Читать книгу Sprache, Haltung, Freiheit. Ein Zustandsbericht - Christof Sperl - Страница 8
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Wie geht’s dem Miteinander? Alltagssprache von Mister Mits bis außen rechts
Mein Viertel begrenzt eine Straße mit einem kleinen Toto-Lotto-Zeitungstabakladen, der vielerlei wirtschaftliche und soziale Funktionen erfüllt. Die Straße bildet die Nord-Süd-Grenzlinie zwischen einem gutsituierten und dem ärmeren Stadtteil. Kinder können ihre Lollis und Hubba-Bubbas anschreiben lassen, die Zalando-Kunden ihre fünfzigprozentige Rücksendequote erfüllen. Die Abzahlung der Kredite für die Kleinen erfolgt nach Aussagen der Besitzerin nicht immer zuverlässig. Da der Stadtteil arm an Geschäften ist, werden für die immobilen Alten Grundnahrungsmittel im Privatauto der Ladenbesitzerin herangekarrt. Die Kundschaft ist überwiegend angenehm und umgänglich. Bis vor kurzem durfte im Geschäft sogar noch geraucht werden, nun gibt es den Kaffee ohne Zigaretten. Die Qualität des Lektüreangebots reicht von sz bis „BLÖD“, eine treffliche Bezeichnung, die Jurek Becker und dem Liebling Kreuzberg an dieser Stelle eine unverzichtbare, letzte Ehre erweisen soll. Sofort zu Beginn der Corona-Krise haben sich Jugendliche aus dem Viertel dazu bereit erklärt, gekaufte Tante-Emma-Waren aus dem Laden kostenlos an die Alten auszuliefern. Das Logistikangebot haben die Jugendlichen mit großen Plakaten am Schaufenster öffentlich gemacht. Die engagierte Ladenbesitzerin ist immer bereit für einen intelligenten Plausch, und somit auch meine Informationsquelle für sprachliches Verhalten und sonstiges mitunter problematisches Benehmen, für das allgemeine Geschehen im Viertel und für die Befindlichkeiten der Kundschaft überhaupt. Oft kommt dabei die Klage über den alten Nazi, der regelmäßig, und immerhin in überschaubarem Deutsch, bei für ihn gegebenem Anlass ausgerechnet über die „Ausländer im Stadtteil“ herzieht. Warum ausgerechnet? Es ist ein polnischer Nazi. Das muss man wissen. Die sehr kluge Besitzerin berichtet:
„Vor ein paar Tagen kam eine ältere Dame an den Tresen und bemerkte zum Einkaufs-Plakat:
’So ein Käse. Das hätte ich nicht jetzt, sondern vor zwanzig Jahren gebraucht, als meine Mutter noch lebte. Der musste ich nämlich immer alles einkaufen.’ Da das Mehl epidemiebedingt auf eine Packung pro Person begrenzt ist, ein älterer Herr aber zehn davon erwerben wollte, kam die Bemerkung: ’Scheißdreckladen’. Erbost verließ er das Geschäft. Als das Lädchen wegen zweier Sterbefälle in der Familie an unterschiedlichen Vormittagen geschlossen werden musste, kommentierte ein Kunde meinen Infozettel mit den Worten: ’Könnense die nicht schnell an einem Tag beerdigen? Dann muss der Laden nicht ewig geschlossen bleiben.’ Und weil bei begrenztem Einlass immer nur ein Kunde im Geschäft sein darf, mussten einmal ein paar Jungs vor dem Geschäft auf den Zutritt warten. Ein ungeduldiger, maskenloser Senior drängte sich, wohlgemerkt in Zeiten der Abstandsregel, mit den Worten ’Weg da, ihr Schnösel. Ich habe im zweiten Weltkrieg gekämpft!’ an die Theke vor. Und da die Kunden sich partout nicht an die zentralen Coronaregeln nur eine Person im Verkaufsraum und in die Armkehle niesen halten wollten, sogar aus nächster Nähe ihre Aerosolwolken mit der Bemerkung ’ich bin gesund’ in Richtung Kasse sprühten, mussten teure Plexiglasscheiben über der Theke angebracht, und die stundenweise Anstellung von Security diskutiert werden. Einer kommt täglich ohne Maske. Spreche ich ihr darauf an, bemerkt er: ‚Wenn Sie nichts verkaufen wollen, machen Sie den Laden doch dicht.’ Ich sage Ihnen, wären nicht die wenigen netten Leute hier, die den Laden wirklich brauchen, ich hätte schon längst geschlossen. Ich bin fertig. Ich öffne nur noch von 8-13 Uhr. Mehr an Aggression ertrage ich nicht.“
Die laute, fordernde Minderheit der Problemkunden kommt aus beiden Stadtteilen. Die einen sind erbittert, dass sie arm, alt, allein und krank, die anderen gereizt, weil sie alt, allein und gebrechlich sind. Was hat das nun aber alles mit der Sprache an sich zu tun? Nach dem Wissenschaftsklassiker de Saussure ist sie eine „soziale Einrichtung“ 1, ein Vertrag, den Sprecher einer Sprachgemeinschaft miteinander geschlossen haben, um sich zu verständigen. Dabei sind Vereinbarungen getroffen, welche Dinge und Sachverhalte mit entsprechenden Wörtern bezeichnet werden. Die Soziolinguistik beschreibt die Verwendung von Sprache in unterschiedlichen Schichten und die unterschiedlichen sozialen Beziehungen zwischen den Gesprächsteilnehmern. Die Sprechakttheorie nach Austin (1911-1960) rückt die Funktionen der Sprache, das Wozu, in den Mittelpunkt. Direktive Sprachäußerungen sind in der komplexen Typologie J. R. Searles beispielsweise solche, die befehlende, bittende oder herausfordernde Grundlage haben.2 Sprachliche Handlungen sind in Kontexte eingebettet, die im Idealfall Konventionen und Regeln der Höflichkeit folgen sollten,2 die individuelle Sprachverwendung kann Aussagen über physische und psychische Identität ermöglichen.3 Diese mehr als nur umrisshafte Grundbemerkung über die Funktionen soll der weiteren Darstellung als Orientierung dienen, was beim Sprechen auch alles nicht gelingen kann. Und das ist ziemlich viel.
