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Kapitel 1: Olympos – Telemachos und Athene
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Erzähle, Muse, vom weltgewandten Mann, der weit reiste und viel herumkam, nachdem er das berühmte Troja zerstört hatte. Viele Länder und Städte sah er, lernte deren Sitten und Gebräuche kennen; auf See geriet er in Not, versuchte sein Leben zu retten und seine Männer nach Hause zu bringen; doch was er auch tat, seinen Gefährten konnte er nicht helfen: Sie gingen durch eigene Dummheit zugrunde, denn sie frevelten und aßen von den Rindern des Helios. Deshalb verhinderte der Gott, dass sie den Tag ihrer Heimkehr erlebten. Erzähle auch uns davon, Göttin, Tochter des Zeus, und fang einfach irgendwo an...
Alle anderen Helden, die dem reißenden Strom des Untergangs entkommen waren, dem Krieg und dem Meer, waren schon glücklich zu Hause. Nur ihn, der krank war vor Verlangen nach seiner Frau und seiner Heimat, hielt eine Nymphe gefangen: Kalypso, die himmlisch hübsche Göttin. Als Mann wollte sie ihn haben, für immer, in ihrer geräumigen Grotte. Und viel, viel später, als im Reigen der Jahre das Jahr heraufzog, in dem die Götter ihn nach Ithaka heimkehren ließen, sollte er auch dort, mitten unter den Seinen, die Sorgen und Kämpfe nicht los sein.
Doch nun hatten die himmlischen Götter erst mal Erbarmen mit ihm, außer Poseidon, der nicht aufhören sollte, Odysseus mit seinem Hass zu verfolgen, bis der endgültig in sein Land heimgekehrt sein würde.
Im Moment aber war Poseidon fort, beinahe am Ende der Welt; er besuchte die Aithioper, ein Volk, das in zwei Landesteilen lebt; im einen geht die Sonne auf, im andern geht sie unter. Der Gott hatte dort ein Opfer von hundert Stieren und Schafen entgegenzunehmen. Während er es sich gutgehen ließ beim Festessen, versammelten sich die anderen Götter bei Zeus in den Hallen des Olympos.
Der Vater der Menschen und der Götter nahm das Wort; ihn beschäftigte immer noch der Fall des adligen Aigisthos, der gerade von Orestes, dem Sohn des Agamemnon, ermordet worden war. Und er plauderte ein wenig aus der hohen Schule: "Ach, wie gewöhnlich! Die Sterblichen beklagen sich wieder mal über uns. Für alle Übel wollen die Menschen den Göttern die Schuld in die Schuhe schieben! Dabei ist es doch meistens ihre eigene Dummheit und nicht das Schicksal, worunter sie leiden. Das beste Beispiel ist Aigisthos: Musste er sich unbedingt an die Frau des Agamemnon heranmachen, während der im Trojanischen Krieg kämpfte? War es etwa Schicksal, dass er den heimkehrenden Ehemann totschlug? Schließlich wusste er ganz genau, dass er sich damit den Tod einhandeln würde. Ich hatte extra Hermes zu ihm geschickt, um ihn zu warnen, nur ja nicht diesen Mann zu ermorden und seine Frau zu verführen. Sonst würde nämlich Orestes, der Sohn des Agamemnon, sobald er den Kinderschuhen entwuchs, in seine Heimat zurückkehren und sich für den Mord an seinem Vater rächen. Ausführlich und mit den besten Absichten hatte Hermes ihm das klar gemacht, doch Aigisthos hörte nicht auf ihn. Nun hat er für alles die Quittung bekommen."
