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3 Handlungsleitendes Interesse, methodische Ausrichtung und geschichtliche Situierung der Untersuchung

3.1 Handlungsleitendes Interesse und methodische Ausrichtung der Studie

Die vorliegende Studie sucht zu erkunden, ob im Beten der Edith Stein in der Summe der biographischen Einzelaspekte eine Gestalt erkennbar wird. Dazu werden sichtbare Konturen ihres Betens unter Einbezug von sinndeutenden Horizonten darauf hin untersucht, ob übergreifende Tendenzen in den Gebetsartikulationen zu erkennen sind. Diese übergreifenden Tendenzen können, so meine These, als Gestaltwerdung eines kirchlich situierten Betens mit einem genuin marianisch-pneumatischen Akzent angesehen werden.

3.1.1 Methodische Abfolge der Untersuchung

Bei der Durchführung der angestrebten Studie sind hermeneutische und methodische Einstellungen wirksam, die im Folgenden dargestellt und begründet werden.

Die angestrebte Vorgehensweise, bei der zunächst deskriptiv von der sichtbaren Außenseite eines religiösen Geschehens ausgegangen wird, um sodann unter Einbezug sinndeutender Horizonte zu einer Erschließung der Innenseite der gesichteten religiösen Praxis zu gelangen, formuliert in ähnlicher Weise Kees Waaijman OCarm in seinem Konzept einer beschreibenden Spiritualitätsforschung: „Beschreibende Spiritualitätsforschung wird in drei Schritten vollzogen: Zunächst wird die Form im Hinblick auf Zeit und Ort eingegrenzt, dann wird diese Form in ihren Kontext gestellt und schließlich wird sie interpretiert, so dass sich ihr Innenhorizont erschließt.“183 In Anlehnung an dieses Grundkonzept leiten sich für die vorliegende Studie adaptierte methodische Schritte ab, die nachfolgend skizziert werden.

Die angestrebte Untersuchung sichtet in einem ersten Schritt die von der Autorin überlieferten Gebetsäußerungen verbaler und nonverbaler Art. Dabei richtet sich das Interesse zunächst darauf, die aus diversen Quellen ersichtlichen Gebetsereignisse in ihrer individuellen Kontur zu beschreiben und daran anschließend sinndeutende Horizonte und Einflüsse zu benennen, die für eine mögliche Erschließung der beschreibend aufgewiesenen Konturen bedeutsam sind. Davon ausgehend und weiterführend richtet sich das Augenmerk auf die Frage, ob ein alle Einzelelemente integrierendes Moment formulierbar wird, das sich durchgängig aufweisen lässt. Ich möchte dadurch klären, ob eine Zusammenschau der vielfältigen Äußerungen betenden Geschehens im Leben der Edith Stein rückblickend eine innere Dynamik erkennen lässt, die als Gestaltwerdung beschrieben werden kann. Von der heute möglichen, posthumen Warte aus fragt die vorliegende Untersuchung: Hat ein übergreifender Prozess des Werdens formgebend im Leben dieser Frau geprägt, was mal um mal in den einzelnen betenden Lebensstunden offenbar geworden und in Erscheinung getreten ist?

Falls eine solche Gestalt aufgewiesen und in ihren Grundzügen benannt werden kann, ergibt sich die Frage nach der ekklesiologischen Relevanz dieser Erscheinungsform religiöser Existenz. Besonders die sehr auffälligen mariologischen Implikationen ihrer Gebetspraxis und Selbstdeutung verdienen dabei Beachtung. Vorblickend sei als These formuliert: Edith Stein versteht sich in ihrer geistlichen Existenz wesentlich von der Gestalt Mariens her, die als Urbild der Frau und Leitstern für die innigste Beziehung zu Jesus Christus angesehen wird. Edith Stein sieht sich selbst zu einer speziellen Teilhabe am Sein Mariens im Raum der Kirche berufen. Sie gewinnt von diesem geistlichen Standort aus eine gläubige Sicht auf die theologische Größe „Kirche“, bei der diese als personales Gegenüber gesehen werden kann.

Analog zur übergreifenden Zusammenschau der Steinschen Gebetspraxis im gesamten Lebenslauf sind in einem zweiten, ergänzenden Schritt zwei geistliche Texte Gegenstand der Untersuchung. Das erste zu untersuchende Opus „Ostermorgen“ ist ein frühes Werk der Autorin aus dem Jahr 1924. Diese Meditation aus ihrer Speyerer Zeit ist der erste selbst verfasste geistliche Text Edith Steins. Er ist bereits neun Jahre vor dem Eintritt in den Karmel entstanden. Den zweiten Text „Braut des Heiligen Geistes“ hat Sr. Teresia Benedicta 1942, wenige Monate vor ihrem Tod, im Konvent in Echt verfasst. Beide Beiträge unserer Autorin werden mit Blick auf sprachliche Merkmale und theologische Aussagen untersucht und anschließend zusammengeschaut. Einer Sichtung im Großen der gesamten Biographie, die sich auf übergreifende Tendenzen und sinndeutende Horizonte in den Konturen ihres Betens und eine darin erkennbare Gestalt richtet, schließt sich somit eine Mikroanalyse im Kleinen an, nämlich auf der Textebene der beiden genannten geistlichen Texte.

Die Mikroanalyse des Textes sucht jeweils zu erkunden, ob auch dieses kleinste „Gewebe“ von Einzelelementen eine genuine Gestalt offenbart, bei der sich näherhin die literarisch beschreibbaren Konturen und lyrischen Stilmerkmale im Lichte der diese prägenden sinndeutende Horizonte theologisch-geistesgeschichtlicher Art zu einer Gestalt formieren. Es ist somit eine vom Großen zum Kleinsten fortschreitende Sichtung angestrebt, die ausgehend vom großen „Gewebe“ der Gebetsäußerungen im Lebenslauf der Edith Stein insgesamt bis zum kleinsten „Gewebe“ im Textus zweier schriftlicher Zeugnisse vordringen möchte. Meine These lautet, dass auf beiden Ebenen in den erscheinenden Konturen formgebende Momente ersichtlich werden, die als Gestalt mit ekklesiologischer Bedeutung benannt und beschrieben werden können. Falls das aufgewiesen werden kann, wäre ihr Beten sowohl auf der Ebene des existentiellen Vollzugs als auch auf derjenigen des literarischen Niederschlags wesentlich als Gestalt kirchlicher Existenz zu formulieren.