Den Sprechern in den oben geschilderten Beispielen sind, abgesehen von der sprachlichen Funktion und Absicht des fortgesetzten Angriffs mit verbaler Aggression, ganz entscheidende, Gemeinschaft stiftende Elemente abhanden gekommen: Die menschliche Komponente des klugen und reibungsarmen Miteinander, und die historisch gewachsene Sprachfunktion als soziales Schmiermittel und Entwicklungswerkzeug des Erfolgsmodells homo sapiens. Kommunikation greift hier aber niemals ineinander. Sie wirkt (frei nach William S. Burroughs) als Virus, und ufert aus in die Gefilde der Unverschämtheit. Sie verhakt in der individuellen Verteidigung egozentrischer Interessenlagen. Wie am historischen Tribok des Mittelalters wird verbales Beleidigungsmaterial als bedeutungsarmes Gebell über die Wehrmauern verschossen, dem im besten Falle mit der Methode gar nicht erst ignorieren beigekommen werden kann. Eine Antwort wird, wenn überhaupt, bloß noch in der Form des Gegenangriffs erwartet. Hier gilt es, das eigene Schweigen durchzuhalten.
Generell gesprochen kommt mir die momentane, auch nonverbale Verfasstheit der Gesellschaft wie die Manifestation kontinuierlicher Empörung (siehe auch Kapitel 12) vor, in der Sloterdijks Erregungsgemeinschaft freudig grüßen lässt. Dabei gilt auch für das systemrelevante deutsche Mobilitätsverhalten nach wie vor das Gebot, nach dem je dicker die Karre, desto mieser die alltagsbestimmende Laune sein muss. Die gute alte Freude am Fahren4 scheint da kaum noch aufzukommen. Es bleibt somit die Frage, ob Premium auch die Glücksgefühle bis in den siebten Himmel bringt. Ich glaube eher nicht.
Die Corona-Krise hat Deutsche, US-Amerikaner, Franzosen5 und viele andere nun auch noch mit dem völlig neuen Phänomen der Klopapierschlägereien bekannt gemacht, die zu Beginn der Pandemie regelmäßig zu physisch-seelischen Entgleisungen im Discounter führten. Mittlerweile befasst sich schon die Psychologie mit diesem apokalyptischen Phänomen.6 Man darf hier dem Kämpfern und Kämpferinnen zugutehalten, dass die Singularität der Ausnahmesituation die entsprechende Nervosität offenbar ins Unermessliche zu steigern vermag. Eine Epidemie trifft uns in einer gesellschaftlichen Situation, in der schon lange Jahre vorher die Nerven blank lagen: Ärztinnen und Ärzte berichten seit langem von respektlosen Patienten, die mit medizinischen Kinkerlitzchen (Seife im Auge) und ergoogelten Selbstdiagnosen die Notaufnahmen blockieren, das Außenministerium von Urlaubern, die zu Beginn der Pandemie lautstark staatlich organisierte, kostenfreie Rückholungsflüge fordern, Lehrkräfte von bedrohlichen Eltern und respektlosen Schülern. Zeitungen schreiben von Bahnmitarbeitern, die bei Fahrscheinkontrollen angepöbelt, Rettungssanitäter die mit Steinen beworfen, Migranten die grundlos attackiert, sowie last but not least Polizisten die mit dem Ausruf „ich hab Corona“ bespuckt werden. In langen zivilisatorischen Entwicklungsprozessen erstrittene Regelhaftigkeiten des Common Sense sind vielen komplett überflüssig geworden, deren Missachtung nun mit halbherzigen Gesetzesnovellen eingedämmt werden soll, für deren Durchsetzung das Personal die längste Zeit noch weggespart wurde. Da ist in den neoliberal verschlankten Staaten ganz allgemein etwas in Rutschen geraten, nicht nur bei uns in Deutschland.
Schlechte Bezahlung, problematische Lebensumstände, zerfallende oder disfunktionale Familienstrukturen sind einige der Gründe, die ursächlich zum Unwohlsein beitragen. Aus Frankreich berichten Ingrid Levavasseur vom Krieg innerhalb und im Umfeld der sich selbst untereinander wegbeißenden Gelbwestenfraktionen,7 Édouard Louis von Konflikten in prekären Familien8 und dem Überlebenskampf der Väter,9 Virginie Despentes vom Überwasserhalten mit Bullshit-Jobs im Sexgewerbe.10 Ich möchte behaupten, in Frankreich sei eine ganz neue Literatur des Prekariats entstanden. Vielen geht es dort nicht gut, wer soll es auch richten? Die Sozialistische Partei ist mit dem Totengräber Hollande fast in der Versenkung verschwunden. Marine Le Pen aber bindet die übrig gebliebenen Wählerschichten und wird im nächsten Jahr zu einer ernsthaften Bedrohung für Macron. Von der proletarischen Solidarität, der gesellschaftlichen Vision, vom Willen zum Aufstieg durch Bildung, Haltungen und Möglichkeiten, über die meine hart arbeitenden, streng und dezidiert antiklerikalen SPD-Großväter so gern berichteten, davon ist nicht mehr übrig geblieben. All das aufgestaute Ungehaltene bricht sich nun Bahn, physisch wie verbal. Wer unten ist, will nach oben, ohne sich dabei mit Bildungsanstrengung zu belasten, wer oben ist, kann es sich leisten, das System an sich in Frage zu stellen, das das eigene Emporkommen doch erst ermöglicht hat.
