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Begriffsgeschichte, Gruppenbildungen und Literaturpolitik

Die beiden Einzelbegriffe ‚ Sturm‘ und ‚Drang‘ lassen sich schon seit Beginn der 1770er Jahre als Ausdruck der inneren wie äußeren Aufbruchsstimmung der jungen ‚Literaturrevolutionäre‘ nachweisen. Die Karriere der Formel ‚Sturm und Drang‘ begann aber erst mit einem Drama Friedrich Maximilian Klingers. Klinger hielt sich im Oktober 1776 in Weimar auf und arbeitete an einem Stück, das ursprünglich – übrigens durchaus seine Struktur treffend – Der Wirrwarr heißen sollte. Dann allerdings, erinnert sich Klinger in einem späten Brief an Goethe vom 26. Mai 1814, ‚drängte‘ der durchreisende Christoph Kaufmann (1753 – 1795) ihm den alternativen Titel Sturm und Drang geradezu „mit Gewalt“ auf – und die literarische Öffentlichkeit hatte nun ein Schlagwort für den ‚Kampf‘ um die richtige Lebens- und Schreibhaltung.

Eine kurze Begriffsgeschichte

Bezeichnend ist Heinrich Leopold Wagners Verteidigung seines ‚Verbündeten‘ Klinger kurz nach der wenig erfolgreichen Aufführung des Stücks in Frankfurt:

Wie heißt das Stück? Fragte fast jedermann, als es verwichnen Sonnabend angekündigt wurde: Sturm und Drang! – Sturm und – – ? Und Drang! Mit dem weichen D und hinten ein g; ja nicht mit dem harten T oder dem ck! So, so! Sturm und Drang also! – […] wenn sie beym Titel nichts fühlen, kann ihnen das Stück selbst unmöglich behagen. Ich finde es sehr lobenswürdig, daß er diese abstrakte, metaphysische – gewiß nicht zu viel anziehende – Ueberschrift |11◄ ►12| gewählt hat; […] wer die drey Worte anstaunt, als wären sie chinesisch oder malabarisch, der hat hier nichts zu erwarten, mag immerhin ein alltägliches Gericht sich auftischen lassen. (Heinrich Leopold Wagner: Briefe, die Seylerische Schauspielergesellschaft betreffend, 1777. Zit. nach Klinger 1970, S. 78).

Aber die Formel diente in der Folge, wie angedeutet, nicht nur zur apologetischen Auf-, sondern auch vielfach zur polemischen Abwertung des ‚literaturrevolutionären‘ Programms und seiner Autoren. Um nur zwei Beispiele aus der langen Reihe abschätziger Verwendungen herauszugreifen: So findet sich in Friedrich Traugott Hases Roman Geschichte eines Genies (1780) die spöttische, den Akzent vom Ästhetischen auf das Psychologische verschiebende Bemerkung über eine Protagonistin: „Es war daher so viel Sturm und Drang in ihr (und das mag ein mitleidenswürdiger Zustand seyn, denn wer bejammert nicht den Mann, der diese Verfassung der Seele öffentlich hat kund werden lassen?), daß sie im Grunde nicht wußte, was sie that.“ Wie ein triumphierender Abgesang auf die Strömung klingt dann die Notiz in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung vom 29. Juni 1781: „Die Steckenpferde der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs sind, Gottlob! jezt größtentheils von den Büchermachern so steif und lahm geritten, daß man selten mehr, als Knaben oder Kranke, damit auf die Leipziger Buchmesse traben sieht.“

Ablesen lässt sich diesen Belegen, dass die Wortverbindung ‚Sturm und Drang‘ bereits Ende der 1770er Jahre als Formel etabliert war, „mit deren Hilfe der Anspruch der jungen Sturm-und-Drang-Autoren auf Originalität und Genialität als ästhetisch inakzeptabel zurückgewiesen und psychologisierend als Entwicklungsstufe abgewertet wurde“ (Luserke, S. 33; dort finden sich weitere Belegstellen).