Darauf sagte die Göttin mit den strahlenden Augen, Athene: "Vater, Sohn des Kronos und oberster Gebieter! Ganz klar, dass Aigisthos den Tod verdient hat, wie jeder Mensch ihn verdient, der solche Verbrechen begeht. Weit stärker aber rührt mein Herz die Notlage des gerissenen Odysseus, der schon seit längerem zutiefst unglücklich fern von seiner Heimat und seinen Lieben festsitzt, auf einer bewaldeten Insel inmitten der unendlichen Weiten des Meeres, auf der eine kleine Göttin das Sagen hat. Sie ist die Tochter des Atlas, des tückischen Unheilsgottes, dessen Reich der dunkle Meeresgrund ist und der allein die riesigen Säulen trägt, die Himmel und Erde voneinander trennen. Seine Tochter ist es, die den Unglücklichen bei sich festhält. Mit Zärtlichkeiten und Schmeicheleien versucht sie ihn zu bezaubern, damit er seine Heimat Ithaka vergisst. Doch nun wird er langsam lebensmüde dort und wünscht sich nichts sehnlicher, als noch einmal den Rauch aus seinem heimatlichen Herd aufsteigen zu sehen. Findest du das nicht auch rührend, Olympier? Und hat dich Odysseus nicht immer mit seinen heiligen Opfern erfreut, die er dir vor Troja darbrachte? Woher kommt denn dein Zorn auf ihn, Zeus?"
Und der Sohn des Kronos, der die Gewitterwolken auftürmt, antwortete Athene: "Ach, mein liebes Kind, was redest du für einen Unsinn. Wie könnte ich den großen Odysseus je vergessen, der gewitzter ist als die meisten Sterblichen und der größere Opfer darbrachte für uns unsterbliche Götter, die wir den weiten Himmel bewohnen. Nein, es ist allein Poseidon, der Erderschütterer, der ihn mit seinem Hass verfolgt. Er kann nicht verwinden, dass Odysseus dem mächtigsten und wildesten Kyklopen, Polyphemos, das Auge geraubt hat. Die Nymphe Thoosa, Tochter des Phorkys, des alten, stürmischen Meeresgottes, gebar ihn, nachdem sie in ihrer Grotte einmal mit Poseidon geschlafen hatte. Deshalb verfolgt Poseidon Odysseus. Aber er bringt ihn nicht einfach um, sondern quält ihn, indem er ihn gnadenlos über die ganze Erde jagt und verhindert, dass er heimkehrt ins Land seiner Väter. Doch lasst uns alle hier im Olympos nun beschließen, dass er endlich nach Hause kommt. Poseidons Wut wird sich schon legen. So mächtig ist er nun auch wieder nicht, dass er sich als einzelner gegen den Willen aller übrigen Götter durchsetzen könnte."
Mit leuchtenden Augen erwiderte Athene: "Vater, Sohn des Kronos und oberster Gebieter! Wenn die seligen Götter wirklich erlauben, dass der gescheite Odysseus heimkehrt, dann lasst uns gleich Hermes, den Boten und Argosbezwinger, auf die Insel Ogygia schicken. So schnell es geht, soll er der Nymphe mit den schönen Locken unsere unabänderliche Entscheidung ausrichten, den standhaften, aber unglücklichen Odysseus weiterziehen zu lassen. Und ich werde höchstpersönlich nach Ithaka gehen, um dort seinem Sohn ein bisschen Dampf zu machen. Ich werde ihn anfeuern, die freien Achaier, die ihr Haar selbstbewusst lang wachsen lassen, zur Ratsversammlung zusammenzurufen. In aller Öffentlichkeit soll er fordern, dass die Freier sein Haus verlassen, die andauernd arme Schäflein und wehrlose Rinder aus seinem Besitz schlachten. Darüber hinaus werde ich ihn nach Sparta und nach Pylos losschicken. Da kann er Erkundigungen über seinen vermissten Vater einholen und gleichzeitig Erfahrungen sammeln, was seinem Ansehen bei den Menschen nicht schaden wird."
Sogleich band Athene sich die göttlich schönen, goldenen Sandalen um die Füße, die sie wie der Wind über das Meer und die weite Erde tragen. Sie nahm ihren schweren Speer mit der scharfen, ehernen Spitze, mit dem sie in der Schlacht, wenn sie wütet, ganze Scharen von Helden vernichten kann, sie, die Tochter des mächtigen Vaters. Im Nu war sie von den Höhen des Olympos herabgestürmt in die Stadt Ithaka und vor den Palast des Odysseus. Mit dem schweren Speer in der Hand stand sie auf der Schwelle des Hofportals. Ihre Gestalt hatte sie verwandelt in die eines Freundes der Familie. Wer sie sah und sie sprechen hörte, musste sie für Mentes halten, den König der Taphier.