Da gibt es die sprachlich gewandten Brandstifter, die für die Entwicklung der immer dumpferen Alltagssprache des Mister Mits (ein Akronym zu Man In The Streets) stehen. Nach und nach hat man die Grenzen des Sagbaren ins Unsägliche verschoben. Ein Teil der öffentlichen Figuren nutzt die so genannten und verachteten Systemmedien gern, um bedeutungsschwanger klingende, dabei aber auf den zweiten Blick als gefährlich enthemmt verstehbare Texte zu verbreiten, die auch so gemeint sind, wie sie verstanden werden sollen. die verklausulierte Struktur bildet im Fall des Falles juristisch verwertbare Hintertreppchen. Beeindruckend klingende Metaphern staatlicher Körperlichkeit, stahlblaue, kriegerische Bilder, Geraune von der Homöostase des Volkskörpers und der Rückeroberung eines von Kartell-Parteien geplagten Staates, Narrative vom Kulturkampf prägen einen hohlen und opferseligen Umvolkungsdiskurs, der nicht einmal vor antisemitischen Klischees, dem altachtundsechzigerhaft klingenden Mief und Muff und dem obsoletstalinistischen Kosmopolitentum in der gegenwärtigen Form des Globulismus zurückschreckt. Da wird der Gegner auf innere Befehle hin abgeräumt, soll das Nationale und Soziale wieder zusammengebracht werden, damit das Volk (Achtung, hier droht die Religion!) wieder auferstehen kann.11 Das als faschistoid oder entgrenzt zu bezeichnen kommt mit Sicherheit einer kompletten Verharmlosung gleich. Die Debatte um den Flügel zeigt schmerzlich auf, dass die intellektuelle Latte für das gymnasiale Lehramt in Deutschland ganz offensichtlich viel zu niedrig liegt. National bewegte Netzwerker mit erheblicher Rechtschreibschwäche tun es den Reden schwingenden Vorbildern nach, und nutzen ihr Gerät, so gut es eben geht, ohne Korrekturfunktion zu schriftlich fixiertem Gegröle.
Gibt es irgendeinen Ansatz zur Verbesserung der aktuellen Bedingungen, muss er beim Bewusstsein für konstruktive Sprache beginnen. Wir müssen lernen, wie wir wertschätzend und sinnvoll miteinander demokratisch reden können. Dabei ist es vor allem an den verlässlich unterfinanzierten Geisteswissenschaften, den momentanen Vorrang des rein Technischen auszubalancieren. Weder werden uns die auf YouTube dokumentierten Brüllduelle eines Jordan R. Peterson oder rein politisch ausgerichtete Streitgespräche bei Will, Plasberg oder Illner weiterbringen. Der Diskurs muss sich unter Beteiligung namhafter Sprachwissenschaftler unter Ausschluss volkslinguistischer Beiträge sprachwissenschaftlicher Kritik stellen. Hohle Politikerphrasen müssen benannt, grobe Verletzungen menschlicher Konventionen geächtet, Beleidigungen nicht wie jüngst bei Frau Künast geschehen gerichtsfest legalisiert, sondern sanktioniert werden. Dazu braucht es eine breite Debatte zur Meinungsfreiheit, wie sie in den folgenden Abschnitten noch diskutiert wird. Kübra Gümüşay12 hat sich in diesem Zusammenhang um eine detaillierte und aufgeräumte, wenn auch in Teilbereichen als überkorrekt angreifbare Sicht der Dinge verdient gemacht.
Diese Debatte soll jeder ungestraft führen können. Sprach- und Sprechverbote im Sinne einer identitären thematischen Verengung wie in der intellektuell mangelhaften Diskussion um Jeanine Cummings American Dirt oder das Absetzen des weißen Simpsons-Synchronsprechers Hank Azaria zeigen auf, dass ein unvoreingenommenes Wertschätzen der Beiträge hellhäutiger Menschen und ihrer künstlerischen Arbeit von vornherein ausgeschlossen werden, und im jeden Fall durch einen eigens anberaumten Schibboleth-Test schnellstmöglich Schuldige gefunden werden soll. Im ersten Falle mag man sich nicht die Möglichkeit vorstellen, dass eine kluge weiße Frau ungestraft über Latinos schreiben darf, im zweiten schlägt man gleich zweimal mit der Fliegenklappe zu: Die indischstämmige Simpsons-Figur Apu habe einerseits einen zu starken indischen Akzent (als ob es keine Einwanderer mit deutlicher Sprachfärbung oder schwedisch akzentuierte IKEA-Werbung gäbe), andererseits dürfe ein weißer Sprecher keinen dunkelhäutige Figur synchronisieren. Die intellektuelle Rechtschaffenheit von Cummings und Azaria wird gar nicht erst für denkbar gehalten. Ebenso verhält es sich bei der Diskussion um Übersetzungen des mittlerweile zu Ruhm gelangten Inaugurations-Gedichtes der US-Amerikanischen Autorin Amanda Gorman. Der Katalane Victor Obiols habe nicht das richtige Profil (Frau, Aktivistin), ebensowenig entspreche die nicht-binäre Autorin und Booker-Preisträgerin Marieke Lucas Rijneveld als niederländische Übersetzerin (weiß, jung, weiblich) den Vorgaben der selbsternannten Vertreter der eindeutig bedrohlichen Tilgungskultur. Nicht allein der Mechanismus wirkt dabei bedrohlich. Es ist die schier beängstigende Zahl der Beispiele, die es mir als Autor schon schwer macht, eine überschaubare Menge geeigneter Belege auszuwählen.