3.1.2 Begründung für die Auswahl der Methodik

Ein solches Hingehen zu den in verschiedenen Quellen zutage tretenden Gebetsäußerungen geschieht nicht willkürlich, sondern mit Bedacht und unter sorgsamer Abwägung anderer, ebenfalls gangbarer Alternativen. Sinnvoll scheint mir dieser Hinweg zum Gebet bei Edith Stein insofern, als er methodisch versucht, dem genuinen philosophischen Anliegen und Vorgehen der Autorin zu entsprechen, also insofern der Hinweg von vorne herein eine höchstmögliche Angemessenheit an die Eigenart des Betenden anstrebt.

Denn Edith Stein lässt in ihrem philosophischen Werk den Versuch erkennen, sich in modifizierender Aufnahme der phänomenologischen Methodik von Edmund Husserl und Adolf Reinach und mit dem Anliegen einer aktualisierenden Thomasrezeption184 der Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen. Das kommt deutlich zum Ausdruck in ihrem philosophischem Opus „Endliches und ewiges Sein – Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“, das als eigenständiger Entwurf einer Religionsphilosophie in Erscheinung tritt.185 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz beschreibt das Anliegen der promovierten Philosophin zusammenfassend: „Edith Steins Absicht war, die griechische Seinslehre des Aristoteles, ihre biblische Vertiefung bei Thomas von Aquin, die trinitarische Relationslehre Augustins und die Phänomenologie Husserls einzubeziehen in das integrative Leitbild einer philosophia perennis für die mittelalterliche und die neugeborene Philosophie des 20. Jahrhunderts.“186

Es scheint vor diesem Hintergrund angemessen, die Frage nach einer „Entelechie“ auf ihre eigene betende Existenz anzuwenden. Entelechie wird hier mit Thomas Schärtel verstanden in einer neuzeitlichen „Verwendung des E.Begriffes: Gemeint ist das innere Hingeordnetsein eines Lebewesens bzw. eines lebendigen Organismus auf ein Ziel, das es bzw. er gewissermaßen ‚in sich‘ trägt, so dass dieses Ziel seine Entwicklung antreibt und sein Tätigsein leitet.“187 Den Entelechiebegriff greift Edith Stein selbst – dabei über Thomas von Aquin von Aristoteles herkommend – in ihrem philosophischen Hauptwerk auf.188 Daher versucht meine Studie unter diesem Aspekt die vorfindlichen Zeugnisse ihres Betens als Prozess mit dem Charakter einer Gestaltwerdung zu sichten, bei dem ein in der Person Edith Steins angelegtes Potential sukzessive zur Entfaltung kam und eine Zielausrichtung virulent wurde, auf die hin ihr Leben als geistliche Existenz ausgerichtet war.

Alternativ wäre methodisch denkbar gewesen, zunächst ihre philosophische Grundausrichtung im Sinne einer der Mystik geöffneten Phänomenologie in ihrer Entwicklung ausführlich zu konturieren, anschließend mit ihrer interpretierenden Darstellung der Philosophie des Areopagiten und derjenigen des Johannes vom Kreuz zu verbinden, und erst von diesem Hintergrund aus die benennbaren Gebetserscheinungen vor der erarbeiteten Folie ihres philosophischtheologischen Ansatzes einzuordnen. Bei diesem methodischen Zugang wären jedoch ihr philosophisches Denken und ihre theologische Ausrichtung die vorgängig formulierte, inhaltliche Matrix für die Einordnung und Sichtung der beobachtbaren Gebetsäußerungen und -zeugnisse gewesen.

Diese Variante des Herangehens habe ich bewusst nicht gewählt, um dafür stärker und betonter den Blick zunächst rein beschreibend auf die Konturen des Betens werfen zu können. Denn nicht erst im Lichte der deutenden inhaltlichen Horizonte, sondern schon rein anhand der sichtbaren Kontur und benennbaren Struktur ihres Betens (z. B. hinsichtlich seiner zeitlichen Erstreckung d. h. seiner Dauer und Häufigkeit, sowie der Betonung des Schweigens, oder der örtlichen Situierung, die sich immer stärker auch äußerlich in den kirchlichen Raum hinein verlagert) wird ersichtlich, welche Art von Gottes-, Welt- und Selbstbezug sich in diesem Geschehen bei Edith Stein sukzessive manifestiert. Vor allem kann dieser in chronologischer Reihenfolge beschreibende Hinweg vermeiden, dass anachronistisch (d. h. von einer biographisch späteren Entfaltungsweise und Lebensphase her gesehen) in einer jeweiligen Lebensphase unserer Autorin eine Spiritualität gesehen und in Lebensäußerungen der Edith Stein hineingelesen wird, die dort in Wahrheit noch gar nicht zu sehen ist. Diese Gefahr einer vom biographisch Späteren auf früheres projizierenden Sichtweise ergäbe sich etwa z. B. mit Blick auf eine ausdrücklich sich selbst enteignete karmelitische Lebensweise monastischer Existenz, die bei ihr erst im späteren Lebensverlauf und im Lebensraum des klösterlichen Gemeinschaftslebens volle Gestalt gewinnen konnte. In gleicher Weise wird vermieden, dass mit einem Gebetsverständnis, das zwar für spätere Lebensphasen geeignet ist, nicht jedoch für ihre frühe Zeit, die Sicht auf ihre frühen Jahre vor dem Klostereintritt von einer Mangelperspektive geprägt wird, die inadäquat ist. Das wäre, um ein analoges Beispiel zu wählen, so, als wollte man das Bewegungsverhalten eines Kleinkindes in der Form beschreiben, dass es noch gar nicht „aufrecht gehen“ konnte in seiner ersten Lebensphase – wobei „Aufrechtgehen“ ein Begriff aus der Beobachtung von Erwachsenen ist und diese Kategorie somit mit Blick auf Kinder unvermeidlich nur ein Defizit in den Blick rücken kann. Ebenso ist das Anliegen der Untersuchung, durch den betont beschreibenden Akzent im ersten Teil zu vermeiden, dass bedeutende Details deswegen nicht ins Blickfeld rücken können, weil die vorgängig formulierten Kriterien das gar nicht mehr erlauben. Das wäre etwa dann der Fall, wenn nur noch nach Gebetsformen gesucht würde, die typischer Weise dem Karmel nahe stehen oder im weitesten Sinne kontemplativer Art sind, und zwar kontemplativ nach dem Verständnis der Ordensgründergestalten der karmelitanischen Ordensgemeinschaft. Durch wie auch immer vorgängig formulierte Kriterien inhaltlicher oder formaler Art würde sich unvermeidlich die Frage ergeben, für welche der Lebensphasen der Edith Stein diese in welchem Umgang überhaupt zutreffen und für welche nicht. Auch wäre dann die Frage nicht zu umgehen, welche denn die „beste“ Gebetsweise im Leben der Edith Stein gewesen sei, oder welche die ihr am „eigentlichsten“ entsprechende.