Nun hatte sie die Bescherung vor Augen, die ehrgeizigen, arroganten Verehrer der Hausherrin, die sich im Hof auf Rinderfellen lümmelten und sich beim Brettspiel amüsierten. Herolde und Diener wirbelten herum, vollauf beschäftigt, Wein mit Wasser anzusetzen im großen Mischkrug, Tische herbeizuschleppen und sauber zu wischen mit feinporigen Schwämmen. Im Hintergrund wurden bereits riesige Mengen Bratenfleisch kleingeschnitten.
Als Erster erblickte der jugendlich gut aussehende Telemachos Pallas Athene. Schlecht gelaunt saß er zwischen den fröhlichen Freiern, das Bild seines lieben Vaters vor Augen. Würde der jemals nach Hause kommen und die Freier aus dem Palast werfen? Sein Haus und die Macht zurückerobern? So saß er da und grübelte, als er Athene erblickte. Verärgert, dass ein Gast vor dem Tor warten musste, ging er selbst hin und begrüßte ihn mit Handschlag. Er nahm ihm den schweren Speer aus der Hand und sagte:
"Herzlich willkommen, Fremder, komm herein und stärke dich erst mal! Nach der Mahlzeit hoffen wir von dir zu erfahren, was dich herführt."
Er ging voran in den Palast, und Pallas Athene folgte ihm. Drinnen stellte Telemachos den schweren Speer in den glattgehobelten Kasten an einer der massiven Säulen, in dem eine Menge alter Speere lagerten, die dem leidgeprüften Odysseus gehörten. Dann führte er sie zu einem prächtigen Lehnstuhl, auf den er ein Leintuch legte. Er stellte ihr einen Schemel für die Füße hin und schob für sich selbst einen buntbemalten Stuhl heran. So würden sie etwas abseits von den Freiern sitzen, die mit ihrem lauten, angeberischen Getue jedem vernünftigen Menschen den Appetit verderben konnten. Telemachos wollte seinen Gast in Ruhe ausfragen, ob er Neuigkeiten über seinen Vater mitbringe, der einfach nicht heimkehrte.
Eine Magd brachte Wasser in einer prächtigen goldenen Kanne, ein silbernes Becken dazu für die Handwäsche, und sie schob ein blitzblank gescheuertes Tischlein heran; Und die treue Haushälterin stellte Brot darauf und wohlschmeckende Häppchen, von allem reichlich; Der Vorschneider servierte in Schalen verschiedene Sorten Fleisch, und der Herold lief wieder und wieder um die Tafel, ihre goldenen Pokale mit Wein aufzufüllen.
In diesem Moment kamen die Freier vom Hof in den Saal und ließen sich auf Stühlen und Sesseln nieder. Diener gossen Wasser über ihre Hände, haufenweise brachten Sklavinnen Brot in hübschen Körbchen, und randvoll gossen junge Männer die Krüge. Alle langten ordentlich zu. Als sie nach Herzenslust gegessen und getrunken hatten, musste es nach Meinung der Freier gleich weitergehen. Sie verlangten nach Musik, Gesang und Reigentanz, um das Mahl standesgemäß abzurunden. Also reichte der Herold die Kithara, ein überaus prächtiges Instrument, Phemios, dem begnadeten Sänger, der vor den Freiern aufspielen musste, ob er wollte oder nicht, denn er war ökonomisch abhängig von ihnen. Während er die Saiten schlug und gar schön sang, neigte sich Telemachos zur strahlenden Athene und sagte leise in ihr Ohr, so dass niemand sonst es hören konnte:
"Lieber Fremder, nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich mich aufrege. Diese Bande verlangt nach Musik und Gesang, bezahlen wollen sie jedoch nicht. Alles geht auf Rechnung eines anderen. Ach, und dessen bleiche Gebeine modern irgendwo auf dem Festland im Regen oder sie treiben in den Wogen auf hoher See. Ich garantiere dir, wenn die hier wüssten, dass er nach Ithaka zurückkäme, würden sie sich statt Reichtum und Unterhaltung lieber schnellere Füße wünschen. Doch ihn hat bestimmt längst ein böses Schicksal ereilt! Es besteht keinerlei Hoffnung mehr, obwohl es immer wieder Leute gibt, die behaupten, er komme noch zurück. Aber nun sag mir offen und ehrlich: Wer bist du und woher kommst du? Wo liegt die Stadt deiner Eltern? Mit welchem Schiff bist du gekommen, und warum steuerte es Ithaka an? Woher behaupteten die Seeleute zu kommen? Denn eines ist sicher, zu Fuß bist du nicht hergekommen. Weiter möchte ich gern wissen, ob du zum ersten Mal hier bist oder ob du vielleicht früher einmal Gast meines Vaters warst. Es waren ja in diesem Haus schon viele Fremde zu Gast, denn mein Vater liebte Gesellschaft."