Als literaturgeschichtlicher Periodisierungsbegriff setzte sich die Formel allerdings erst später durch, und zwar erstens, weil die Autoren und ihre Zeitgenossen kein Bewusstsein davon hatten, eine zusammenhängende ‚Epoche‘ zu bilden, und zweitens, weil solche Periodisierungen grundsätzlich Ex-post-Konstruktionen sind, d.h.: Epochen sind theoretische Konstrukte der Literaturgeschichte, Ergebnis von Periodisierungshypothesen, und gerade keine Entitäten – es gibt eine Epoche nicht, wie es die Stadt Straßburg gibt. Um nur die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung in unserem Fall zu nennen: Die Umwidmung der Formel zu einer literarhistorischen Kategorie begann damit, dass August Wilhelm Schlegel im dritten Teil seiner Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 – 1804) die „herrlichen Anlagen“ von Maler Müllers Faust-Fragment lobte, aber monierte, dass diese Anlagen durch „die üblen Manieren der damaligen Sturm- und Drang-Periode entstellt |12◄ ►13| werden“. Mit mehr Sympathie blickt Ludwig Tieck dann in seinem Essay Goethe und seine Zeit (1828) auf diese „fast wunderbaren Jahre“ und bedauert, dass den „neueren Kritikern und Erzählern [ …] fast nur der stehende Beiname der Sturm- und Drangperiode im Gedächtniß geblieben“ sei. Und der endgültige Durchbruch der Formel zur literaturgeschichtlichen Epochenbezeichnung erfolgte dann 1869 mit Hermann Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, deren dritter Band Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur einen Abschnitt zur „Sturm- und Drangperiode“ aufweist.

Gruppenbildung und Literaturpolitik

Zwar besaß der Sturm und Drang kein Zentrum, mit dem er dauerhaft verbunden war, wie zuvor die Berliner oder Züricher Aufklärung oder später die Weimarer Klassik. Aber entscheidend für seine Entwicklung war die Bildung lockerer, jeweils nur kurz bestehender Zirkel gleichgesinnter Autoren in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen, die sich mündlich und brieflich über Literatur austauschten, gemeinsam auf Reisen gingen und vor allem gemeinsame ästhetische Positionen entwickelten und literarische bzw. literaturpolitische Feindschaften über die Stadtgrenzen hinaus pflegten. Etwas zugespitzt lässt sich die Bewegung daher geradezu als „Resultat einer Gruppenbildung“ (Sauder) bezeichnen. Aber warum waren diese Gruppenbildungen so wichtig für die Jungen Wilden, warum diese literarische Bündnispolitik? Prinzipiell lässt sich das literarische Feld mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu als „Kampfplatz“ verstehen, auf dem nach spezifischen Regeln darum gestritten wird, welches die ästhetischen und moralischen Kategorien zur Beurteilung von Literatur sind, und mehr noch: was überhaupt unter ‚Literatur‘ zu verstehen ist und wer die Definitionsmacht über diesen Begriff hat. Dementsprechend herrscht eine große Konkurrenz von Akteuren und Gruppen auf diesem Feld, die jeweils deutlich machen müssen, wie sich ihr Angebot von anderen Angeboten unterscheidet und warum es besser ist. Wie für jeden anderen Markt gilt auch für den Marktplatz Literatur, dass ein Angebot zunächst sichtbar gemacht, d.h. Aufmerksamkeit erregen muss, beispielsweise durch öffentlichkeitswirksame Gesten der Abgrenzung oder Überbietung.