Die These der vorliegenden Studie lautet vor dem Hintergrund des Gesagten: Im vielgestaltigen Beten Edith Steins gewinnt kontinuierlich ekklesiale Gestalt, was zwar als Möglichkeit geistig-intellektuell schon präfiguriert war in der ausgeprägten Rezeptivität des Denkens der Phänomenologin Edith Stein, was sich jedoch nicht einfachhin daraus bruchlos und monokausal ableiten lässt. Weil sie sich aber von den Dingen unvoreingenommen in von der Phänomenologie her orientierter, objektbezogener Sachlichkeit zu denken geben und sich von ihnen ansprechen lassen konnte, deswegen konnte sie sich auch bis in die Wurzeln ihres eigenen Seins fortlaufend von dem transzendenten Grund zu denken geben lassen, der unergründlich alles gründet. Klaus Hemmerle kommt auf diesen bedeutsamen Zug in der philosophischen Ausrichtung unserer Autorin zu sprechen: „Die Bereitschaft, das eigene Selbst betreffen zu lassen durch die innere Qualität eines Sich-Zeigenden, die innere Verfügbarkeit für ein neues Licht, die Berührbarkeit durch eine neue, bislang nicht gekannte Realität: dies ist der Anknüpfungspunkt, an welchem sich, innerhalb der Phänomenalität selbst und doch von innen her sie übersteigend, das Phänomen zum Anruf wandelt.“189 Aus dieser geistigen Haltung heraus und als zu sich selbst gekommenes Freiheitsgeschehen konnte – so die These der vorliegenden Studie – schließlich antwortende, gereifte Hingabe in der Nachfolge Christi im Raum der Kirche zur besonderen Signatur und zur Zielgestalt ihres eigenen Betens werden. In von Liebe getragener Hingabe sieht sich Edith Stein zunehmend in besonderer Nähe zur biblisch und kirchlich vermittelten Gestalt der „Gottesmutter“ Maria, die ihr als Karmelitin zugleich als „Patronin“ des Ordens, als „Schwester“ und als „Braut Christi“ vor Augen steht. Ihr Denken wird Edith Stein zum Danken und schließlich zur betenden Teilhabe an der Existenz des mystischen Leibes Christi, welche sie in Maria als der „Mutter“ und „Braut“ Christi modellhaft präfiguriert sieht.

3.1.3 Nähe zu belegbaren Quellen statt hagiographischer Verzeichnung

Die oben formulierte These gilt es im Zuge der angestrebten Untersuchung detailliert zu belegen. Gerade Untersuchungen zum geistlichen Leben einer geschichtlichen Gestalt geraten bisweilen unversehens zur Darstellung nicht dessen, was damals beim untersuchten Autor/Autorin belegbar ist, sondern vielmehr dessen, was auf diese Gestalt projiziert wird, was unbemerkt und in bester Absicht geschehen kann. Auch die Forschung zu Edith Stein ist von dieser Gefahr nicht immer unbehelligt geblieben, was ein Blick in manche Veröffentlichungen erkennen lässt. Diese entgehen einem bisweilen verzeichnenden Duktus in der Darstellung und Auslegung von Begebenheiten nicht immer völlig.

Das wird exemplarisch ersichtlich an der Besprechung der Art und Weise, wie Edith Stein durch die Begegnung mit der Vida der hl. Teresa von Ávila zur Konversion gelangt sei,190 sowie der Frage, ob sie vor ihrer Taufe in der Jugendzeit eine atheistische Phase erlebt habe.191 Vor diesem Hintergrund sei eingangs der Grundsatz der stetigen Quellennähe und Belegbarkeit aufgestellter Überlegungen eigens erinnert und mit Nachdruck betont. Das gilt auch für Konklusionen, die aus den vorliegenden Daten abgeleitet werden. Denn nicht nur droht eine von hagiographischen Motiven überstrapazierte Perspektive auf die geistliche Gestalt Edith Steins das geschichtliche Gegenüber aus dem Blick zu verlieren. Das ist der Fall, wo Edith Stein rückblickend einseitig und von ihrer Heiligsprechung her wahrgenommen wird. Werden Phasen ihrer geistlichen Entwicklung eingeebnet, dann wächst die Gefahr das geistliche Proprium dieses Menschen zu verfehlen und so blind zu werden für die sukzessiven und z. T. tiefgreifenden Wandlungen im Charakter und der intellektuell-geistlichen Ausrichtung unserer Autorin. Das betrifft auch die philosophischen Werke unserer Autorin, die ebenfalls im Rahmen der jeweiligen biographischen Phase gesichtet und von dorther einzuordnen sind, wie die Herausgeber des Edith Stein-Lexikons bemerken: „Doch gerade die Immanenz der jeweiligen Phasen sollte beachtet, das systematische und genealogische Gewicht der Begriffe Steins verdient es gewürdigt zu werden. In den Ansatz der im husserlschen Sinn streng wissenschaftlich arbeitenden Phänomenologin sollten daher nicht Assoziationen zu der frühen Feministin und späteren Heiligen hineingetragen werden.“192 Entsprechendes könnte für die geistliche Dimension des Werks unserer Autorin formuliert werden. Die Tiefe der bisweilen auszumachenden Kurskorrekturen im Leben der Edith Stein lassen erkennen, dass geistlich-innerseelische Transformationen stattgefunden haben müssen.193

Ebenso folgenschwer ist die Konsequenz einer hagiographischen Verzeichnung mit Blick auf die in dem Falle reduzierte Bedeutung der Initiativen Gottes im Leben der Edith Stein. Wenn unsere Autorin quasi „immer schon“ mehr oder weniger heilig gewesen wäre, dann wäre Gottes heilsamer Einfluss im Sinne einer korrigierenden Größe überflüssig. Biographische Momente der Begegnung mit einer „gratia sanans“ wären praktisch unötig. In diesem Falle könnte dem beständigen Wirken der Gnade Gottes, das den Menschen je und je menschlicher, freier und lebendiger machen möchte, kaum mehr Bedeutung zukommen, wollte man Edith Steins Beten schon immer und in Vollgestalt als heiligmäßig und/oder von Beginn ihres Lebens an bereits in Geiste des Karmel konturiert ansehen und einschätzen. Dem entgegen wäre zu werben für eine betont nüchterne Sicht auf die sich entfaltende Gebetsbiographie der Edith Stein, damit sich gerade so der erkennbare Einfluss von Mehr-als-Menschlichem umso stärker zu erkennen gibt. In Kürze formuliert kann daher gelten: Edith Stein ist betend in der Nähe Gottes je und je zu dem frommen Menschen geworden, der in ihr als Möglichkeit angelegt, aber nicht zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens bereits schon entfaltet und realisiert war.