Darauf sagte Athene, die Göttin mit den strahlenden Augen: "Ich werde dir alles offen und ehrlich erzählen. Mein Name ist Mentes, Sohn des Anchialos. Ich bin König der Taphier, deren Leidenschaft das Rudern ist. Ich kam mit eigenem Schiff und eigener Mannschaft hier vorbei auf dem Weg nach Temesa, wo die Menschen eine andere Sprache sprechen; dort will ich erstklassiges Erz gegen Kupfer tauschen. Mein Schiff liegt fernab der Stadt in der Bucht von Rheithron, am Fuß des bewaldeten Neïon. Ich bin seit ewigen Zeiten mit deiner Familie befreundet, schon unsere Väter waren Freunde, frag ruhig den alten Helden Laertes danach. Aber ich hörte, dass der zur Zeit gar nicht mehr in die Stadt geht und auf seinem Landgut versauert, umsorgt von einer einzigen alten Sklavin, die ihm Essen und Trinken vorsetzt, wenn er sich, müde von der Arbeit in den ausgedehnten Weinbergen, nach Hause geschleppt hat.
Ich bin eigentlich vorbeigekommen, weil es hieß, dein Vater sei zurückgekehrt. Doch anscheinend halten ihn die Götter noch hin auf seinem Weg. Denn es ist nicht wahr, dass Odysseus tot ist. Er sitzt nur fest, und zwar auf einer Insel mitten im weiten Meer, wo irgendwelche unerzogenen wilden Männer ihn nicht wegfahren lassen, sosehr er es auch wünscht. Ich bin zwar kein Hellseher und kenne mich auch mit Vogelorakeln nicht aus, aber ich verrate dir etwas, was die Götter höchstpersönlich mir offenbart haben und was sich auch bewahrheiten wird: Nicht mehr lange wird er sich fern vom geliebten Land seiner Väter aufhalten, selbst wenn er in eisernen Fesseln läge. Er wird es schaffen, nach Hause zu kommen, denn er kennt sich aus in der Welt und ist äußerst gerissen.
Aber nun sag du mir ebenso offen und ehrlich: Bist du wirklich der leibliche Sohn des Odysseus? So erwachsen bist du schon? Du siehst ihm ähnlich, außerordentlich ähnlich sogar, besonders was deinen Kopf und deine schönen Augen betrifft! Ich war ja früher häufig mit deinem Vater zusammen, bevor er dann nach Troja zog, damals, als auch die anderen griechischen Helden, die besten der Argeier, auf ihren geräumigen Schiffen fortsegelten in den Krieg. Seitdem habe ich für meine Person Odysseus nicht mehr gesehen, genauso wenig wie er mich natürlich."
Darauf antwortete ihr der bedächtige Telemachos, von den Früchten tiefen Nachdenkens zehrend: "Alles werde ich dir offen und ehrlich beantworten, mein Freund. Ja, meine Mutter sagt, Odysseus sei mein Vater. Ich selbst weiß es nicht, denn ich habe dabei nicht zugesehen. Niemand ist sich ja seines Erzeugers ganz sicher. Eigentlich wäre ich lieber der Sohn eines Mannes, der Glück hat im Leben, der seinen Reichtum genießen kann und darüber in Würde alt wird. Stattdessen bin ich, wie jeder weiß, der Sohn des Mannes, der unter allen Sterblichen am schwersten geprüft wurde. So, du wolltest es ja unbedingt ganz genau wissen."
