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Vorbemerkung

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Träume sind flüchtig. Sie gleichen einer vorbeiwehenden Frau, die ahnen lässt, was für erregende Unterwäsche sie trägt, aber keine Chance gibt, sie auch nur zu grüßen. Träume sind ungreifbar, man kann sie nicht festhalten, selbst die Erinnerung an sie ist allein identisch mit der durch sie erzeugten Stimmung. Diese Tatsache stellt eine Herausforderung dar.

Träume sind Kunstwerke – Traumprotokolle sind die Plots dieser Kunstwerke, Skripts, Anhaltspunkte, nicht die Kunstwerke selbst. Selbst als solche bedeutet es eine sisyphosartige Anstrengung, sie zu erstellen: je näher man an den Traum heranreicht, desto weiter rückt er weg; die Frau mit der erotischen Unterwäsche ist nicht zu kriegen. Warum ich es trotzdem versuche, ist in meinem Buch »Politik des Traums«1 nachzulesen.

Die Veröffentlichung dieser Protokolle soll die Leser dazu einladen, Träume nicht nur individualpsychologisch zu interpretieren, sondern in ihnen Gesellschaftsbilder zu sehen.

Ein Beispiel: Ich rede mit einer Freundin über die Kommune, in der wir zusammen gelebt hatten, das Scheitern dieser Idee. Das drückt individualpsychologisch aus, dass uns dies bis heute beschäftigt.

Als Bild der Gesellschaft aufschlussreich an diesem Traum ist, dass wir dieses Gespräch in einem Automobil geführt hatten, das in einer stehenden Masse von Autos steckte.

In einer globalen Gesellschaft, in der das Auto wirtschaftlich wie psychologisch eine vorherrschende Rolle spielt, erinnert das stehende Auto daran, dass die meisten Autos die meiste Zeit sinnlos herumstehen. Da Autos aber zum Fahren da sind, erinnert diese Tatsache daran, dass die Landschaften so zubetoniert werden, dass Überflutungen überhand nehmen, die Ozonschicht zerstört wird, das Artensterben beschleunigt wird etc., also die Gesellschaft als solche, und zwar die globale, wegen des Automobils sinnlos stehen geblieben ist.

Dies erweitert die individualpsychologische Interpretation um eine gesellschaftliche Dimension: So könnte man die Erinnerung an die stehen gebliebene Kommuneutopie mit der an die stehen gebliebene Gesellschaft konstruktiv verbinden, indem man feststellte, dass kollektive gesellschaftliche Umgangsformen den Autowahnsinn überflüssig machten: Traum als Schlüssel zur Utopie.

Ein aktuelles Beispiel (die Pandemie 2020) verdeutlicht dies besonders eindringlich: Ich träumte von einem gläsernen Bus, in dem, in voneinander abgetrennten gläsernen Kabinen, Kinder mit Kopfhörern vor Laptops saßen, und auf diese Weise einen Kindergeburtstag feierten.

Der psychoanalytische »Tagesrest« war das Zoom-Pfadfindertreffen meines Sohnes am Laptop alleine in seinem Zimmer, meine mitfühlende Trauer über diese Entfremdung vom Pfadfindergedanken.

Gesellschaftlich könnte es keine beklemmendere künstlerische Ausdrucksform für die Traumatisierung der folgenden Generation, die Zerstörung urmenschlichster Ausdrucksformen durch das Herunterfahren gesellschaftlicher Aktivität aufgrund einer Pandemie geben: Albtraum als Warnung vor gesellschaftlicher Realität.

Dasselbe gilt für alle menschlichen Grundbedürfnisse und Tätigkeiten von Essen und Trinken über Politik bis zur Sexualität: jeder Mensch verarbeitet sie jede Nacht und kann daraus Schlüsse nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch auf die Gesellschaft, in der er lebt, ziehen.

Damit werden die über einen Zeitraum von 40 Jahren festgehaltenen Traumprotokolle zu einer neuen Art von Geschichtsbuch. Die Nachtseite der Geschichte, ihr − mitunter grelles – Vexierbild. Die nicht sichtbare, die unbekannte, die verdrängte Seite der Geschichte und der sie gestaltenden Menschen im Großen wie im Kleinen: the Dark Side of the Moon.

So viele Leser diese Traumprotokolle haben werden, so viele verschiedene gesellschaftliche Schlussfolgerungen können aus diesem historischen »Entwicklungsroman« aus der Perspektive des Unbewussten gezogen werden.

Damit möchte ich die Leser anregen, ihre eigenen Träume in diesem Sinne anzunehmen und, so weit es geht, festzuhalten.

PS – technische Verständnishinweise:

1 Mit dem Zeichen: • voneinander getrennte Texte bezeichnen verschiedene Träume in derselben Nacht.

2 Nicht verständliche oder unlogische Wort- oder Satzkonstruktionen, meist in Anführungszeichen zitiert, sind erinnerte Wort- oder Satzbildungen aus dem Traum. Diese »Traumsprache« − eine Kreation der »Werkmeister des Traums« Verdichtung, Vermischung und Verschiebung − ist Vorbild der in meinem Roman »es. Traumtrilogie«2 in seiner mittleren Spalte geschriebenen Übersetzungen von Träumen in Halluzinationen.

3 In geschwungene Klammern gesetzte Textpassagen beziehen sich auf Träume, an die ich mich während des Aufschreibens erinnerte, weil sie die gleiche Stimmung ausdrückten. Diese Erfahrung ist Grundlage meiner in der »Politik des Traums« ausgeführten These, dass Situationsgebundenheit und Bildlichkeit der Träume austauschbar und damit für eine Interpretation nur bedingt verwendbar sind: entscheidend am Traum ist die durch ihn erzeugte Stimmung.

4 In diesem dritten Band gegen Schluss kursiv eingefügte Bemerkungen formulieren, nach Freud, die immer disparaten Tagesreste und anderen Quellen, aus denen die Werkmeister des Traums das Gesamtkunstwerk Traum zusammensetzen. Da jede Kunst nach diesen Prinzipen arbeitet, verfolge ich als Autor diese Quellen, um mich davon inspirieren zu lassen: die Werkmeister des Traums als Lehrmeister des Schriftstellers.

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