Eines meiner Lieblings-Alben vom legendären Münchner Trikont-Label ist die Kompilation Beyond Addis, auf der vornehmlich weiße Musiker äthiopischen Groove-Jazz nachspielen. Folgt man der hypergeneralisierenden Theorie der kulturellen Aneignung, dürfte eine solche Produktion gar nicht mehr vertrieben werden. Denn ihr zufolge wäre der weiße Zugriff auf primär schwarze Musik ein Sakrileg. Ein Bann, der auch den Northern Soul sowie die klassische Average White Band mit ihrer schwarzen Musik, Stevie Ray Vaughan oder sogar das American Yodeling im Nachhinein treffen könnte. Ich selbst müsste als Hobbymusiker meine bescheidenen Hendrix-Interpretationen einstellen – und die Gitarre brav an den Haken hängen, ebenso wäre das Album Ho! Roady Music from Vietnam bei mir zu Hause ad acta zu legen, da sich darauf allerlei vietnamesische Straßenmusiker mehr oder weniger gelungen an westlichem Standards abarbeiten. Als ich begann, mich näher mit der volkslinguistischen Debatte auseinanderzusetzen, wurde mir klar, wie eine Art Diskurswächterhaltung um sich zu greifen beginnt. Wie weit wollen wir gehen? Klar ist, das Konzept der Aneignung darf nur von oben nach unten gedacht werden. Wir wissen um die Verbrechen des Rassismus. Insofern wären meine Bemerkungen falsch. Doch darf das bloß Identitäre nicht das gesellschaftliche Problem an sich verdrängen.
Zurück nach Deutschland. Die Berliner U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte soll aus Gründen vermuteten Rassismus umbenannt werden, wobei der Name Onkel Tom auf eine historische Waldwirtschaft zurückgeht, und der im Englischen gebräuchliche, erniedrigende Terminus den meisten Deutschen völlig unbekannt sein dürfte. Und letztlich war Beecher-Stowes Roman eine fulminante Anklage der Sklaverei, der Protagonist ein Kämpfer für Gerechtigkeit. Da stellt sich die dringende Frage, wann die Kapitänin Carola Rackete wegen ihrer Dreadlocks als kulturelle Aneignerin abgestempelt, oder die Texte des Mark Twain über die Flucht des Sklaven Joe und seines weißen Freundes Huckleberry Finn auf den Debattenindex gesetzt werden sollen. Wie man erfährt, steht auch Jim Knopf fast schon auf der Abschussliste, und eine Ulmer Kirchengemeinde hat gleich alle drei heiligen Könige aus dem Gotteshaus verbannt. Die Sauerländische Gemeine Oberneger gerät wegen ihres durch keine Etymologie der Welt herzuleitenden Rassismusverdacht, und in die hitzig geführte Diskussion schalten sich auch der bloggende Konstruktionsgrammatiker und Linguistikprofessor Anatol Stefanowitsch ein: „Das N-Wort ist extrem herabwürdigend, es ist in der deutschen Sprache eines der als am schlimmsten diskriminierend empfundenen Worte überhaupt.“ Man könne den Ortsbewohnern nicht vorwerfen, dass sie in dem Ort leben. „Aber man kann ihnen einen Perspektivwechsel abverlangen.“ (welt.de 30.12. 2020). Das ist sehr richtig. Vor allem, wenn die Idee von einem bekannten Sprachwissenschaftler kommt, der sich eingehend mit dem Thema korrekter Sprache befasst hat. Doch auf die einfache Idee, den Ort in einer Volte beispielsweise in Obern-Eger umzuwandeln, kommt außer mir wohl niemand. In der Tat ist der auf ein Flüsschen zurückgehende Ortsname Oberneger ein sprachlichsemantischer Zu- und Unfall, ein Umstand, wie er durch die Willkürlichkeit der Zeichen in allen Sprachen der Welt vorkommen kann. Ja, es gibt Wörter mit völlig gegenteiliger Bedeutung, wie es im Falle des Verbs sanktionieren der Fall ist. Weder der Name selbst noch seine Bewohner können etwas für die Bezeichnung. Eine Umbenennung käme der Bitte gleich, der ehemalige Gouverneur von Kalifornien und schauspielende österreichische Bodybuilder möge schnell mal seinen Familiennamen ändern. Obwohl die Ausformung der Zeichen in den meisten Fällen also zufällig ist, wir uns dessen aber nicht bewusst sind, messen wir den Wörtern starke Gefühle bei. Und Wörter lösen natürlich solche Gefühle aus. Deshalb wird erklärlich, warum ein bekannter japanischer Autobauer einem auch für den spanischen Markt bestimmten SUV-Modell (Pajero) einen neuen Namen geben musste. Das emotionale Produkt Auto brauchte ein völlig neues Branding. Wer wissen will warum, googelt einfach mal.