Die Göttin mit den strahlenden Augen, Athene, erwiderte lächelnd: "Nun, die Götter haben dir eben keine problemlose Herkunft gegönnt! Doch sie wollen die Sippe erhalten, der Penelopeia solch einen tüchtigen Sohn gebar. Aber noch etwas muss ich dich fragen, und antworte bitte offen und ehrlich. Was bedeutet dieses Festessen, dieser Trubel? Gibt es etwas zu feiern, eine Hochzeit vielleicht? Es sieht nämlich nicht so aus, als träfen sich nur ein paar Freunde zum Essen. Auch scheinen mir deine Gäste das Maul ziemlich weit aufzureißen und ein wenig über die Stränge zu schlagen! Käme ein vernünftiger Mensch in diese übermütige Gesellschaft, er wäre entsetzt!"
Bedächtig erwiderte Telemachos: "Danke, dass du mich auch danach fragst, lieber Gast. Dieses Haus war früher eine erstklassige Adresse, reich, gut geführt und anständig. Solange Odysseus noch hier war! Doch dann haben die Götter es sich anders überlegt und beschlossen, Unheil zu schicken. Ausgerechnet ihn unter allen Menschen ließen sie spurlos verschwinden! Mir ginge es besser, wenn ich wenigstens sicher wüsste, dass er tot ist, gefallen in Troja zum Beispiel; oder dass er den Krieg überstand, aber später irgendwo in den Armen seiner Gefährten starb. Zumindest hätte man ihm dann einen Grabhügel errichtet, und ich könnte von seinem großartigen Ruhm profitieren. Doch leider rafften ihn die Harpyien, die Schicksalsgöttinnen, ruhmlos dahin; er verschwand spurlos und hinterließ mir nichts als Kummer und Probleme. Jetzt habe ich nicht nur seinen Tod zu beklagen, nein, die Unsterblichen im Himmel gaben mir noch eins drauf. Sämtliche Fürsten aus Doulichion, aus Same und aus Zakynthos, wo es viel Wald gibt, inklusive der gesamten Hautevolee unseres felsigen Ithakas, kurz: jeder, der ein bisschen Einfluss und Vermögen hat, steht als Freier auf der Matte und will meine Mutter besitzen. Und während sie hier Schlange stehen, geht mein gesamtes Vermögen den Bach runter. Einerseits graut meiner Mutter vor der Wiederheirat, andererseits will sie sich nicht alle Chancen verbauen. Die Essgelage gehen immer auf Kosten des Hauses, und am Ende werden die Freier noch mich schlachten."
Empört sagte darauf die Göttin Pallas Athene: "Das gibt es doch nicht! Hier fehlt wirklich die Hand eines Mannes wie Odysseus, der den dreisten Freiern ihre Grenzen zeigen könnte. Das wäre etwas, wenn er jetzt in der Tür stünde, mit Helm und Schild, in jeder Hand einen Speer, kraftstrotzend, wie ich ihn kennenlernte, als er in meinem Palast auftauchte und gut gelaunt mit uns trank. Er kam mit seinem schnellen Schiff aus der Stadt Ephyra, wo er Ilos, den Sohn des merkwürdigen Mermeros, aufgesucht hatte, um Gift für seine Pfeilspitzen zu kaufen. Ilos gab ihm keins, aus Angst vor Strafen seitens der Götter. Doch von meinem Vater hat er das Gift dann bekommen, der schätzte Odysseus nämlich über alles. In dieser starken Form müsste Odysseus jetzt auftauchen! Die Freier könnten dann sofort Hochzeit feiern, eine Hochzeit mit dem Tod allerdings! Aber es liegt in den Händen der Götter, ob er in seinen Palast zurückkehrt und Rache nimmt an den Freiern oder nicht.
Deshalb solltest du dir auch selbst überlegen, wie du die Freier aus dem Haus schaffst. Ich rate dir folgendes, und schreib es dir gut hinter die Ohren: Berufe morgen alle freien Achaier auf dem Marktplatz zur Versammlung ein. Mach die Sache öffentlich und rufe die Götter als Zeugen an. Fordere, dass die Freier dahin abziehen, wo sie hergekommen sind. Wenn deine Mutter sich partout ein zweites Mal verheiraten will, soll sie ins Haus ihres Vaters zurückgehen und die Heirat von dort betreiben. Da kann jeder, wie es sich gehört, anklopfen und um sie freien. Allerdings muss er dann auch wertvolle Brautgeschenke vorweisen, wie sie einer Tochter aus höherem Hause zustehen.
