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2. Homo sapiens und pflanzliche Arzneimittel

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Krankheiten sind etwas Natürliches und kommen bei allen Lebewesen vor. Der Grund einer Erkrankung ist entweder eine krankhafte Veränderung von Gewebe oder die Fehlfunktion eines Organs. Bei den krankhaften Veränderungen eines Gewebes kann es eine harmlose Entzündung sein, die nach einiger Zeit wieder verschwindet. Es kann sich aber auch um einen gut- oder bösartigen Tumor handeln. Letzteres war für die betroffene Personen in früheren Zeiten meistens ein Todesurteil. Eine ständig tropfende Nase ist eine lästige Fehlfunktion der betroffenen Nasenschleimhaut, sicher aber kein bedrohlicher Zustand. Wenn aber zum Beispiel der Pankreas, die Bauchspeicheldrüse, kein Insulin mehr produziert, dann führt das unbehandelt zum baldigen Tod des Patienten.

Krankheiten können durch eine Infektion ausgelöst werden, den Befall durch Krankheitserreger wie Viren, Bakterien oder andere ein- oder mehrzellige Lebewesen. Aktuell zeigt die Corona-Pandemie uns das auf dramatische Weise. Krankheiten können auch altersbedingt auftreten, durch den Verschleiß von Gelenken und Organen. Sie können die Folge eines ungesunden Lebensstils sein (Rauchen, zu wenig Bewegung, ungesunde Ernährung) oder sie können auch einfach keine eindeutig erkennbare Ursache haben.

Ganz bestimmt war Homo sapiens schon von Anfang an mit Krankheiten konfrontiert. Und obwohl die Zeugnisse von ersten Arzneimitteln nur einige Tausend Jahre zurückreichen, bin ich überzeugt, dass unsere Vorfahren schon viel früher gelernt haben, viele alltägliche Erkrankungen zu behandeln. Natürlich standen sie lebensbedrohlichen Infektionen, Tumoren und ähnlichen Erkrankungen mehr oder weniger hilflos gegenüber. Und schon eine aus heutiger Sicht harmlose Blinddarmentzündung, die mit einer Operation von maximal 30 Minuten aus der Welt geschafft wird, hat die Betroffenen früher nur allzu schnell dahingerafft. Homo sapiens ist ein hochintelligentes Wesen, kann genau beobachten, Misserfolg von Erfolg unterscheiden und daraus seine Schlüsse ziehen. Weiter kann er bei Teilerfolgen durch Überlegungen Strategien entwickeln, welche mit weiteren Erfolgen zum Ziel führen. Und ein weiteres, sehr wichtiges Element war und ist dabei der Zeitfaktor.

Die Hektik der heutigen Zeit und der Druck, bei medizinischen Behandlungen sofort Erfolg zu erringen, waren damals überhaupt noch nicht vorhanden. Erkenntnisse über die therapeutische Verwendung von Heilpflanzen wuchsen im Verlauf von Generationen, wenn nicht sogar im Verlauf von Hunderten oder Tausenden von Jahren. Durch Beobachtung von Tieren und anschließender Selbstanwendung oder durch die zufällige Entdeckung der Wirksamkeit gewisser Pflanzen merkte der Mensch, dass diese bei bestimmten Beschwerden zum Beispiel eine lindernde Wirkung ausübten. Vielleicht brauchte es wieder die Erfahrung mehrere Generationen, bis man merkte, dass das Kauen von Kamille zwar bei Verdauungsbeschwerden eine positive Wirkung hat, dieser Nutzen aber wegen der Unverdaulichkeit der Pflanzenfasern relativ gering war. Irgendeinmal kam dann die wahrscheinlich zufällig gewonnene Erkenntnis dazu, dass der Presssaft der Pflanze, allein angewandt, deutlich mehr Nutzen bringt. Und wie erfuhr der Mensch, dass das Kochen des Presssaftes im heißen Wasser noch mehr Vorteile bringt? Wir wissen es nicht, aber: Irgendwann war – voilà – der erste Kamillentee entstanden.