Völlig anders aber verhält es sich mit den US-amerikanischen Ortsbezeichnungen Negro-Creek, deren eindeutig als rassistisch einzuordnender Name aus den immer noch fortwirkenden üblen Zeiten der Sklaverei stammt. Alle Beispiele für die hoch emotional geführten Debatten um die Redepraxis zeigen auf: Ein unbekümmerter Umgang mit dem Medium Sprache wird nicht nur aus psychologischen Gründen auf allen Seiten schwieriger. Deshalb müssen wir mehr über unsere Sprache lernen. Der Autor Karl Bruckmeier hat seine Bauchschmerzen bei der Neuübersetzung von Nancy Cunards Anthologie Negro geschildert: „Die Zukunft unserer Sprache liegt in einem ideologisch einwandfreien Gutsprech mit * mittendrin, das Dubioses, Uneindeutiges, und auch Abstoßendes nicht länger kennen will. Kein Neger Erwin, nirgends, denn Ideologie essen Seele auf.“ 13
Doch bei aller Sprachkritik und dem vielleicht vorschnellen Abkanzeln emanzipatorischer Bestrebungen sollten wir ganz genau aufpassen. Kognitionswissenschaft, Linguistik und Wahrnehmungspsychologie zeigen eindrücklich, wie bei der Nennung der Berufsbezeichnung Ärzte alle weiblichen Bedeutungsaspekte auf die dunkle Seite der bewussten Wahrnehmung rücken, während männliche Elemente darin umso heller aufleuchten. Grund genug also, auch die Ärztin zu nennen. Dennoch dürfen wir uns auch in diesem Zusammenhang Bestrebungen nach sprachlicher Effizienz nicht vernachlässigen. Ein Überfrachten der Sprache mit Myriaden von als unerlässlich wahrgenommenen Bedeutungsträgern spielt nur denen in die Kasse, die die Linke als solche lächerlich machen und diskreditieren wollen. Deutsch funktioniert strukturell eben nicht wie das Thailändische, das rund fünfzig Personalpronomen kennt, soziale Beziehungen mit höchster Auflösung abbildet, aber die streng traditionalistische Gesellschaft dennoch nicht grundlegend zu transformieren in der Lage ist. Blenden wir eine solche Transformationsidee aus, würde auch der Vergleich mit westlichen Gesellschaften kein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit zeigen. Der Respekt ist da, doch die Befindlichkeiten und Strukturen bessern sich nicht. Ganz im Gegenteil scheint das hochkomplexe System die Gegebenheiten nicht zu lockern, sondern erst recht zu zementieren. Im Übrigen ist auch anzumerken, dass Sprache eben auch nicht alles sagen kann, jeder kennt die Kategorie des Unbeschreiblichen im Betrachten von Naturphänomenen, beim Hören von Musik. Die polarisierende Schriftstellerin und Kabarettistin Lisa Eckhart hat in diesem Zusammenhang einen sehr klugen Gedanken formuliert: Durch die Abschaffung der immer mehr um sich greifenden Praxis des immer weiter verbreiteten Duzens könnte durch eine entsprechende Neuauflage des bewährten Siezens wesentlich mehr an Respekt für die Mitmenschen als durch ein omnipräsentes Gendern geschaffen werden. Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken.
Im Sinne der gesellschaftsphilosophischen Argumentation des einstigen Trump-Vordenkers Steve Bannon bedeutet die in Teilen hoch aggressive, der Rechten dafür umso mehr willkommene Debatte: Redet nur weiter. Danke für die Steilvorlagen. Weder ein Bücherindex, noch der Austausch von Filmsprechern wird die Situation von Migranten irgendwo auf der Welt verbessern. Schriftsteller: innen wie Atwood, Kehlmann und Rawling haben gemeinsam mit anderen Intellektuellen auf die manipulative und giftige Beeinflussung fälliger Debatten mit einer Kritik reagiert, die Versuche der Einflussnahme mit den Sprachregelungen von Diktaturen vergleicht.14 Sprache ist Mittel für Kooperation und Streit, darf aber nicht zum Labyrinth der Befindlichkeiten werden, in dem sich fortwährend neue, sprachliche Zwickmühlen und Fallstricksysteme auftun. Aus der sittsamen Auseinandersetzung entstehen Lösungen. Doch hat es den Anschein, so mancher Blasendenker bekäme Angst vor Ergebnissen, die seiner eigenen Sicht nicht vollkommen entsprächen. Da darf man sich nicht wundern, wenn sich die extreme Rechte über eine gefühlte Meinungsdiktatur empört, die genau dann Wirklichkeit werden könnte, wenn wir nicht genauestens auf Funktion und Ästhetik unsere Rede achten. Unsere Erstsprache darf nicht zu einem kommunikativen System umgebaut werden, dessen Beherrschung so viel an Unsicherheit und Unwägbarkeiten erzeugt, dass es dem vorsichtigen und bedachten Gebrauch einer noch großteils unbekannten Fremdsprache gleichkommt. So einengend sollte uns die Muttersprache weiß Gott nicht werden. Vor einiger Zeit saß ich mit Freunden bei einem unserer regelmäßigen Debattiertreffs am Küchentisch. Wir diskutierten aktuelle Bezeichnungen des Deutschen wie Vokabular einer Fremdsprache. Wir stritten darüber, wer cis-sexuell, eine Trans-Person, Cis-Hete, queer, schwarz, PoC, binär und nicht-binär wäre, und in welche Kategorie Kombinationen unterschiedlicher Zuschreibungen dieser Auswahl, unter welche wir selbst fallen würden (die Schreibweise habe ich aus ästhetischen Gründen an die noch gängige deutsche Rechtschreibung angepasst). Wir konnten uns kaum einigen. So schwer fällt uns bereits die Muttersprache. Ein Anlass nachzudenken, bis wohin wir an dieser Stelle gehen wollen.