Und noch einen Rat will ich dir geben. Nimm das beste Schiff, das du kriegen kannst, bemanne es mit zwanzig Ruderern und mach dich auf die Reise! Du musst herausfinden, warum dein Vater nicht heimkommt. Vielleicht hörst du von einem Sterblichen etwas, oder Zeus gibt dir ein Zeichen, denn manchmal offenbart er sich in der Tat den Menschen. Fahr zuerst nach Pylos und frage den alten Nestor aus; von da weiter zum blonden Menelaos, dem spartanischen Helden, der als letzter der erzgepanzerten Achaier aus dem Krieg zurückkam. Erfährst du, dass dein Vater lebt und auf dem Heimweg ist, dann halte ein weiteres Jahr durch, auch wenn es dir noch so schwerfallen sollte. Hörst du aber, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt, dann errichte ihm ein Grabmal und lege ihm reichlich Grabgaben hinein, wie es die Sitte verlangt. Und deine Mutter kann dann einem anderen Mann gehören. Hast du das alles hinter dich gebracht, so geh in dich und verschaff dir mit Herz und Hirn Klarheit darüber, wie du die Freier aus dem Saal hinaus und ins Grab beförderst, ob mit List oder im offenen Kampf.
Auf keinen Fall kannst du weiter so tun, als ob du ein Kind wärst, aus dem Alter bist du langsam heraus. Kennst du nicht die Geschichte vom edlen Orestes? Weißt du nicht, welch hohes Ansehen er sich auf der ganzen Welt erworben hat, indem er Aigisthos erschlug, den hinterlistigen Mörder seines Vaters? Auch du, mein Lieber, bist doch, wie ich sehe, groß und gutaussehend! Also tu etwas für deinen Ruf, damit spätere Geschlechter noch gut von dir sprechen! Aber ich muss jetzt leider weg, zu meinem Schiff und meinen Männern, die bestimmt schon ungeduldig auf mich warten. Denk an das, was ich gesagt habe, und nimm deine Angelegenheiten selbst in die Hand."
Der bedächtige Telemachos gab ihr zur Antwort: "Lieber Gast, du bist so warmherzig und nett zu mir; wie ein Vater zum Sohn hast du gesprochen. Ich werde deinen freundlichen Rat nicht vergessen. Bleib doch noch ein wenig, obwohl du es eilig hast. Nimm ein Bad, entspanne dich und lass dir ein Geschenk mitgeben! Hinterher kannst du zu deinem Frachtschiff gehen und in bester Laune deine Reise fortsetzen. Ich möchte dir gern ein schönes, wertvolles Stück als Andenken verehren, wie es nur Freunde aus Freundschaft schenken."
Doch die Göttin mit den strahlenden Augen sagte: "Ich bitte dich, halte mich nicht auf, ich möchte lieber gleich los. Das Geschenk, das du mir so freundlich anbietest, kannst du mir ja geben, wenn ich auf der Rückfahrt noch mal vorbeikomme. Such etwas Schönes aus, ich werde mich dann mit etwas genauso Wertvollem revanchieren."
Mit diesen Worten verschwand die strahlende Athene. Wie ein Vogel, der sich in die Lüfte hebt, entschwebte sie in den Himmel. Sie ließ Telemachos mit frischem Mut und neuem Elan zurück; auch dachte er wieder intensiver an seinen Vater. Verwundert spürte er die Veränderung in sich und rätselte, ob womöglich ein Gott die Ursache war. Dann trat er vor die Freier und sah selbst aus wie ein Gott. Die waren ausnahmsweise still, denn sie lauschten noch immer dem Lied des berühmten Sängers. Er sang von der leidvollen Heimfahrt der griechischen Helden aus Troja, die Pallas den Achaiern auferlegt hatte.