Dementsprechend gehört es grundsätzlich zur Strukturlogik des literarischen Feldes, dass Schriftsteller sich und ihre Werke inszenieren müssen, um die Währung ‚Aufmerksamkeit‘ zu kassieren. In der zweiten |13◄ ►14| Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt dieser Inszenierungsdruck allerdings dadurch erheblich zu, dass sich die Strukturen der literarischen Öffentlichkeit auf die heutigen Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption von Literatur hin zu wandeln beginnen. Der Buchmarkt kapitalisiert sich, indem die Buchhändler vom wechselseitigen Tausch der Druckbögen zum Verkauf der Bögen gegen Geld übergehen. Zudem steigen Nachfrage und Angebot praktisch im Gleichschritt rasant an: Das Lesepublikum vergrößert sich sprunghaft, es lesen immer mehr Menschen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung – vor allem ‚Frauenzimmer‘, wie es damals hieß. Und nicht nur das Publikum, sondern auch die Lesehaltung verändert sich, von einer intensiven zu einer extensiven Lektüre. Statt wenige Bücher wie die Bibel oder religiöse Erbauungsschriften immer wieder zu lesen, ‚verschlingt‘ das neue Publikum immer neue Bücher. Folgerichtig zieht auch die Buchproduktion an, um dieses gesteigerte Bedürfnis nach neuem Lesestoff zu befriedigen. Allein im Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 verdoppelt sich die Zahl der Schriftsteller in Deutschland von ca. 3000 auf ca. 6000 und die Buchproduktion verzehnfacht sich im Zeitraum zwischen 1770 und 1800 sogar. Chancen wie Probleme dieser Entwicklung liegen auf der Hand: Einerseits wächst die Freiheit der Schriftsteller, ihr Handlungsspielraum, und es beginnt sich (langsam) eine freie, autonome Autorschaft im heutigen Sinne herauszubilden; andererseits wächst mit der Zahl der Anbieter von Literatur auch der Konkurrenzdruck enorm und damit die Notwendigkeit, sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und zu positionieren.

In dieser Umbruchsituation betritt die junge Autorengeneration also das literarische Feld. Dessen gewichtige Positionen sind vor allem von dem Autorenkartell der Aufklärung und Protagonisten wie Friedrich Nicolai (1733 – 1811) besetzt – und die Literaturrevolutionäre setzten quasi Kartellbildungen dagegen, um sich und ihre häretischen Programme gegen die orthodoxe Aufklärung resonanzträchtig in Stellung zu bringen.

Herders und Goethes „Secte“ in Straßburg

Zunächst formiert sich eine wichtige personelle Konstellation in Straßburg. Dort unterhielt der Aktuarius Johann Daniel Salzmann (1722 – 1812) ab 1770 eine Tischgesellschaft von Studenten, die rasch größere Aufmerksamkeit als die schon länger bestehende Straßburger „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ erregte und die literaturpolitische Meinungsführerschaft vor Ort übernahm. Bald wurde der Zirkel aber auch |14◄ ►15| über die Grenzen der Stadt hinaus in seinem Anspruch wahrgenommen, die literarische Avantgarde zu sein. Verantwortlich für diese Resonanzgewinne waren vor allem zwei ‚Neuzugänge‘: Zunächst trifft Goethe am 4. April 1770 in Straßburg ein, wo er sein Jurastudium fortsetzen wollte, stößt kurz danach zu dieser Tischgesellschaft und nimmt fortan teil an ihren Gesprächen über Kunst, Literatur und Studium und dem Vortrag eigener Texte sowie an gemeinsamen Reisen ins Elsass, nach Lothringen und Sesenheim – und auf Sesenheim werden wir zurückkommen, wenn es um die Lyrik des jungen Goethe geht, denn dort lernte er Friederike Brion kennen und erfand für sie die ‚Erlebnislyrik‘.

Institutionalisiert waren diese Zusammenkünfte nicht, sehr wohl aber ritualisiert und erkennbar auf die Bildung eines Gruppenbewusstseins gerichtet. So erinnert sich Goethe in Dichtung und Wahrheit: „Ohne die äußeren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten, stellten wir eine durch Umstände und guten Willen geschlossene Gesellschaft vor, die wohl mancher Andere zufällig berühren, aber sich nicht in dieselbe eindrängen konnte.“ (HA, Bd. 9, S. 373) Und aufgrund einer ‚natürlichen‘ Autorität, schildert Jung-Stilling in seiner Lebensgeschichte später seine Eindrücke von der Gruppenordnung, rückte Goethe schnell zur führenden Figur dieser geschlossenen Gesellschaft auf, hatte „die Regierung am Tisch“, „ohne daß er sie suchte“.

