier und dort sogar Interesse an klassischer Lyrik. Mit einem kurzen Bericht zu einer grotesken Entgleisung um diese literarische Gattung kommen wir nun zum ersten Mal zu unserem eigenen problematischen Umgang mit dem Phänomen Sprache, in diesem Abschnitt der deutschen, eine Praxis, die im vorliegenden Buch eine wichtige Rolle spielt, und die zum Glück nicht alle, aber eine ebenfalls lautstarke Minderheit zu einer absurden Posse eskalieren lassen hat. An einer Berliner Fachhochschule nämlich hatte man ein schönes altes Gedicht von Eugen Gomringer angebracht. Doch 2017 fiel Mitgliedern der Studierendenschaft plötzlich auf, dass die 1951 geschriebenen Zeilen (Gomringer hatte 2011 sogar einen Preis derselben Lehranstalt erhalten) mittlerweile als ein Teile der Gesellschaft herabsetzendes Machwerk zu verstehen seien, weshalb das Gedicht nach einigem Netz-Gezeter von den verhärmten und lärmigen Organen einer selbsternannten Fassaden-Sprachaufsicht wegzensiert wurde.11 Aufgeregtes Geschrei in den Studierendenausschüssen ersetzte den notwendigen, wissenschaftlichen Diskurs. Somit musste es nicht lange dauern, bis man den Autor dieser bescheidenen Zeilen als einen der ersten Kritiker in einem der Wutforen ganz schnell und nebenbei zum Antisemiten abgestempelt hatte, bloß weil die besagte Fachhochschule nach einer jüdischen Person benannt ist, eine kulturelle Zugehörigkeit, die im Rahmen der Debatte allerdings gar keinerlei Rolle spielte. Das Forum klang zwar ganz erheblich nach AfD, Pegida, oder sogar beidem davon, kam aber in gramgebeugter Selbstwahrnehmung vorgeblich von links. Ein Umstand, der mich mit der eigenen, liberalen (wenn auch universitären) Prägung mitunter fremdeln lässt. Diese Mechanismen, Widersprüche, Brüche und Schwierigkeiten linksliberaler Argumentation haben Charlotte Busch (2019), Sahra Wagenknecht (2021) und viele andere eindrucksvoll und plastisch geschildert.12 Sie führen bei nicht wenigen nach wie vor progressiv geprägter Zeitgenossen auch hier zu einem Gefühl des politischen Herausgefallenseins.

In der Tat steht es schlecht um die gepflegte Diskurstradition. Lehrkräfte13, Supermarktangestellte, gesellschaftlich Engagierte, Ärzte und Ärztinnen, Stewardessen, Zugreisende, Sicherheitskräfte berichten übereinstimmend vom mangelnden Respekt einer lauten, oft sogar auch noch physisch übergriffigen Minderheit, deren Handlungen verschiedenste gewaltaffine Formen annimmt, weltweit, nicht nur in Deutschland14. Wer sich abweichend zeigt, wird im Netz verbal flugs platt gemacht, schon für Laien offensichtlich krankhaftes Denken wird zum schalen Festmahl selbsterklärter Hüter eines eindimensionalen Rationalismus 14 auf der einen Seite, und zum Fundament gefährlich einfach strukturierter Esoterik16 auf der anderen.

Zuletzt sind beispielsweise die selbsternannten Vordenker der rabiaten „Querdenker“-Fraktion mit ihrem unterirdischen Bezug auf Sophie Scholl nicht einmal davor zurückgeschreckt, Grundschulkinder einzuschüchtern und Jugendliche in den zuvor gekaperten Lehranstalten daran zu hindern, schützende Masken zu tragen.17 An vielen Stellen ist nicht Covid die eigentliche Seuche, zumal diese uns immerhin die gesellschaftlichen Mängel vollkommen neu und wie unterm Mikroskop betrachten lässt. Die sekundäre, fast bedrohlichere Krankheit schlechthin ist viel mehr die uferlose Borniertheit des unbelehrbaren, zur Diskussion und stringentem Denken unfähigen Zeitgenossen.