Im oberen Stockwerk vernahm Penelopeia die herrlichen Klänge, die Tochter des Ikarios, die umsichtige, kluge Frau. Sie verließ ihre Gemächer und kam die große Treppe herunter, natürlich nicht allein, sondern begleitet von zwei ihrer weiblichen Bediensteten. Als sie ins Blickfeld der Freier trat, die Herrliche unter den Frauen, blieb sie an einer Säule des massiv gebauten, großen Saals stehen und verhüllte ihre Wangen mit einem feinen, schimmernden Schleier, und links und rechts von ihr stellten sich die beiden treuen Mägde auf. Mit Tränen in den Augen sprach sie den göttlichen Sänger an:
"Phemios, du beherrschst doch eine Menge von bezaubernden Liedern. Es gibt doch wirklich andere Taten der Menschen und der Götter, die ein Sänger genauso gut besingen kann. Sing darüber, und alle in der Runde werden genauso zuhören und still ihren Wein trinken. Aber hör bitte auf mit diesem grausamen Lied! Jedes Mal, wenn ich es höre, bricht mir schier das Herz in der Brust. Ich bin die Hauptbetroffene, ich traure ohne Ende und sehne mich schrecklich nach diesem unvergesslichen Mann, der berühmt ist in ganz Hellas und erst recht in Argos."
Doch da schaltete sich der nicht auf den Kopf gefallene Telemachos ein: "Mutter, was redest du dem Sänger rein, der uns nur unterhält, wie es sein Herz ihm eingibt? Man kann doch nicht einen Künstler für Dinge verantwortlich machen, an denen Zeus schuld ist, der mit den Erdenwürmern umspringt, wie es ihm gerade gefällt. Also beschimpf ihn nicht, wenn er vom Unglück der Danaer singt. Denn normalerweise mögen es die Zuhörer besonders gern, wenn in einem Lied von aktuellen Geschehnissen berichtet wird. Du solltest vielmehr so viel Realitätssinn aufbringen, dir das anzuhören. Außerdem ist Odysseus nicht der einzige, der von Troja nicht heimgekehrt ist; eine Menge Männer sind dort gefallen. Kümmere dich besser um deine eigenen Angelegenheiten, das Spinnrad und den Webstuhl, und befiehl deinen Dienerinnen, was sie arbeiten sollen. Das Reden überlass den Männern, ganz allgemein. Aber insbesondere mir, denn ich habe hier im Haus das Sagen."
Verblüfft über die plötzlich feurige Eloquenz ihres sonst so bedächtigen Sohnes, zog sich Penelopeia in ihre Gemächer zurück, denn sie spürte, dass es ihm verdammt ernst war. Als sie oben bei ihren weiblichen Bediensteten war, weinte sie um Odysseus, den geliebten Gatten, bis die strahlende Göttin Athene ihr süßen Schlummer über die Augen goss.
Unten im dunklen Saal wurde es dagegen laut, die Freier johlten, denn alle stellten sich vor, mit ihr das Lager der Liebe zu teilen. Doch einmal in Schwung geraten, ergriff Telemachos wieder das Wort:
"Freier meiner Mutter, ihr übermütigen Schandmäuler, etwas mehr Beherrschung und etwas weniger Leidenschaft bitte! Genießen wir lieber die Freuden eines guten Essens! Regt euch wieder ab! Es hat doch auch etwas, einem begnadeten Sänger wie Phemios zuzuhören. Seine Stimme klingt, als sänge ein Gott höchstpersönlich. Und übrigens: Morgen treffen wir uns alle auf dem Markt, ich will die Ratsversammlung einberufen, um euch öffentlich aufzufordern, mein Haus zu verlassen. Nehmt eure Mahlzeiten in Zukunft woanders zu euch! Es gibt genug Häuser ringsum, und ihr könntet zur Abwechslung auch mal aus eigener Tasche zahlen. Wenn ihr aber unbedingt der Meinung seid, es sei vorteilhafter, die Güter eines einzigen zu schröpfen, ohne irgendeinen Gegenwert zu geben, dann macht ruhig weiter so, verprasst alles! Aber ich werde die ewigen Götter anrufen, und Zeus wird es schon richten, dass er euch alles heimzahlt. Hier im Haus werdet ihr büßen, nicht mit Geld, sondern mit eurem Untergang!"