Am 5. September 1770 kommt dann allerdings eine noch größere Autorität nach Straßburg, die sich im Gegensatz zu Goethe und seinen Tischgenossen schon einige literarische Meriten erworben hat: Johann Gottfried Herder. Das Zusammentreffen zwischen Herder und Goethe ist immer wieder als ‚Geburtsstunde‘ des Sturm und Drang bezeichnet worden: Zwar wird das role model Herder nicht Mitglied der Tischgesellschaft, nimmt aber Kontakt zu deren Mitgliedern und vor allem zu Goethe auf, der ihn häufig besucht. Goethe selbst hat die Begegnung mit Herder als „das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte“ eingeordnet: In ihren Gesprächen wird der angehende Autor Goethe von dem älteren Herder viel kritisiert, gelegentlich durchaus sarkastisch, erhält aber auch Bestätigung für viele seiner ästhetischen Ansichten sowie durch den Hinweis auf die Volkspoesie und das Vorbild Shakespeare wesentliche Anregungen für sein Literaturverständnis. Diese erste Phase des Sturm und Drang im engeren Sinne dauert nur ein halbes Jahr, weil Herder schon im April 1771 wieder abreist. Sie wirkt aber als ästhetischer Impuls fort, sowohl in der Bewegung im Allgemeinen als auch in gemeinsamen Veröffentlichungen wie dem Aufsatzband Von deutscher Art und Kunst (1773) im Besonderen. Und diese Form der |15◄ ►16| Bündnispolitik ist durchaus wahrgenommen worden: So bemerkt beispielsweise Christian Heinrich Schmid (1746-1800) in Wielands Teutschem Merkur (1774): „Noch immer ertönen von allen Seiten die Klagen über die Secten, und Spaltungen, welche auf unserem Parnasse herrschten. “ – und stimmt dann in die Klagen ein, indem er der „Secte“ gut aufklärerisch ihre „Neuerungssucht“ vorwirft.

Bevor dann auch Goethe im August 1771 nach der abgeschlossenen Promotion zum Lizentiaten der Rechte aus Straßburg abreist, um in Frankfurt als Anwalt zu arbeiten, ergibt sich noch eine weitere Bekanntschaft, die sich entscheidend auf die weitere Entwicklung des Sturm und Drang auswirken sollte. Im Mai 1771 kommt nämlich Lenz nach Straßburg, schafft die Aufnahme in den inner circle bei Salzmann, wird in den Publikationsorganen der Zeit bald als erster Freund und Nachahmer Goethes bezeichnet und orientiert sich tatsächlich so stark an ihm, dass Daniel Schubart Lenz’ Drama Der Hofmeister im Augustheft 1774 seiner Deutschen Chronik für ein Werk „unsers Shakespears, des unsterblichen Dr. Göthe“ hält.

Im Gegensatz zu Goethe blieb Lenz mit kurzen Unterbrechungen bis 1776 in Straßburg und engagierte sich in der „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ (die im Jahr 1775 auf sein Betreiben hin in „Deutsche Gesellschaft“ umbenannt wurde), um für sich und andere deutsche Autoren ein breit wahrgenommenes Forum zu etablieren. Der Erfolg dieser literaturpolitischen Aktivitäten blieb allerdings mäßig, wie Lenz in einem Brief an Goethe eingestehen muss. Überhaupt blieb Straßburg zwar auch nach der Abreise der beiden ‚Sektenführer‘ Herder und Goethe gelegentlicher Treffpunkt der jungen Autoren und somit bedeutungsvoll für ihr Gruppenbewusstsein, wie eine Inschrift auf dem Turm des Straßburger Münsters bezeugt, auf der sich neben der Jahreszahl ‚1776‘ die Namen von 21 Autoren der jungen Generation finden, unter ihnen die Brüder Stolberg, Goethe, Lenz, Wagner, Schlosser, Herder und Lavater. Aber die Musik spielte mittlerweile längst anderswo: in Frankfurt, Darmstadt und Gießen.