In einem weiteren Exkurs betreten wir zum Kontrast das Großraumbüro einer französischen Assistance-Gesellschaft, deren multilinguales Team in landestypisch strenger Hierarchie rund um die Uhr hunderte internationale Schadenfälle gleichzeitig unter Hochdruck abwickelt. Ich selbst habe lange Zeit in solchen Unternehmen gearbeitet, die schon lange vor dem Siegeszug des Internets originär von Frankreich ausgehend rund um die Uhr und dabei global agierten. Es geht um Übersetzungen von Gutachten, Krankentransporte, Ambulanzflüge, medizinische Abklärungen, Krankenrückholungen, rechtlichen Beistand und schnelle Geldanweisungen. Um eine verlustarme und reibungslose Kommunikation zu ermöglichen, ist die – in diesem Beispiel französische – Fachsprache standardisiert, aber auch hochgradig effizient ausgerichtet. Wer Sachverhalte in Buchstabencodes und griffigen Kofferwörtern ausdrücken kann, arbeitet schneller und unmissverständlicher. Neulingen wird die Kürzelsprache in einer speziellen Schulung antrainiert. Das Unternehmen könnte ohne den Kommunikationscode nur wesentlich schwerfälliger agieren. In Krankenhäusern und Flughafentowers finden sich vergleichbare Sprachanwendungen. Unser Alltagsleben ist zwar kein Notfalleinsatz, dennoch sind wir auch dort unbedingt auf die Ökonomie der Sprache angewiesen.
Wenn gefordert wird, statt von Frauen über Menschen, die menstruieren gesprochen werden muss, um nicht diejenigen zu diskreditieren, die zwar eine Monatsblutung haben, sich aber nicht als Frauen im eigentlichen Sinne sehen, und man die Rücksichtnahme auf alle in der Zukunft noch denkbaren individuellen Sichtweisen ausweitete, stehen wir bald vor zwei Dilemmata (die moderne Sage vom Kind mit Penis war wohl nur ein ziemlich flacher, aber dadurch nicht ungefährlicher Witz).15 Zuerst einmal wird die deutliche Verbalisierung jedes gefühlten oder biologisch beschreibbaren geschlechtlichen Zustandes zu einer sprachlichen Überfrachtung führen, die in ihrer unhandlichen und technischen Form derjenigen gesetzlicher Texte entsprechen könnte, zum anderen aber würde eine solch gestelzte Redeweise das sprachliche Ökonomieprinzip verletzen, das uns zu reibungsloser Kommunikation befähigt. Verletzen wir dieses grundlegende Prinzip, wird sprachlicher Austausch behindert, wenn nicht unterbunden. Der Duden wird zu einer Sammlung von Beipackzetteln und Nebenwirkungslisten. Die Auffassung, nach der eine manipulierte Sprache Diktatur schafft, steht an dieser Stelle gegen die neue und noch unbelegte Idee, nach der eine neue Sprache die vermeintliche Diktatur im Gegenzug zerstört. Den Soldaten in Afghanistan sollte es egal sein, ob sie an einem Krieg oder einer bewaffneten Auseinandersetzung teilnehmen. Die Lebensgefahr bleibt dennoch bestehen.
Oft sind gerade diejenigen an der Diskussion beteiligt, welche sich mit sprachwissenschaftlichen Gegebenheiten kaum auskennen. Ich möchte sie, analog zur Medizin, Heilpraktiker der Linguistik nennen. Wenn davon die Rede ist, dass die Vollstrecker des Naziregimes eine riesige Zahl von Sinti und Roma im Porajmos genannten Genozid ermordet haben, und sie das negativ konnotierte Wort Zigeuner in gezielt herabwürdigender Weise gebrauchten (Wahrig16 definiert das Wort als Bezeichnung für ein Wandervolk), heißt das im Umkehrschluss nicht, dass das Wort-Zeichen an sich eine irgendwie geartete Schuld träfe. Das Wort ist in seinem Gebrauch auch die Art, wie wir es verwenden. Wörter mögen uns beeinflussen, doch auch wir verändern die Wörter selbst durch unseren Gebrauch. Wer auch immer die Bezeichnung nicht als neutralen Terminus für eine Gruppe von Menschen verstehen möchte, soll dies nicht tun müssen. Es wird allerdings auch kaum etwas nützen, das Wort im Glauben daran, irgendetwas zu verbessern, auf die Bad Bank einer sprachlichen Quarantäneliste zu setzen, und die Herabwürdigung der Sinti und Roma als leichtfertig und mit der stolzen Überlegenheit des Halbgebildeten dann auch noch als Antiziganismus zu bezeichnen. Denn genau dieses letztgenannte Wort ergibt sich, hier lohnt sich die europäische Sicht sprachlicher Zusammenhänge, nach dem Duden der Franzosen Petit Robert17 aus dem byzantinischen Atsinganos („wer nicht berührt“), ein unschuldiges Wort, das eine Sekte aus Phrygien bezeichnete, es steht sprachhistorisch in direktem Zusammenhang zu Gitanes15, Tzigeuner, Czygany und Cigain. Der ziehende Gauner aus der naiven Küche der Volkslinguistik wäre damit also draußen, der Zigeuner selbst aber wieder drin. Womit wir wieder zum Anfang gelangen. Und bei Serge Gainsbourgs und Bowies Lieblingszigaretten Gitanes18, über deren Namen und klischeehaftes Design sich bis in die Neunziger kaum jemand zu echauffieren wusste, die allenfalls eine harmlose Traumvorlage für freies Leben waren.