3.2 Geschichtlicher Standort der Studie: Theologie nach Auschwitz

3.2.1 Theologische Deutungsversuche und Sprachzeugenschaft für die Opfer

Die vorliegende Studie ist an einem geschichtlichen Ort nach Auschwitz situiert. Von daher sieht sie sich mit der Anforderung konfrontiert, vom heutigen, posthumen Standpunkt aus über das geistliche Leben der Edith Stein und ihre schriftlichen Zeugnisse zu handeln, die beide zeitlich vor diesem Ereignis angesiedelt sind. Wie kann bei einer Rede vom Gebet unserer Autorin mit dieser chronologischen Differenz und dem von daher verschiedenen theologischen Standort angemessen umgegangen werden? Wie kann eine theologische Studie näherhin dem Rechnung tragen, das alles, was mit diesem geschichtlichen Ort der Vernichtung verbunden ist, wesentlich davon geprägt ist, dass es Norbert Reck zufolge für die Sprache kategoriensprengend ist und „nicht zu verstehen“? Reck führt dazu aus: „Die Herausforderung von Auschwitz bestehe aber gerade darin, dass Auschwitz nicht zu verstehen sei. Das betonen auch viele Überlebende in ihren Berichten: daß selbst das, was sie uns mitteilen, das Geschehen nicht zutreffend beschreiben könne, daß es überhaupt keine Sprache gebe, die das vermöge.“194

Den aktuellen Rahmen, in dem diese Herausforderung sich stellt, markiert Jan-Heiner Tück in seiner Monographie „Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz“.195 Er stellt fest: „Im gesellschaftlichen Diskurs besteht seit Längerem die Gefahr, entweder zu viel oder zu wenig von der Shoa zu reden. Einer gewissen Gesprächigkeit über die Sprachlosigkeit angesichts des Grauens steht die Unwilligkeit gegenüber, das Thema überhaupt zur Sprache zu bringen. Beide Reaktionen sind verfehlt. Die betroffenheitsrhetorische Inszenierung der Unsagbarkeit durch Superlative, die bei manchen zu einer ‚Holocaustmüdigkeit‘ führt, wirkt in dem Maße unangemessen, als sie die Maßlosigkeit des Verbrechens sprachlich nachzuahmen sucht. Ein Schweigen aus Apathie und Indifferenz, das eine heimliche Komplizenschaft mit den Tätern einschließen kann, ist nicht minder problematisch.“196 Zwischen diesen Extremen ist meine Studie angesiedelt und sucht nach Sprachformen, die beiden Gefährdungen entgehen. Dabei ist mit Blick auf eine Theologie des Gebets zu beachten, was Thomas Dienberg OFCap feststellt: „Seit und durch Auschwitz hat sich das Gebet verändert, vor allem das christliche Gebet. Es kann nicht mehr so sein wie vor Auschwitz. Auch das Gebet steht unter dem Vorzeichen des Bruchstückhaften und Fragmentarischen. Es ist ‚stigmatisiert‘ “.197 Wenn aber Beten einem solchen Wandel unterworfen ist, kann auch die das Beten eines Menschen auslegende und deutende Rede davon nicht unbetroffen bleiben. Wie kann also eine Rede angemessen stattfinden?

Unter den verschiedenen Möglichkeiten, wie „Auschwitz“ im theologischen Denken Beachtung finden kann, empfängt meine Studie Impulse von Positionen, die für eine entschiedene Sprachzeugenschaft für die Stimme der Opfer eintreten: „Wir können nur Wortzeugen der Blutzeugen sein. […] Zwischen dem Schweigegebot einer Ästhetik nach Auschwitz und der Zeugenpflicht einer Ethik nach Auschwitz ist die Balance der Worte immer aufs Neue auszutarieren.“198 Exemplarisch formuliert es Elie Wiesel: „Das letzte Wort gehört den Opfern. Der Zeuge soll es ergreifen, es zum Ausdruck bringen, und dieses Geheimnis anderen mitteilen.“199 Dabei ist allerdings zu vermeiden, dass die Opfer und ihre Sprache vereinnahmt werden. In diese Richtung gehend zielen die Beiträge von T. W. Adorno darauf, stets eine Sensibilität für die ästhetische Objektivierung des Leides wach zu halten, das die Opfer erfahren mussten.200

Der vorliegende Versuch einer Auslegung geistlicher Texte der Edith Stein ist in diesem Sinne ein Beitrag, die Stimme eines der Opfer von Auschwitz nachträglich hörbar werden zu lassen. Denn wo die betenden Opfer Gehör finden, dort haben die Täter nicht das letzte Wort. Vielmehr erfahren die Opfer und ihr Todesschrei nachträgliche Anerkennung. Dieses Anliegen meldet sich auch bei Gerhard Ludwig Müller zu Wort, der eine theozentrische Perspektive einnimmt: „Auschwitz als Tat der Mörder ist nicht das letzte Wort. Es wird zum Ort, wo Gott sein letztes Wort spricht, indem das Wort vom Kreuz zur Weisheit und uns allen zur Gerechtigkeit und Erlösung wird (1 Kor 1,30). Können wir nach Auschwitz noch beten?, so heißt eine bekannte Frage. Vielleicht wissen wir erst durch das Zeugnis des Sterbens in Liebe Edith Steins und anderer, was Beten angesichts des Todes überhaupt heißt. Gemeint ist das Beten nicht nur zu einem überweltlichen Wesen, das seine Liebe erweist, indem es die Welt einigermaßen in Ordnung hält und vor größeren Unfällen bewahrt, sondern das Beten zum Gott Jesu Christi, der einzig als der Gekreuzigte verkündigt wird: den einen empörendes Ärgernis, für andere eine Torheit, ‚für die Berufenen aber, Juden und Griechen, Christus, Gottes Kraft und Weisheit‘ (1 Kor 1,24).“201 Der Problematik, dass sich die Optik auf unsere Autorin nicht vom religiösen Standpunkt des Betrachters ablösen lässt, sondern unmittelbar virulent wird, ob ein jüdischer Betrachter oder ein christlicher sich ihrer Gestalt zuwenden, dem gilt im Abschnitt 6.2.2 über Edith Stein als betende Jüdin das Interesse. Daher kann hier darauf verzichtet werden, diese Problematik weiter zu entfalten.