Kooperation zwischen Frankfurt, Darmstadt und Gießen: Der legendäre Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen

Hatte Goethe in Straßburg noch die Rolle des ersten ‚Schülers‘ von Herder eingenommen, so bildete sich in Frankfurt ein literarischer Zirkel |16◄ ►17| mit dem Heimkehrer als unumstrittenem Mittelpunkt heraus. Über seinen Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck stellte sich überdies der Kontakt dieses Zirkels zu einer Gruppe empfindsamer Literaturfreunde in Darmstadt her, aus dem eine der resonanzträchtigsten literaturpolitischen Aktivitäten des Sturm und Drang resultierte: die Neugründung der Frankfurter gelehrten Anzeigen. Für ein Jahr, einen legendären ‚Jahrgang 1772‘ war dieses Publikationsorgan die literaturkritische Plattform, auf der sich die jungen Autoren präsentierten, d.h. ihr Programm artikulierten und Stellung bezogen gegen die Vertreter der Aufklärung, deren ästhetische Maßstäbe und deren Rezensionspraxis.

Herausgegeben von Merck und Johann Georg Schlosser, erschienen die Frankfurter gelehrten Anzeigen zweimal wöchentlich und publizierten im Jahr 1772 104 Artikel, 396 Rezensionen und 36 Nachrichten „eher persönlicher Art“ (Gerhard Sauder). Die Beiträger rekrutieren sich aus dem Darmstädter Kreis um Merck und Herder (dessen Verlobte und spätere Frau Caroline Flachsland zu den Darmstädter ‚Empfindsamen‘ gehörte), dem Frankfurter Kreis um Goethe und einem Gießener Kreis um Karl Friedrich Bahrdt (1741 – 1792), ergänzt um einige ‚auswärtige‘ unregelmäßige Mitarbeiter. Insgesamt sind ca. 40 Rezensenten beteiligt, wobei die meisten Beiträge von Goethe, Merck, Schlosser, Petersen und Herder verfasst wurden. Nicht in allen Fällen ist die Verfasserschaft allerdings eindeutig zu klären, weil die Werke gelegentlich zunächst von einem der Bündnispartner referiert und dann diskutiert wurden, bevor einem Protokollführer die Aufgabe zufiel, eine „Protokoll-Rezension“ anzufertigen.

Klar vernehmlich spricht sich der Gruppencharakter der Zeitschrift und ihre Opposition gegen das Interessenkartell der Aufklärung gleich in ihrer Ankündigung durch den Verleger aus:

Eine Gesellschaft Männer, die ohne alle Autorfesseln und Waffenträgerverbindungen im stillen bisher dem Zustand der Litteratur und des Geschmacks hiesiger Gegenden, als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich, um dafür zu sorgen, dass das Publikum von hieraus nicht mit unrichtigen, oder nachgesagten, oder von den Autorn selbst entworffenen Urtheilen getäuscht werde. (Zit. nach Frankfurter gelehrte Anzeigen, Neudruck Heilbronn 1883, S. XXXI).