Ähnliche Zusammenhänge gelten für den Mohren, zu maurus, den Mauren oder Westafrikanern. Denjenigen also, die die spanische Sprache und Architektur mit arabischen Einflüssen entscheidend mitgeprägt haben; ein vormals neutraler Begriff des schwarzen Menschen, der heutzutage als von Teilen der weiter oben genannten Erregungsgemeinschaft als erniedrigend gesehen wird. So falsch es in den meisten Fällen ist, bei der Debatte über Sprache die historische, diachrone Dimension mit einzubeziehen – hier ist der Schritt gerechtfertigt. Der US-amerikanischen Gebrauchstransformation von cock zu rooster unterliegen allerdings andere Gesetze nicht nur gefühlter, sondern konkret nachweisbarer Bedeutungsverschiebung.
Am Kasseler Bebelplatz wurde neulich der der vom Inhaber falsch geschriebene Schriftzug der Mohren-Apotheke überklebt, und in vielleicht unbeabsichtigter Komik zur Ohren-Apotheke umbenannt (im Originalnamen fehlt der obligatorische Bindestrich – auch Apotheker beherrschen die Rechtschreibung offensichtlich nicht mehr). Doch eine Mohren-Apotheke ist, soviel zur semantisch ausgerichteten Nuancierung, auch längst noch keine N-Wort-Pharmazie. In diesem Sinne schlage ich einmal mehr vor, die berühmte Kirche im Dorf zu lassen, und dabei die Frage zu stellen, ob zu solcher Posse ausgerechnet der Staatsschutz ermitteln 19 muss. In einer westdeutschen Stadt wurde eine der Mohren-Apotheken jüngst unter ausgerechnet dem Namen eines Politikers umgetauft, der trotz großer Verdienste um den Wiederaufbau Europas ehemalige, wichtige Parteigänger der NSDAP in höchste staatspolitische Ämter gebracht hat. So kommt man vom Regen in die Traufe. In diesem Zusammenhang muss auch gefragt werden, aus welchen Gründen die alte Apotheke überhaupt ihren Namen bekam. Dies könnte einerseits mit den heiligen drei Königen, oder aber mit der Herkunft der klassischen Heilkunst zusammenhängen, die ihren Ursprung im afrikanisch-arabischen Raum hat. Es sei zur abschließenden Abrundung der Überlegungen vielleicht noch angebracht zu bemerken, dass der afrikanischstämmige Koch Andrew E. Onuegbu in Kiel ein Restaurant betreibt, das den Namen Zum Mohrenkopf trägt. Onuegbu, ein Mann also, der sich seine Freiheiten einfach nimmt.
Caroline Fourest (2020) hat eindrücklich beschrieben, wie sich der Diskurs in den vergangenen Jahren auch zur Debatte nicht nur einer abgrenzungswütigen und biologistischen Rechten, sondern auch zu der einer gauche identitaire, einer „identitären Linken“ (Übersetzung des Verfassers) verschoben hat, in der es primär gar nicht mehr um das Wie und Was der Sprache an sich geht. Wissenschaftliches denken ist hier offensichtlich unerwünscht. Die Frage, von wem was gesagt und welches Bild produziert wird drängt sich offensiv in den Vordergrund. Nicht nur anhand zahlreicher Beispiele aus dem Bereich der „kulturellen Aneignung“ (Japanische Kindergeburtstage, Madonna und der schwarze Jesus, der weiße Sänger Johnny Clegg und der ANC, der Hijab-Tag an der Uni Sciences Po, die Polemik um den Brand von Notre-Dame de Paris, die das „Geheul“ dummer kleiner Weißer verhöhnt, die Verbannung von asiatischen Speisen aus US-Uni-Mensen) zeigt Fourest den Zerfall der einstigen Wir-Gesellschaft in ein sich bekriegendes Fraktionskonglomerat – inklusive einer von ihr diagnostizierten Ideologie des neuen und bisher offenbar noch auf Frankreich begrenzten „islamogauchisme“ Rechte und linke Identitätspolitik treiben offensichtlich unisono ihre Keile ins Bestehende. 20 Fourest unterscheidet klug zwischen der traditionellen „Charlie-Linken“ und eben jener Variante identitärer Ausformung (alle Übersetzungen von mir).
Gerecht gemeinte, in der sprachlichen Realisierung aber schräg klingende Vermeidungskonstruktionen, wie der vom Germanisten Thomas Kronschläger in Anlehnung an den humorigen Künstler Hermes Phettberg vorgeschlagene y-Suffix (mitsamt dem neutralen Artikel) würden Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen in Bezeichnungen wie das Arzty, das Rauchy, die Rauchys oder das Kritiky der Lächerlichkeit preisgeben. Wenn sich Studierx und Professx nicht etabliert haben, wird es auch Kronschläger nicht gelingen, das Einbrechy durchzusetzen.21 Offensichtlich fehlt es der neuen Generation von Linguisten äußerst schwer, ein angemessenen Sprachgefühl zu entwickeln. Ein Umstand, der schon an sich überaus nachdenklich stimmen muss. Den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft wird ein Eiertanz abverlangt, der direkt in die „Tretmühle der Euphemismen“ (Steven Pinker) führt, einer sprachwissenschaftlichen Hypothese, nach der das ersetzende, „bessere“ Wort alsbald von einer neuen, abwertenden Konnotation besetzt wird (vgl. das neue Schimpfadjektiv behindert)22 Die zum Zeitpunkt der Ausfertigung dieser Zeilen aktuellste Blüte der Volkslinguistik ist die um den Bann des altmodischen Wortes schwarzfahren, das ursprünglich auf das Jiddische shvartz (arm) zurückzuführen ist, und durch die Berliner und Münchener Verkehrsbetriebe nicht mehr gebraucht wird, obgleich die offizielle Verwendung durch die Verkehrsbetriebe an keiner Stelle belegt war. Ich selbst habe das Wort niemals mit schwarzen Menschen oder irgend etwas Negativem an sich in Beziehung gesetzt. Eher war es mir noch im Anklang an Schwarzarbeit (moonlighting) oder aus den anarchistisch-subversiven und konspirativen Anarcho-Schwarzfahrerversicherungen der Siebziger bekannt. Persönliche Empfindungen nachteiliger Konnotationen übertrumpfen an dieser Stelle vernunftbasiertes Denken. So mancher scheint das Wörterbuch der Etymologie mit dem der Psychologie verwechselt zu haben. Ein Witz ist in diesen Zusammenhängen vielleicht auch die Tatsache, dass die schwarze, US-amerikanische und in Berlin lebende Rapperin Breezy ihr Debut-Album von 2021 ebenfalls „Schwarzfahren“ genannt hat.