3.2.2 Theologische Gebetshermeneutik bei Johann Baptist Metz

Die vorliegende Studie verdankt den Überlegungen, die Johann Baptist Metz hinsichtlich einer Theologie (des Gebets) nach Auschwitz202 vorgetragen hat, wertvolle Impulse. Grundlinien der Metzschen Theologie seien daher in gebotener Kürze und mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie skizziert. Vorblickend sei auf eine auffällige Konvergenz seiner von der Apokalyptik herkommenden, zeitsensiblen Theologie, die christologisch hinsichtlich einer an der Gestalt Jesu Christi sichtbaren „gefährlichen Erinnerung“ konturiert ist, mit Positionen der Edith Stein hingewiesen.203 Der Name „Auschwitz“ wird für den Rahnerschüler und emeritierten Münsteraner Professor für Fundamentaltheologie zum Inbegriff einer grundlegenden Irritation herkömmlicher Theologie: „Auschwitz signalisierte für mich einen Schrecken jenseits aller vertrauten Theologie, einen Schrecken, der jede situationsfreie Rede von Gott leer und blind erscheinen ließ. […] Im Bewußtwerden der Situation ‚nach Auschwitz‘ drängte sich mir die Gottesfrage in ihrer merkwürdigsten, ihrer ältesten und umstrittensten Version auf, eben in der Gestalt der Theodizeefrage, und das nicht in existentialistischer, sondern gewissermaßen in politischer Fassung: Gottesrede als Schrei nach der Rettung der Anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte.“204 Was mit „Auschwitz“ bedeutet wird, bildet für den frühen Metz mit der Herausforderung durch den Marxismus und mit jener durch die sozial geteilte und kulturell polyzentrische Welt eine dreifache Herausforderung für das theologische Denken.205 Dieses sieht er gefährdet, seine konkrete geschichtliche Situierung aus dem Blick zu verlieren und darin die Opfer der Geschichte ihrer Bedeutung zu berauben. Wo das geschieht, wird die Theologie zur Funktion einer „bürgerlichen“ Religiosität.206 Entgegen einer „verblüffungsfesten“207 und in seiner Wahrnehmung orts- und geschichtslosen theologischen (Gebets-) Hermeneutik plädiert er für eine „nachidealistische“ Theologie. Diese ist betont sensibel für ein besonderes Verstehen von Zeit: „‚Nachidealistisch‘ heißt dabei: Es ist der Theologie weder vergönnt noch zugemutet, in geschlossenen, situationsfreien Systemen ihre Welterklärungen und Daseinsinterpretationen vorzutragen. Sie kennt eigentlich keine Letztbegründungen, sondern eigentlich nur, wenn Sie mir dieses Wortspiel gestatten, sogenannte Zuletztbegründungen. Unabweisbar ist der Zeitfaktor im Spiel, ihre Botschaft hat einen Zeitkern. Ihre Logik ist nicht einfach eine Logik der Identität, sondern der Nicht-Identität. Das macht sie verletzbarer als die klassische Metaphysik, als jedes ideengeleitete Denken. Sie fußt auf vergleichsweise ‚schwachen‘ Kategorien wie Erinnern und Erzählen. Oder anders ausgedrückt und etwas akademischer formuliert: Die Logik der Theologie hat eine anamnetische Grundverfassung.“208 Diese kennzeichnet eine betont theodizee- und „leidempfindliche“ Haltung, anstatt die Frage nach Gott und nach der Antwort auf die Frage des Leids und des Übels im theologischen Diskurs zu entschärfen und „still zu legen“. Metz führt dazu aus: „Es gibt die Stilllegung der Theodizeefrage durch zuviel trinitätstheologisch eingekreistes und aufgehobenes ‚Leiden in Gott‘ und zuwenig zeitlich gespanntes ‚Leiden an Gott‘; es gibt zuviele kluge Antworten auf die Fragen: Wer ist Gott? Wo ist Gott? und zuwenig Artikulation einer offensichtlich biblischen Urfrage in der Gestalt von Schrei und Ruf: Wo bleibt Gott?“209 Metz plädiert dafür, dass den Leidenden Priorität zukommt: „Es gibt nämlich eine Autorität, die in allen großen Kulturen und Religionen anerkannt und durch keine Autoritätskritik überholt ist: die Autorität der Leidenden.“210 Dem Fundamentaltheologen zufolge müssen Leidende als Subjekte ernst genommen werden. Das wird in einer „anamnetischen“ Theologie möglich: „‚Subjektwerdung‘ gehört in das Grundprogramm der neuen politischen Theologie (vgl. etwa meinen Band ‚Glaube in Geschichte und Gesellschaft‘, Mainz 1977 u. ö.). Dieses Subjektverständnis – und das korrespondierende Ichsagen in der Theologie – ist in einer anamnetischen Anthropologie fundiert, in einer Erinnerungsanthropologie, in der das Subjekt an den Anderen, mit den Anderen (den Lebenden, fern und nah, und den Toten, den Besiegten und Opfern) zu sich selbst kommt und auch nur so sich selbst – in seiner Ichtiefe – weiß.“211 Diese Anthropologie ist christologisch fundiert. Sie wird von der „memoria passionis“212 Jesu Christi als einer „gefährlichen Erinnerung“213 getragen. Eine solche Theologie lenkt den Blick auf den „Plural von Leidensgeschichten“ und ist von vorne herein hellhörig für den „Zeitindex“ in aller theologischer Rede: „Nicht bei den Vorsokratikern, sondern in den eschatologisch-apokalyptischen Theodizeelandschaften der Bibel wäre der epochalen Frage nach ‚Sein und Zeit‘ und nach der Temporalisierung der Metaphysik nachzugehen. Dann ließe sich auch verlässlichere Auskunft geben über die Nähe und Ferne Gottes, über seine Transzendenz und seine Einwohnung, über das ‚Schon‘ und ‚noch nicht‘ seines Heils – beides jeweils nicht etwas zusammengerückt, sondern das eine im anderen und als das andere. Doch obwohl, wie gesagt, alle theologischen Seinsaussagen mit einem Zeitindex versehen sind, ist in der Theologie selbst kaum etwas so wenig ausgebildet, wie ein authentisches, ein ungeborgtes Verständnis von Zeit.“214