Die erste Nummer der Zeitschrift vom 3. Januar 1772 wird dann von einer programmatisch zu verstehenden „Nachricht an das Publikum“ eingeleitet: Erfasst werden sollten „nur die gemeinnützigen Artikel in der Theologie, Jurisprudenz und Medizin“, das „Feld der Philosophie, der Geschichte, der schönen Wissenschaften und Künste“ hingegen „in seinem ganzen Umfange“. Außerdem sollte dafür gesorgt werden, dass dem |17◄ ►18| „Liebhaber der englischen Literatur [ …] kein einziger Artikel, der seiner Aufmerksamkeit würdig ist, entgehe“ (S. 3). Auf den ersten Blick mutet diese ‚Nachricht‘ nicht gerade ‚literatur-revolutionär‘ an, wie ein spektakulärer Neuanfang nach dem Bruch mit der Praxis aufklärerischer Literaturkritik. Neu war immerhin der Verzicht darauf, alle Neuerscheinungen besprechen zu wollen, wie es Anspruch des renommiertesten Konkurrenzunternehmens, des von Friedrich Nicolai herausgegebenen Rezensionsorgans Allgemeine deutsche Bibliothek war. Neu war auch die Bevorzugung englischer Literatur, die gegen den französischen Klassizismus ausgespielt wurde. Neu aber – bzw. neu in Gewichtung und Interpretation – waren vor allem die ästhetischen Hochwertbegriffe, die die Anzeigen zunehmend stärker exponierten: Genie, Gefühl und Natur. Gefeiert wurden etwa der „Blitzstrahl des Genies“ (S. 49) bei Klopstock oder Shakespeares Werke dafür, „fliegende Blätter aus dem großen Buche der Natur, Chroniken und Annalen des menschlichen Herzens“ (S. 144) zu sein. Und über den Einzelfall hinaus galt prinzipiell das poetologische Credo: „Die Dichtkunst und alle schönen Künste strömen aus den Empfindungen, sind nur den Empfindungen gewidmet und sollten nur durch sie beurteilt werden“, womit die Individualität zur zentralen Kategorie der Produktion und Rezeption des ‚Kunstschönen‘ aufgewertet war.

Und neu war schließlich der Stil, in dem diese Hochwertbegriffe in Szene gesetzt wurden: Denn während noch die 1760er Jahre von einer Form der Literaturkritik dominiert wurden, die vornehmlich über die Einhaltung der Regeln wachte und dem subjektiven Geschmack keinen Platz einräumte, urteilten die Autoren der Frankfurter gelehrten Anzeigen ihrer Poetologie entsprechend betont persönlich – und keineswegs immer zurückhaltend, sondern oftmals äußerst polemisch. Ein bezeichnendes Beispiel für den provokativen Gestus der Anzeigen bietet Goethes erster Beitrag zu dem Gemeinschaftsprojekt. In einer spöttischen Besprechung des zweiten Teils von Schummels Empfindsame Reise durch Deutschland (1772) schickt er den wenig originellen Verfasser ins „neue Arbeitshaus“, wo „alle unnützenden und schwatzenden Schriftsteller Morgenländische Radices raspeln, Varianten auslesen, Urkunden schaben“, denn: „Es ist alles unter der Kritik, und wir würden diese Maculatorbogen nur mit zwey Worten angezeigt haben, wenn es nicht Leute gäbe, die in ihrem zarten Gewissen glauben, man müsse ein solches junges Genie nicht ersticken.“ (S. 119) Und die Kritik mündet in die vernichtende Feststellung: „Endlich bekommt der Verf. S. 73 ein ganzes Bataillon Kopfschmerzen, weil er was erfinden soll; und wir und unsere Leser klagen schon lange darüber.“ (S. 121)

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Solche schonungslosen Angriffe sind typisch für den Jahrgang 1772 der Anzeigen, und sie sorgten dafür, dass die Zeitschrift erhebliche Aufmerksamkeitsgewinne in der ‚Gelehrtenrepublik‘ erzielte. ‚Naturgemäß‘ riefen Haltung wie Vehemenz der Beiträge dabei sowohl Widerspruch als auch Zustimmung hervor: Während von Seiten der Aufklärung die mangelnde Fairness der Rezensionen moniert und der Autorengruppe ein „Complot“ gegen Anstand und Religion unterstellt wurde, schrieb der berühmte Schweizer Physiognomiker Lavater (1741 – 1801) an Schlosser, er kenne keine andere kritische Instanz, deren „Verf. so viel Genie, Geschmack, Literatur, Freyheit, Witz und Empfindsamkeit hätten“. Und so resümiert Goethe in seiner „Nachrede statt der versprochenen Vorrede“:

Es ist wahr, es konnten einige Autoren sich über uns beklagen. Die billigste Kritik ist schon Ungerechtigkeit; jeder macht’s nach Vermögen und Kräften und findet sein Publikum, wie er einen Buchhändler gefunden hat. Wir hoffen, diese Herren werden damit sich trösten und die Unbilligkeit verschmerzen, über die sie sich beschweren. Unsre Mitbrüder an der kritischen Innung hatten außer dem Handwerksneid noch einige andere Ursachen, uns öffentlich anzuschreien und heimlich zu necken. Wir trieben das Handwerk ein bißchen freyer als sie und mit mehr Eifer. (S. 689)

Ein Jahr lang boten die Frankfurter gelehrten Anzeigen folglich ein Forum, auf dem die Prinzipien der Künstler- und Gefühlsautonomie kampflustig propagiert wurden. Die Anzeigen bestanden noch bis 1790, büßten ihre Bedeutung als fortlaufendes Manifest der Bewegung aber schnell wieder ein, weil das Autorenbündnis sich nach dem Jahr 1772 wieder auflöste. An langfristigen Kooperationen bestand offensichtlich kein Interesse.

Inszenierung als „Parnassum in nuce“: Der Göttinger Hain

Fast zeitgleich mit den Gruppenbildungen in Frankfurt und Darmstadt konstituierte sich in Göttingen eine weitere Verbindung junger Literaturinteressierter, die in den Umkreis des Sturm und Drang gehört. Organisatorischer Motor dieser Gruppe war der Jurastudent Heinrich Christian Boie (1744 – 1806), der schon im Januar 1772 feststellen konnte: „Wir bekommen nachgerade hier einen Parnassum in nuce. Es sind einige feine junge Köpfe da, die zum Teil auf gutem Wege sind. Ich suche |19◄ ►20| das Völkchen zu vereinigen.“ Inspiriert von Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain kommt es am 12. September 1772 dann zur feierlichen Gründung eines ‚heiligen‘ Bundes, der unter dem Namen ‚Göttinger Hain‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wenige Tage danach, am 20. September berichtet Johann Heinrich Voß seinem Freund Theodor Johann Brückner noch ganz beseelt von dem Ereignis:

Ach, den 12. September, mein liebster Freund, da hätten Sie hiersein sollen. Die beiden Millers, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem nahegelegenen Dorfe. Der Abend war außerordentlich heiter, und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch, und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns alle bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, – riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen des Bundes an, und versprachen uns ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die größte Aufrichtigkeit in unsern Urtheilen gegeneinander zu beobachten, und zu diesem Entzwecke die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feyerlicher zu halten.

