Читать книгу Sturm und Drang - Christoph Jürgensen - Страница 7

Оглавление

Einleitung

„Entfernt von aller Wohnung, ja von allem betretenen Fußpfad“, erinnert sich Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit an eine fern zurückliegende ‚Jugendsünde‘, „fanden sie es hier ganz unverfänglich, die Kleider abzuwerfen und sich kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen; dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen [ … ]. “ ‚Sie‘, das sind die Brüder Stolberg, mit denen der europaweit berühmte Verfasser des Götz und der Leiden des jungen Werthers im Jahr 1775 eine Reise in die Schweiz unternahm, angetreten in ‚Werther-Tracht‘, in blauem Rock mit gelber Weste, gelben Hosen und runden grauen Hüten, um den Zwängen der Gesellschaft und unglücklichen Liebschaften zu entkommen. Und Goethe? „Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich im klaren See mit meinen Gesellen vereinte.“ Das ausgelassene Nacktbaden konnte allerdings nicht lange genossen werden, denn bald mussten sie „aus dem oberen stummen Gebüsch herab Steinwurf auf Steinwurf erfahren“. (HA, Bd. 10, S. 153f.)

Eine kleine, unbedeutend erscheinende Szenerie nur, und doch veranschaulicht sie, wofür die Protagonisten des Sturm und Drang standen, die in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 die deutsche Literatur ‚revolutionierten‘: Denn sichtbar wird in ihr zunächst die grundsätzliche Bedeutung des Freundschaftskults, das Bewusstsein für Gruppenbindungen, ohne die sich der Sturm und Drang nicht verstehen lässt. Zudem illustriert sie beispielhaft die Selbstdarstellung der Stürmer und Dränger als ‚Popstars‘ avant la lettre, als junge avantgardistische Autorengeneration, die gegen die Konventionen der Gesellschaft verstoßen, d.h. sich emanzipieren will von dem bürgerlichen Bändigungszwang und ihre Individualität bzw. ‚Natu r‘ ausleben will. Damit inszenieren sie sich hier, wenn man so will, als derjenige Künstler- und Menschentyp, von dem ihre Dramen und Gedichte immer wieder handeln: als ‚Kraft‘- oder ‚Originalgenies‘, die ihre Leidenschaften frei entfalten und von innen heraus leben können, die Ausdruck nicht der Kultur, sondern der Natur sind. Und bezeichnenderweise lebt sich die Natur der Stürmer und Dränger hier nicht in irgendeiner Landschaft aus, sondern in den erhabenen Gebirgen der Schweiz, die im 18. Jahrhundert, namentlich dank Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1732) und Salomon Gessners Idyllen (1756) geradezu zum „Natur-Park der Kultivierten“ (Adolf Muschg), zu einem neuen Arkadien avanciert war. Schließlich präsentiert die Szene mit Goethe die Zentralgestalt des Sturm und Drang. Goethe war zum einen verbindendes Glied der verschiedenen Autoren-Zirkel in Straßburg, Frankfurt und Darmstadt und er veröffentlichte zum anderen die sowohl zeitgenössisch resonanzträchtigsten als auch am nachhaltigsten wirkenden Texte der Strömung (wie den schon genannten Werther oder den Götz). Alles in allem hat er die literarische Öffentlichkeit seiner Zeit in einer Weise geprägt, dass sie in Literaturgeschichten häufig nach ihm benannt ist: als ‚Goethezeit‘. Ausgehen kann man übrigens davon, dass der Geheime Rat Goethe sich in der Erinnerung zwar, um im Bild zu bleiben, eher in die Kulisse als den Vordergrund der Bühne stellt, als würde er dem „dichterischen Tumult“ nüchtern zuschauen. Tatsächlich aber wird er mittendrin statt nur dabei gewesen sein, denn Friedrich Leopold Graf zu Stolberg erinnert ihn als einen „wilde [n], unbändige [n,] aber sehr gute[n] Jungen“. Außerdem war er ja trotz eines überlieferten Unbehagens an dieser Inszenierung der Identität von Leben und Werk wie seine Begleiter werbewirksam im Werther-Habit gereist und so offensichtlich maßgeblich und bewusst beteiligt an der Präsentation der Gruppe als ‚Junge Wilde‘ der Literatur.