Der von Metz postulierte Zeitindex wird greifbar im Geschehen von Erinnerung und Hoffnung, zumal in apokalyptischen Traditionen der Bibel: „Die Apokalypse biblischer Traditionen, so schwer sie für uns heute in der Tat zu vermitteln ist, ist keine nervöse oder neugierige Berechnung des Zeitpunkts vom Ende der Welt, sondern ein Wahrnehmen der Welt im Wissen um ihr Ende. Ich meine, daß die mit apokalyptischer Schärfe entwickelte Eschatologie die eigentliche, auch kulturell beschreibbare Mitgift des biblischen Geistes ausmacht. […] Umgehen mit dem Ende heißt ja nicht Resignation. Resigniert wird der Mensch vielmehr dann, wenn er vermutet, daß es überhaupt kein Ende mehr gibt. Wenn er also in seinem Lebensgefühl davon ausgeht, daß er und überhaupt alles hineingerissen ist in das Gewoge einer anonymen, endlosen Weltzeit, die schließlich jeden von hinten überrollt wie die Flut das Sandkorn am Meer.“215 Dieser Zeitindex steht, mit Johann Baptist Metz gesprochen, für den Einbruch der unverfügbar anderen Zeit Gottes, die in das menschliche Leben als „vertikale Unterbrechung“216 einfällt und dort eine apokalyptisch gedrängte, auf das baldige Kommen Gottes gerichtete Virulenz freisetzt.217 Dieses apokalyptische Zeiterleben und -verstehen bewegt den Fundamentaltheologen durchgängig: „Und ich schließe diese Überlegungen mit ihr“, nämlich der Apokalyptik, „ab, weil sie mich über die Jahre beschäftigt hat, weil sie gewissermaßen Saum meines theologischen Entwurfes bildet, ohne daß ich je überzeugend und konsistent von ihr zu reden gelernt hätte.“218

Einer Besinnung auf das Gebet kommt insofern grundlegende Bedeutung zu, als dieses eine Sprachgestalt219 ist, in der der leidende Mensch seine Subjektwerdung erfährt, die sich einer Systemeinholung verweigert, was jedoch in modernen Gesellschaftssystemen zunehmend drohe.220 Im denkend-betenden Vollzug, auch dem der Sprachlosigkeit, wird dieses Systemdenken unterbrochen und das hoffnungsbetonte Ausgerichtetsein auf Gott zur Praxis. Metz sieht somit in der Sprachlosigkeit eine fundamentale „Unterbrechung“. In dieser Kategorie findet er eine Kurzformel für das, was mit Beten gemeint ist: „Genau das habe ich gemeint, daß ein Stück Sprachlosigkeit zu wünschen wäre. Die Spracharmut, ja, die haben wir zwar als gefühlte, aber die wirkt so, wie wenn man durch den Wald läuft und aus Angst pfeift. So wird bei uns weitergeredet aus Angst, daß man in die Grube der Sprachlosigkeit fallen könnte. Dadurch wird meines Erachtens in unserer Gebetstradition gerade eine der großen und, wie ich meine, für uns heute wichtigen Traditionen des Betens immer wieder verdeckt: jene Tradition nämlich, die uns z.B. lehrt, daß Beten zunächst nicht eine rasche Überwindung von Angst ist, sondern erst einmal Zulassung von Angst; daß Beten nicht immer ein Gesang der Seele ist, sondern gar oft ein sprachloser Schrei. Für mich ist die kürzeste Definition von Gebet ganz einfach: ‚Unterbrechung‘, Unterbrechung aller Plausibilitäten, in denen wir leben, und das macht zunächst einmal – sprachlos.“221

Betend manifestiert sich so eine bestimmte Kultur des Umgangs mit Zeit und zugleich eine bestimmte Gottesauffassung, nämlich einer, bei der Gott ein Geheimnis bleibt, dem mit der Erwartung der Rettung begegnet wird. Mit Blick auf die Gebetssprache222 führt Metz in diesem Sinne aus: „Sie verurteilt den unaussprechlich Angesprochenen nicht zur Antwort, nicht zum vertraulichen Ich-Du. Sie ist keine Unterhaltungssprache. Sie kann weder als Dialog noch als Kommunikation in dem uns vertrauten Sinn beschrieben werden, kann also weder diskurstheoretisch noch kommunikationsphilosophisch durchschaut werden. Sie bleibt die Heimstatt negativer Theologie, bleibt praktiziertes Bilderverbot, bleibt wehrlose Weigerung, sich von Ideen oder Mythen trösten zu lassen, bleibt Gottespassion, sehr oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur. Oder, um es nun doch mit einem von Rahner häufig gebrauchten Wort zu sagen: ein Schrei nach dem Licht Gottes.“223 Die Grundanliegen von Johann Baptist Metz aufnehmend, versucht die vorliegende Studie in einer betonten Besinnung auf den geschichtlichen Standort und die in der Biographie der Edith Stein überdeutlich erkennbaren leiderfüllten Momente zu achten. In diesem Sinne sieht sich die angestrebte Darstellung des Gebets bei Edith Stein dem Metzschen Programm einer in seinem Verständnis „nachidealistischen“ Theologie nahestehend. Die Aufnahme der Beiträge von Johann Baptist Metz stellt auch den Versuch dar, der Dimension des Zeitlichen in den Gebetsäußerungen der Edith Stein zu entsprechen, die ein von apokalyptischem Welterleben gefärbtes Kolorit klar erkennen lassen. So wird entsprechendes Zeiterleben sehr deutlich im geistlichen Text „Tabernaculum dei cum hominibus“224 artikuliert oder auch im Beitrag zur Gelübdeerneuerung „Braut des Lammes“225, sowie in den Gedichten „St. Joseph, sorg!“226 und „O hohe Mutter, dich umkleidet“.227 In allen genannten Belegstellen, die exemplarisch für weitere stehen, nimmt Edith Stein vielfältig Bezug auf Stellen der Offenbarung des Johannes. Sie bringt ihr sehnsuchtsvolles Erwarten ins Wort, mit der sie nach der offenbaren Präsenz des endzeitlichen Christus Ausschau hält, dessen Kommen erwartet wird. Der Mensch in seiner Verfasstheit als zwischen Bedrängnis und Sehnsucht auf Rettung und Erlösung ausgespannte Existenz wird von ihr somit durchgängig und in verschiedenen literarischen Gattungen konturiert.