Anschaulich wird schon in diesem Gründungsdokument die Selbstinszenierung der Gruppe als gleichermaßen empfindsamer und naturverbundener wie deutschnationaler Zirkel, der zwar klein ist, aber groß denkt. Zu diesem selbst ernannten ‚Parnassum in nuce‘ gehörten anfangs Johann Heinrich Voß (1751 – 1826), Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748 – 1776), Johann Friedrich Hahn (1753 – 1779) und Johann Martin Miller (1748 – 1776) sowie dessen Vetter Gottlob Dietrich Miller (1750 – 1818 ), Johann Thomas Ludwig Wehrs (1751 – 1811) und natürlich Boie. Wenig später traten u.a. noch die Brüder Stolberg, ihr Hofmeister Carl Christian Clausewitz (1734 – 1795) und Johann Anton Leisewitz (1752 – 1806) dem Bund bei. Gleichsam assoziiert war außerdem Gottfried August Bürger (1747 – 1794). Dieser ‚Club der angehenden Dichter‘ traf sich in der Folgezeit regelmäßig zu stark ritualisierten Zusammenkünften, deren Ablauf von heute aus betrachtet fast komisch wirkt, wie ein kindliches Spiel: Durch Losentscheid wurde zunächst jeweils ein Ältester bestimmt, dann wurden Werke vorgelesen und bewertet und die Ergebnisse der Diskussionen schließlich in einem ‚Bundesbuch‘ festgehalten. Die Mitglieder des Bundes firmierten während dieser Sitzungen allerdings nicht unter ihren bürgerlichen Namen, sondern unter erfundenen oder Klopstocks Oden entlehnten Bardennamen: Voß trat erst als Gottschalk|20◄ ►21| und später als Sangrich auf, Boie als Werdomar, Hölty als Haining usw. Auch diese Umbenennungen mögen nur spielerisch wirken, doch sind sie durchaus programmatisch zu verstehen: Denn in dem Rekurs auf die Helden der germanischen Vorzeit artikuliert sich die entschiedene Abgrenzung des Bundes gegen die zeitgenössische Verzärtelung des Geschmacks und seine Einschreibung in eine germanische Tradition. Der Wegbereiter dieser Bardenmode, genauer: einer zwar erfundenen, aber gleichwohl identitätsstiftenden germanischen Mythologie war der schon mehrfach erwähnte Klopstock. Die Verehrung der Hainbündler für den Sänger des Messias (dessen erste Teile 1748 erschienen) und vaterländischer ‚Bardieten‘ wie Hermanns Schlacht (1769) nahm beinahe kultische Züge an und fand ihren Gipfel im Februar 1774 mit einem euphorisch begrüßten Aufnahmeantrag Klopstocks und seinem Besuch in Göttingen. Dadurch beglaubigte das Idol öffentlichkeitswirksam die von den Hainbündlern behauptete Genealogie, d.h. ihre ‚Abstammung‘ vom ‚Vater‘ Klopstock. Und er tat dies sicher einerseits aufgrund poetologischer Gemeinsamkeiten, andererseits aber aus werkpolitischen Gründen. Denn Klopstock war der erste freie Berufsdichter, der materiell unabhängig zu leben versuchte, überall nach „Commissionären“ und „Collecteuren“ für seine Werke fahndete und für die Deutsche Gelehrtenrepublik (1774) zur Zeit seines Besuchs gerade ein Subskriptionsmodell entwarf – modern gesprochen ging es auch um Marketing, um den Absatz seiner Bücher. In der Ode an Johann Heinrich Voß (1786) bedankte sich Klopstock für die Unterstützung: „Dank unsern Dichtern! Da sich des Kritlers Ohr / Fern von des Urtheils Stolze, verhörte; / Verliessen sie mich nicht“.

Den Gegenpart zu Klopstock bildete Christoph Martin Wieland (1733 – 1813). Abgelehnt wurde er als frankophiler ‚Wollustsänger‘, sprich: als prominenter Protagonist der prinzipiell von den Bündlern inkriminierten Verzärtelung des Geschmacks. Die Vielzahl der Herabsetzungen Wielands lässt sich nachgerade als „Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland“ (Poitzsch) interpretieren, der seinen Kulminationspunkt in einem veritablen Autodafé fand: Am 2. Juli 1773, anlässlich des Geburtstages von Klopstock, verbrannten die Mitglieder des Hainbunds ein Porträt Wielands und sein Versepos Idris.

Nicht verwundern kann, dass der Bund zwar ‚auf ewig‘ gegründet war, aber nicht ewig hielt. Ihren künstlerischen wie literaturpolitischen Zenit erreichte die Gruppe mit der Veröffentlichung des Musenalmanach auf das Jahr 1774, der alle jungen Autoren von Rang und Namen versammelte: neben Hainbund-Mitgliedern wie Hölty, Voß und den beiden Grafen |21◄ ►22| Stolberg auch Goethe, Herder und Klopstock. Danach begann allerdings der zügige Abstieg. Der produktions- wie wirkungsästhetische Drive des Bundes verlor sich in Folge des Weggangs der Studenten aus Göttingen. Immerhin konnte Boie im Oktober 1776 mit Stolz und Recht konstatieren: „Welche Schritte hat die deutsche Poesie gemacht seit Entstehung der Almanache.“

Literatur

Franziska Herboth: Satiren des Sturm und Drang. Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002, S. 43 – 96

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Sturm und Drang

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