Bei vielen stellt sich das befremdliche Gefühl ein, unversehens schon ganz weit im Draußen angelangt zu sein. Der Blonde mit den Dreadlocks könnte von heute auf morgen zum übergriffigen Kulturaneigner gebrandmarkt werden, nur noch kriminelle Schauspieler sollen Kriminelle spielen, lediglich Latinos über Latinos, Arme über Arme schreiben. Ein harmloser, reflektierter Weißer kann unbekannterweise schnell zum Deutschen mit Nazihintergrund degradiert werden, selbst wenn er dafür gar nicht alt genug ist, wie es zuletzt Jule Hoffmann im Sinne einer natürlich immer sinnvollen und besseren Aufarbeitung in der Zeit ein wenig missverständlich beschrieben hat.18 Denn die Etikettierung betrifft gerade jene nicht, die sich reflektiert mit der Kontinuität des Antisemitismus auseinandersetzen. Man kann nicht jedem das Label aufkleben, gerade nicht denen, die in ihren Familien jeden beliebigen Nazi-Onkel im Nachhinein dingfest gemacht haben, und sei es auch nur verbal. Ein gefährliches Ranking der Beleidigten und Erniedrigten wird im gemeinsamen Leben etabliert, in dem nur die Befürchtung des Negativen argwöhnisch vorgebracht, aber positive Zeichenübertragung gar nicht erst für möglich gehalten wird. Es ist, als könnte das verkleidete Kita-Kind die amerikanischen Ureinwohner nicht wertschätzen oder gar bewundern, aller Optimismus wird unmittelbar in die Bereiche des Unmöglichen verbannt, die Freiheit differenzierter Abwägung in vorauseilendem Schließen der Reihen hastig abgewürgt. Ja, es ist ein wahrhaft wahnsinnig anmutendes Gebaren, wohin man auch zu blicken wagt.

Wie kommen wir da heraus? Überzeugende, begeisternde, für wirkliche Veränderung stehende Parteien, die man ohne die Schmach des geringeren Übels noch wählen könnte, gibt es praktisch keine mehr. Für mein vielgestaltiges soziales Umfeld ist, wenn überhaupt, jeweils nur ein kleiner Teil ihrer politischen Positionen richtig vertreten, während die Schnittmenge zwischen Wahlvolk und Parteiprogrammen immer weiter zu schrumpfen scheint. Dort, wo wenig verdient wird, ist die Wahlbeteiligung verlässlich am geringsten. Die Demokratie wird zu einer Repräsentationsform der Wenigen.

Die an vielen Fronten verheizten Prügelknaben von der Polizei werden in der linken taz im Juni 2020 mit Abfall19 gleichgesetzt, weiße Kritik an einem Text zum Racial Profiling ist dort später leider unerwünscht, als hätte es niemals einen bösen Schwarzen gegeben. Die Linkspartei spult auf uninspirierten Pressekonferenzen bockige Polizeikritik ab, und ausgerechnet die nach dem medialen Gewitter vorsichtig abwägende weibliche Chefredaktion der Berliner Tageszeitung wird zur Fraktion der Ewiggestrigen gestempelt.

Im aufgesetzten Empörungsgeschrei der sich antielitär und nonkonformistisch gebenden AfD findet sich selbstverständlich auch nichts Überzeugendes. Eine Organisation, die ein Übermaß an Energie darauf verwendet, die eigenen Parteifreunde wegzubeißen, darf schon allein deshalb keine Verantwortung übernehmen, weil das hohe Potential an Ruppigkeit am notwendigen Gemeinsinn sehr stark zweifeln lässt. Das Haifischbecken SPD wirkt gegen die sich originär germanisch gebarende Grabenkampfarena der selbsternannten Werteträger wie eine brave Kindergartengruppe. Wichtige Dinge weit und klar durchdacht durchzusetzen trauen viele Zeitgenossen leider keiner der aktuell wählbaren Parteien zu. Man kann selbst mit einiger Anstrengung nicht einmal die Absicht erkennen, dass der nötige Wille aufgebracht werden soll, endlich einmal über die viel beschworene Mitte und die Interessen der als ureigenst imaginierten Klientel hinaus zu denken, und, gerade in der Pandemie, das Wort regieren wieder mit Leben zu füllen. Statt der Kandidaten diskutieren Söder und Habeck stellvertretend im TV.