Die vorliegende Studie versucht vor dem Hintergrund des Dargelegten, dem Geheimnis des Abgründigen zu entsprechen, das sich in der Tragödie der Shoa geschichtlich unhintergehbar manifestiert hat, und das als Irritation und Vor-Gabe nicht mehr aus der Theologie zu entfernen ist. Eine Gebetstheologie des 21. Jahrhunderts, die dessen eingedenk bleibt, ist in einem wertvollen Sinne traditionell, weil sie das geschichtlich Überkommene nicht ignoriert, sondern als geistlich zu entschlüsselnden Fingerzeig in die Gottesrede integriert und diese davon orientieren lässt – und zwar besonders orientieren lässt von der Sprachgestalt der Gebete der Opfer. Bei allem, was zur Gestalt des Betens bei Edith Stein im folgenden formuliert wird, und was bei der Auslegung der geistlichen Texte Edith Steins ins Wort kommt, mögen diese grundlegenden Überlegungen in Erinnerung bleiben.

183 Waaijman, K.: Handbuch der Spiritualität. Formen, Grundlagen, Methoden. Band 3: Methoden, Ostfildern 2007, S. 74.

184 Vgl. ihre Übersetzung der quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin (ESGA 23 und 24) und ihre anthropologischen Entwürfe in „Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie“ (ESGA 15).

185 Vgl. ESGA 11/12.

186 Gerl-Falkovitz, Unerbittliches Licht, S. 165.

187 Vgl. Schärtel, T.: Artikel „Entelechie“, in: Franz, A./Baum, W./Kreutzer, K. (Hg.): Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg 2003, S. 112–113, hier S. 112.

188 Vgl. ESGA 11/12, S. 206. Entsprechend formuliert Edith Stein mit Blick auf Aristoteles und das Ziel, das die Ursache einer Bewegung ist: „das Bewegte strebt nicht nur darauf zu, sondern wird dadurch in Bewegung gesetzt, gleichsam von dort aus gezogen.“ (ebd. S. 212). Zur Verwendung und Bedeutung des Begriffs Entelechie bei Edith Stein vgl. Müller, A. U.: Grundzüge der Religionsphilosophie Edith Stein, Freiburg 1993, S. 258–277, sowie Knaup, M.: Artikel „Entelechie“, in: Edith Stein-Lexikon, herausgegeben von Marcus Knaup und Harald Seubert unter Mitwirkung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Martin Hähnel und René Raschke, Freiburg 2017, S. 99–101.

189 Hemmerle, K.: Die geistige Größe Edith Steins. in: Elders, L. (Hg.): Edith Stein. Leben, Philosophie, Vollendung, Würzburg 1991, S. 275–290, hier S. 281.

190 Vgl. Dobhan, U.: Edith Stein die Karmelitin, in: Edith-Stein-Jahrbuch 12 (2006), S. 75–124, hier S. 80.

191 Vgl. Schandl, Ich sah aus meinem Volk die Kirche wachsen, S. 86–87.

192 Edith Stein-Lexikon, herausgegeben von Marcus Knaup und Harald Seubert unter Mitwirkung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Martin Hähnel und René Raschke, Freiburg 2017, S. 7.

193 Ihre Nichte, Susanne Batzdorff, bemerkt, dass ihre Tante in jungen Jahren der Schulzeit „unmissverständliche Anzeichen von Stolz auf ihre Leistungen, die an Einbildung grenzen“ erkennen lies. „Edith lernte gerne, aber liebte es auch, mit ihren Kenntnissen zu prahlen.“ Batzdorff, S. M.: Edith Stein – meine Tante, Würzburg 2000, S. 46. Dazu passt auch ein bisweilen elitärer Zug in der Form, dass Edith Stein in frühen Studienzeiten die Mitstudierenden als zu vernachlässigende Größe ansah, an denen sie vorbeiging, um sich bei Vorlesungen in die erste Reihe zu setzen. Von ihr propädeutisch betreute Studierende in Anfangssemestern in Philosophie nennt sie „Kindergarten“. Dass unsere Autorin bis ins vierte Lebenjahrzehnt hinein „ziemlich hochmütig, eigensinnig und ausgesprochen ehrgeizig“ war, führt auch Beat Imhof an. Vgl. dazu Imhof, B.: Edith Steins philosophische Entwicklung, Basel 1987, S. 29. Es ist angesichts der merklich überheblichen Züge der jungen Edith Stein umso beachtenswerter, wenn Mitschwestern des Kölner Konvents Jahre später von der Novizin Edith Stein berichten werden, dass sie es gar nicht bemerkt hätten, dass ihnen eine hochgebildete, promovierte Philosophin gegenüber trat: „Viele ahnten nichts von der Stellung, die Edith Stein in der Welt inne gehabt hatte, und erfuhren erst nach ihrem Tod von ihrer Bedeutung im öffentlichen Leben.“ (Kölner Selig- und Heiligsprechungsprozess, S. 66). Eine betonte Selbstzurücknahme der Sr. Teresia Benedicta bis ins Sprechen hinein muss stattgefunden haben. Diese lässt auf einen Wandel in der Persönlichkeit schließen und auf erworbene Achtsamkeit dafür, andere durch die eigene Bildung und Eloquenz nicht zu beschämen. Dieser Wandel ist auch schon in den Speyerer Jahren erkennbar, als sie sowohl mit den Schülerinnen als auch mit den jungen, des Lateins unkundigen, Ordensschwestern sehr hilfsbereit und einfühlsam umgeht. Ein innerer Wandel lässt sich desgleichen nach außen hin am Schriftbild erkennen, an der feinmotorischen Körpersprache eines Menschen, die sich im Lebensverlauf der Edith Stein deutlich verändert. Vgl. dazu die Einführung von C. M. Wulff zu ESGA 8, S. XXVI: „Die Lateinschrift Steins in den 30er Jahren ist kleiner und ausgeschriebener“ als in den Manuskripten zu ihrer Studie ‚Einführung in die Philosophie‘, die „spätestens 1921 vollendet war“.