Unsere Szene fängt den Sturm und Drang auf seinem ästhetischen wie konjunkturellen Höhepunkt ein, aber sie ist eine Momentaufnahme, sozusagen ein Schnappschuss aus dem ‚kurzen Sommer der Anarchie‘. Im wohl produktivsten Jahr 1776 erschienen noch einige poetisch hochrangige und thematisch innovative Dramen wie Lenz’ Die Soldaten, Klingers Die Zwillinge oder Wagners Die Kindermörderin, doch danach läuft die Strömung schnell aus – auch in Folge von Goethes Übersiedelung nach Weimar Ende 1775 und seinem Dienstantritt als Geheimer Legationsrat. Mit diesem Umzug bricht die bindende Gruppenkultur weg und die Versuche von Klinger und Lenz, ebenfalls in Weimar Fuß zu fassen, enden jeweils im Fiasko, im Zerwürfnis mit Goethe: Der Rollenwechsel Goethes vom autonomen Dichter zum dichtenden Staatsbeamten ließ ihn nicht länger an individuellen Dichterfreundschaften im Zeichen des Geniekults interessiert sein. Lenz, Gerstenberg und Maler Müller verstummen literarisch, Wagner stirbt früh an Lungentuberkulose und Schubart sitzt seit 1777 auf der Bergfestung Asperg in Haft. Kurzum: Wenige Jahre nach ihrem viel versprechenden Anfang ist die ‚Bewegung‘ schon wieder zu Ende.

War der Sturm und Drang also ein sehr kurzlebiges Phänomen, so ist damit nicht gesagt, dass er nur eine geringe Bedeutung für die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte hatte. Das Gegenteil ist der Fall: Mit ihm unternahm die deutsche Literatur gleichsam ihren Aufbruch in die Moderne. Nachhaltig gewirkt hat in diesem Sinne sowohl das neue Konzept von Autorschaft, das die ‚Stürmer und Dränger‘ propagierten, als auch das neue Verständnis von Natur, Gefühl und Sexualität sowie die Entdeckung der Nachtseite der Vernunft, die Aufwertung des Irrationalen, das die Aufklärung aus ihrem Menschenbild noch ausgeschlossen hatte. Und insgesamt nimmt der Sturm und Drang maßgeblich Teil an den gesellschaftlichen Umwälzungen in der ‚Sattelzeit‘ (Reinhart Koselleck), in der das gesellschaftliche wie politische Denken eine tiefgreifende Veränderung erfuhr und Begriffe wie Staat, Republik und Bürger ihre heutige Bedeutung aufgeprägt bekamen.

Das Buch will das Profil dieser literarischen Strömung in klar erkennbaren Umrissen nachzeichnen. Dazu ist eine Beschränkung auf eine Auswahl der wichtigsten Autoren und Werke notwendig, an denen sich die Eigenarten des Sturm und Drang exemplarisch verdeutlichen lassen. Ausgehend von einer kurzen Begriffsgeschichte sowie einer Skizze der sozial-, geistes- und literaturgeschichtlichen Rahmenbedingungen, in denen sich der Sturm und Drang entwickelte, sollen daher die zentralen Gattungen anhand der in Schule wie Studium immer wieder behandelten Texte erläutert werden. Die eigene Lektüre soll und kann durch diese Einführung natürlich nicht ersetzt werden, aber sie will das Verständnis durch den Hinweis auf zentrale Charakteristika, auf formale Strukturen und thematische Schwerpunkte des Sturm und Drang erleichtern.

Sturm und Drang

Подняться наверх