Was ich selbst weiß, was wir, die lange vor der Jahrtausendwende geboren sind, zu wissen glauben, ist für viele offensichtlich nicht mehr relevant, die Zeit dreht sich zu schnell für den behäbig gewordenen, klassischen Bildungskanon. Mich beschleicht das Gefühl, auf den falschen Partys zu tanzen, dem Innovationsdruck nur noch hinterherzuhetzen, ohne dabei sicher feststellen zu können, was es noch lohnt, aufbewahrt zu werden. Bestenfalls milde belächelt, können manche von den Älteren von Zeiten berichten, zu denen einiges noch wesentlich besser lief. Oder bildet man sich das alles auf dem Hintergrund selektiver Wahrnehmung bloß ein? Wäre es denkbar, dass der Rückblick die eigene Sicht übermäßig verzerrt? Mir liegt daran, Erklärungen für die gegenwärtige Disfunktionalität zu finden und Gründe zu suchen, die uns bis an diese schwierige Position geführt haben. Letztlich stellt sich die Frage, was wir als demokratische, gesellschaftlich Engagierte und dem Progressivismus Verpflichtete heute überhaupt noch tun können, und auch unbedingt vermeiden sollten. Denn nur die progressive Sicht, so will ich meinen, dürfte die entscheidenden Antworten auf die Misere breiter, sozial und finanziell abgehängter Schichten noch bereithalten, sofern sie es wagt, Ballast abzuwerfen, und sich auf ihren Ursprung ausgleichender Gestaltung zurück zu besinnen. Die Geschichte zeigt, dass sich solche Bestrebungen lohnen können. Allein die Umfragen verdeutlichen, dass die politische Linke die Bevölkerung mittlerweile kaum noch anspricht.

Viele, mit denen ich alltäglich beruflich oder privat zu tun habe, beschleicht ein Konglomerat gemischter Gefühle. Es entspringt einer Kombination aus der Überforderung mit den rapiden Veränderungen im Hamsterrad der 7/24-Lebenswelt, der Angst vor einer immer unübersichtlicher werdenden Mixtur aus Virusvarianten und Klimakatastrophen, der allumfassenden Arbeitsverdichtung sowie der eigenen, trüben Stimmung aus resigniertem Unvermögen und dem Gefühl persönlicher Ohnmacht. Das Eingeständnis, mit der gesellschaftlichen Situation nicht mehr klar zu kommen, legen sich viele als individuelle Schwäche aus. Man glaubt, im multipolaren Druck der Jetztzeit nicht mehr bestehen zu können, liest zur Zerstreuung Kolumnen von Fleischhauer oder aus der NZZ und ertappt sich selbst dabei, wie man ihnen bisweilen verärgert zustimmt. In diesem Spannungsfeld der Selbstentfremdung entsteht das beschriebene Übermaß an Unwohlsein.

In den im Folgenden dargestellten Überlegungen sollen Fehlentwicklungen aufgezeigt und mögliche Denkstrategien skizziert werden, die dabei helfen können, unser soziales Leben zu verbessern. Den Fehler der Vergangenheitsapotheose werde ich hoffentlich nicht machen. Wir müssen vor allem darüber diskutieren, auf welche Art wir miteinander reden, und welcher Ausdrucksweise wir uns dabei bedienen. Ich werde die Frage stellen, worin noch weitere Gründe für das offensichtliche Scheitern der Jetztzeit liegen könnten, und erläutern, was politische Gruppierungen heute mitbringen müssen, um überhaupt noch Wirkung zeigen zu können.

Dabei sollte erstens klar werden, dass Religion oftmals nur wenig segensreich ist, und sich zweitens zeigen, ob die Rettung der Menschheit überhaupt noch lohnt. Das wäre dann ein ziemlich ketzerischer Ansatz. Denken wir darüber nach, warum es für viele so leicht geworden ist, abwegigen Lehren zu folgen, und was auch Rationalisten im notwendigen Kampf gegen die grassierende Vormacht des Instinktes über die Intelligenz gehörig falsch machen. Reden wir darüber, wie wir Bildung neu organisieren, mit Wissenschaftsfeindlichkeit umgehen, Ungleichheit bekämpfen, wie wir Emanzipation neu denken könnten.

Sprache, Haltung, Freiheit. Ein Zustandsbericht

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