194 Reck, Theologie nach Auschwitz, S. 193.

195 Tück, J.-H.: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016.

196 Ebd. S. 29.

197 Dienberg, T.: Ihre Tränen sind wie Gebete. Das Gebet nach Auschwitz in Theologie und Literatur, Würzburg 1997, S. 6.

198 Lenzen, V.: Sprache und Schweigen nach Auschwitz, in: Lesch, W.: (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Theologie und Kunst, Darmstadt 1994, S. 183–200, hier S. 199.

199 Zitiert bei Lenzen, Sprache und Schweigen nach Auschwitz, S. 198.

200 Vgl. dazu Verena Lenzen: „Adorno ist bewegt von Furcht und Sorge, daß die Deformierungen und Verletzungen an den Opfern sich fortsetzen könnte, in der ästhetischen Gestaltung des Grauens, das sich einer tröstend versöhnlichen Konnotation nie gänzlich zu entziehen vermag.“ Lenzen, Sprache und Schweigen nach Auschwitz, S. 193.

201 Müller, G.-L.: Das Kreuz in Auschwitz: Gedanken zum Martyrium von Edith Stein, in: Christliche Innerlichkeit 22 (1987) S. 173–178.

202 Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Publikationen des Autors. Es kann durchgängig aufgewiesen werden, was an den angeführten Belegstellen des Zeitraums von 1962–1997 ersichtlich ist.

203 Edith Stein und Johann Baptist Metz kommen auch darin über ein, dem Thema „Solidarität“ hohe Bedeutung zuzuschreiben. Vgl. dazu Robson, J.: Toward a spirituality of solidarity with Johann Baptist Metz and Edith Stein, in: Teresianum 65 (2014) S. 235–262.

204 Metz, J. B.: Theologie als Theodizee? in: Oelmüller, W. (Hg.): Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, S. 103–118, hier S. 104–105.

205 Eine verdichtete Übersicht über sein frühes Denken findet sich in einem Sammelband von Bauer: Metz, J. B.: Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie. in: Bauer, J. (Hg.): Entwürfe der Theologie, Graz 1985, S. 209–233, besonders S. 217–218.

206 „Im Zuge dieses Ausweichens entsteht ein Christentum – und ich sage das nicht denunziatorisch, sondern mit einem Anflug von Trauer und Ratlosigkeit – nach Art einer bürgerlichen Heimatreligion, die der Gefahr ledig ist, aber auch des Trostes.“ Ebd. S. 226.

207 Metz, J. B.: Kirche nach Auschwitz. Mit einem Anhang für anamnetische Kultur, Hamburg 1993. Metz spricht sich entgegen einer „Verblüffungsfestigkeit“ (ebd. 28) und mit „Scham über ein Beten mit Rücken zu Auschwitz“ (ebd. 8) dafür aus, die „Leidensgeschichte nicht idealistisch aufzuheben“ (ebd. 23).

208 Schuster, E./Boschert-Kimmig, R.: Trotzdem hoffen: Mit Johann Baptist Metz und Elie Wiesel im Gespräch, Mainz 1993, S. 17.

209 Metz, J. B.: Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie. in: Oelmüller, W. (Hg.): Worüber man nicht schweigen kann: Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1992, S. 107–160, hier S. 128–129.

210 Metz, J. B.: Im Eingedenken fremden Leids: Zu einer Brückenkategorie zwischen Theologie und Ethik, zwischen Religion und Moral, in: KatBl 122 1997, S. 78– 87, hier S. 82.

211 Metz, J. B.: Religion, ja – Gott, nein. in: Metz, J. B./Peters, T. R. (Hg.): Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg im Breisgau 1991, S. 14–67, hier S. 40.

212 „So kommt es unbedingt darauf an, den Primat der Leidensmoral einzuklagen. Schließlich steht im Zentrum christlicher Verkündigung eine memoria passionis.“ Metz, J. B.: Kirche in der Gotteskrise. in: Amery, C. (Hg.): Sind die Kirchen am Ende?, Regensburg 1995, S. 158–175, hier S. 168.

213 „Ich beginne mit einer Mutmaßung über das Wort gefährlich, das für mich in der Formulierung ‚gefährliche Erinnerung‘ zentral wurde. […] Es ist gefährlich, Jesus nahe zu sein, feuergefährlich, brandgefährlich. […] ‚Gefahr‘ ist offensichtlich eine Grundkategorie zur Wahrnehmung seines Lebens und seiner Botschaft und zur Bestimmung christlicher Identität.“ Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225.

214 Metz, J. B.: Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit, in: Oelmüller, W.: Worüber man nicht schweigen kann: Neuere Diskussionen der Theodizeefrage, München 1992, S. 107–160, hier S. 137.

215 Schuster/Boschert-Kimmig, Trotzdem hoffen, S. 46–47.

216 Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225 f.

217 Metz, J. B.: In der Spur des Lebens: von Johann Baptist Metz. in: Arnold Angenendt und Herbert Vorgrimler (Hg.): Sie wandern von Kraft zu Kraft: Aufbrüche, Wege, Begegnungen. Festgabe für Bischof Reinhard Lettmann, Kevelaer 1993, S. 292–299, hier S. 299.

218 Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225.

219 Das Gebet ist Metz zufolge eine ’„Sprache des Aufschreis“ (ebd. 18), eine „Leidens- und Hoffnungssprache“ (ebd. 15), eine „leidenschaftliche Rückfrage“ an Gott (ebd. 19), eine „Sprache leidvoll gespannter Erwartung, dass Gott an seinem Tag sich selbst rechtfertigen möge angesichts der dunklen Leidensgeschichte der Welt. Protest mischt sich in die zutrauliche Klage, und die Zärtlichkeit dieser Sprache verleugnet nicht ihre Trauer“ (ebd. 19). Metz, J. B.: Ermutigung zum Gebet, Freiburg 1977, S. 15–19.

220 Metz, Kirche in der Gotteskrise, S. 163–164.

221 Metz, J. B.: Voraussetzungen des Betens: Ein Gespräch mit Johann Baptist Metz, in: HerKorr 32 (1978) S. 125–133, hier S. 132.

222 Vgl. dazu auch Dienberg, Ihre Tränen sind wie Gebet, S. 89.

223 Metz, J. B.: Karl Rahners Ringen um die theologische Ehre des Menschen, in: Stimmen der Zeit 119 (1994, S. 384–392, hier S. 389.

224 ESGA 20, S. 42–44.

225 ESGA 19, S. 135–143.

226 ESGA 20, S. 187–189.

227 ESGA 20, S. 192–193.

Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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