Vollkommen unterirdisch wird die Debatte, wenn prominente Politiker, selbstverständlich ebenfalls ohne tiefere Einblicke versuchen, die Debatte über Sprache in eine Richtung zu zwingen, die bei Fachleuten bestenfalls ein müdes Kopfschütteln hervorrufen könnte. So hat jüngst der an guten Tagen wirklich vielversprechende und aufgeräumte Newcomer Kevin Kühnert in einem Interview die Behauptung aufgestellt, Erwerb und Praxis von Fremdsprachen kämen einer kulturellen Aneignung gleich. Die Tageszeitung schreibt dazu:
„Eine Posse, möchte man glauben, hätte der 31-Jährige in dem Interview nicht noch die Frage gestellt, ob es überhaupt nötig sei, Fremdsprachen zu lernen. ,Wenn ich eine Sprache lerne, eigne ich mir die Kultur eines Landes an’, betonte Kühnert. ,Nolens volens begebe ich mich in einen fremden Diskursraum, und die Leute, die ihre Sprache sprechen, sind nicht mehr unter sich und fühlen sich womöglich bedrängt.’ Vorsorglich warnte Kühnert davor, dass die Polen den Erwerb ihrer Sprache 82 Jahre nach Kriegsbeginn als ,eine Art linguistische Panzerattacke’ ansehen könnten.“23
Trotz einiger klärender Einschränkungen bleibt nicht nur für den Liebhaber von Fremdsprachen ein übler Geschmack nach der Verkostung dieser völlig undurchdachten Sichtweise. Nicht zuletzt deshalb hat dieser populärlinguistische Rundumschlag des Kühnert ohne Verzögerung schnell reizbare Figuren wie den notorischen Tübinger Störsender Boris Palmer für eine Manifestaktion auf den Plan gerufen. Hier versucht man sich in hoffnungsloser Naivität, Linguistik nach den Prinzipien der „zynischen Theorien“ (Martin Mahner)24 gefügig zu machen. Fernab jeder modernen Erkenntnisgewinnung werden ideologisch aufgeladene Kampflinien in übergriffiger Weise durch die Wissenschaft gezogen, die offensichtlich die Arbeit von Jahrzehnten der Zweitspracherwerbsforschung ad absurdum führen soll. Doch wir haben nicht Linguistik studiert, um ihre Ergebnisse leichtfertig aus den Haufen der Geschichte zu werfen. Und was soll eigentlich mit den Kindern werden, die in den Schulen noch ihre Pflichtcurriculum der Fremdsprachen betreiben?
Der Autor dieser Zeilen beherrscht als begeisterter Polyglotter eine Handvoll davon. Niemals wäre seinen Gesprächspartnern in den Sinn gekommen, er wolle ihnen etwas Anmaßendes zumuten. Im Gegenteil freut man sich, und jeder will dabei zuhören, wenn eine erkennbar fremd aussehende Person ihr Idiom verwendet. Ein wertschätzender Umstand, der weit von sprachlicher Okkupation gesehen werden muss. In diesem Sinne sollte Herr Kühnert lieber bei den Themen bleiben, bei denen er sich anerkanntermaßen gut auskennt. Der Polyglotte schafft derweil hoffentlich einiges an eigener Identität und Diversität. Am Ende dieser Betrachtungen sei noch ein Verweis auf ein Beispiel für den mittelalterlichen Denkansatz eines Politikers erlaubt, der sich selbst vielleicht nicht zuletzt deshalb gern als Konservativen bezeichnet: Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, war sich nicht zu schade, einige Buchstaben aus dem Namen der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Charlotte Alma Baerbock als das in kleinkriminellen Kreisen hinlänglich bekannte Akronym ACAB zusammenzustellen. Er legt damit den klassisch mittelalterlichen Universalienstreit zwischen Nominalismus und Realismus neu auf, bei dem es den Realisten darum ging, in den Buchstaben der Wörter geheime Botschaften aufzuspüren. Ein kläglicher Versuch sinnloser Dechiffrierungen, der nichts von der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens kennt.25 Solch ein streberhafter Fauxpas sollte einem fließend Japanisch sprechenden, promovierten Juristen einfach nicht passieren. Dazu mag dem Betrachter der Spruch vom Schuster einfallen, der stets bei seinen Leisten bleiben sollte. Mitreden sollte nur, wer Substanzielles beizutragen hat. Und sich nicht zu billig verkaufen will.