Bei Verletzungen, Schürfungen und infektiösen Hauterkrankungen wurden zuerst Pflanzen, zum Beispiel Ringelblume (Calendula officinalis), auf die betroffenen Stellen aufgetragen. Und der Mensch merkte, dass die Wunden dadurch schneller heilten. Außerdem entstanden durch das Auflegen der Pflanze weniger häufig Wundinfektionen. Und wie lange dauerte es, bis der Mensch lernte, Pflanzen zu einem Brei zu zerstoßen, in dem die wirksamen Inhaltsstoffe nun frei lagen und somit besser wirken konnten?

Natürlich mussten – und müssen immer noch – auch unzählige Umwege genommen und Sackgassen überwunden werden, bis wichtige Erkenntnisse gewonnen und neue Methoden gefunden wurden. Wie oft wohl haben Menschen leuchtende, schwarze Beeren in der Annahme gegessen, etwas Nahrhaftes zu sich zu nehmen, und sind an einer Vergiftung mit Tollkirsche (Atropa belladonna) gestorben? Und sicher brauchte es viele Generationen, bis genießbare Beeren von giftigen unterschieden werden konnten. Menschen, welche in alpinen Regionen lebten, hatten vielleicht schon die heilsame Wirkung von Gelbem Enzian (Gentiana lutea) erkannt. Wie viele aber starben, weil sie den Enzian mit dem Weißen Germer (Veratrum album) verwechselten, bis die Höhlenbewohner gelernt hatten, diese beiden Pflanzen zu unterscheiden? Enzian hat verdauungsfördernde Eigenschaften, der Germer kann jedoch aufgrund seiner Alkaloide (einer Art von Inhaltsstoffen), hier besonders im Wurzelstock, zu Krämpfen, Kollaps und im Extremfall zum Tod führen.

Aber der Faktor Tod spielte damals eine ganz andere Rolle als heute. Homo sapiens war in der Frühzeit seiner Existenz ständig mit dem Tod konfrontiert, auf der Jagd, bei Begegnungen mit Raubtieren, durch Unfälle im täglichen Kampf ums Überleben oder kriegerische Auseinandersetzungen. Das sehr niedrige Durchschnittsalter unsere Vorfahren – sie wurden wahrscheinlich kaum älter als 35 Jahre – und die hohe Säuglingssterblichkeit sorgten dafür, dass unsere Urahnen eine ganz andere Beziehung zum Tod hatten als dies heute bei uns der Fall ist. Ich möchte damit nicht sagen, dass Verstorbene nicht betrauert worden wären – aber zynisch ausgedrückt, jeder Tod, eben auch einer durch Vergiftung mit einer Pflanze, bedeutete auch einen Zuwachs an Erfahrung.

Fatalismus war und ist hilfreich für das Leben unter extremen Bedingungen – wenn der Hunger groß ist, setzen sich Menschen auch in eine Nussschale von Boot, um auf einem Fluss inmitten von Krokodilen zu fischen.

In der heutigen Zeit spielt die Evidenz eines Arzneimittels eine wichtige Rolle (vgl. weiter unten). Evidenzbasierte Medizin erhebt ausdrücklich die Forderung, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen, und die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien wird durch Evidenzgrade beschrieben. Die evidenzbasierte Medizin soll eine «patientenzentrierte Wissenschaftlichkeit» darstellen.

Der frühe Homo sapiens verfügte natürlich noch nicht über naturwissenschaftliche Kenntnisse im heutigen Sinne und betrieb noch keine moderne Forschung. Seine Labore waren die positiven und negativen Wirkungen, welche Pflanzen bei ihm auslösten, seine Datenbanken die Erfahrung von Generationen aus Jahrhunderten und Jahrtausenden. Langsam, langsam – für heutige Verhältnisse und Bedürfnisse unerträglich langsam – wurden Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt, oft nur auf lokal beschränkter Ebene und nicht, wie heute, in einem atemberaubenden Tempo um die ganze Welt verbreitet, kaum dass sie gewonnen sind.

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