Da bissen sie die Lippen zusammen und staunten nicht schlecht, dass Telemachos derart kämpferische Reden schwang. Antinoos, Sohn des Eupeithes, bekam den Mund als erster wieder auf: "Unglaublich, dieser Telemachos, nicht zu fassen! Du hast anscheinend ein paar Nachhilfestunden von den Göttern erhalten in hochfahrender Rhetorik und polemischem Marktgeschrei! Nicht, dass dich am Ende der Kronide noch zum König des meerumrauschten Ithaka macht, was dir als Erbe ja zustünde."
Darauf antwortete ihm Telemachos, von den Früchten tiefen Nachdenkens zehrend: "Auf die Gefahr hin, Antinoos, dich noch mehr aufzubringen: Ja, genau das möchte ich eventuell werden, sofern Zeus es zulässt. Bist du denn der Meinung, König zu sein sei das Übelste, was einem Menschen zustoßen kann? Ganz im Gegenteil; im Nu ist das Haus eines Königs voller Reichtümer, dazu kommen noch Prestige und Ehrungen. Nun, es gibt sicher außer mir eine ganze Reihe von adligen Achaiern hier auf der Insel, jüngere wie ältere, und nur einer von ihnen kann herrschen, wenn Odysseus tot ist. Ich bleibe aber zumindest Herr unserer Sklaven und des Besitzes, den der große Odysseus sich nun einmal angeeignet hat."
Darauf meldete sich Eurymachos, der Sohn des Polybos, zu Wort: "Du hast recht, Telemachos, die Entscheidung, wer von den Fürsten der Achaier König von Ithaka wird, liegt noch im Schoß der Götter. Immerhin behältst du deinen Besitz und kannst Herrscher sein in deinem eigenen Haus. Es wäre ja noch schöner, wenn jemand käme und dir alles gewaltsam rauben würde; das wäre ja etwas ganz Neues auf Ithaka, das hätte die Insel noch nicht gesehen!
Aber sag mir, Verehrtester, wer war der Fremde vorhin? Aus welchem Teil der Erde kam er? Wo ist er zu Hause, von wem stammt er ab? Hatte er vielleicht Neuigkeiten über die Rückkehr deines Vaters? Oder war er geschäftlich hier auf Ithaka? Er hatte es ja sehr eilig; er war weg, bevor wir ihn kennenlernen konnten. Schade, nach seinem Gesicht zu urteilen, schien er kein uninteressanter Zeitgenosse zu sein."
Geistesgegenwärtig erwiderte der bedächtige Telemachos: "Nein, Eurymachos, ich mache mir keine Hoffnungen mehr auf die Rückkehr meines Vaters, und auf Gerüchte gebe ich schon gar nichts, egal, woher sie kommen. Ebenso halte ich nichts von Götterzeichen oder Orakeln, wie es meine Mutter tut, die sich Seher ins Haus kommen lässt, um etwas zu erfahren. Ja, und der Fremde? Er sagte, er sei Mentes, ein alter Freund meines Vaters aus Taphos, Sohn des weisen Anchialos und König der Taphier, deren Leidenschaft das Rudern ist." Das sagte Telemachos, der klug seinen Verdacht für sich behielt, dass es die unsterbliche Göttin gewesen sein könnte.
Die Freier wandten sich wieder ergreifenden Liedern und dem Tanz zu und amüsierten sich, bis es Abend wurde. Und sie amüsierten sich immer noch, als schon nachtschwarze Schatten sich über das heitere Treiben legten. Dann gingen sie endlich schlafen, ein jeder in sein eigenes Haus.
Auch Telemachos ging auf den Hof und in den Garten, wo ein separates Häuschen für ihn gebaut worden war. Sein Kopf war voller Sorgen. Neben ihm ging die alte Sklavin Eurykleia, die Tochter von Ops, der wiederum Peisenor zum Vater hatte. Sie leuchtete ihm auf dem Weg mit einer Fackel; wie immer sorgte sie sich rührend um ihn. Laertes hatte sie einst gekauft, als sie noch blühend und jung war, zwanzig seiner kostbaren Rinder hatte er für sie bezahlt, denn er hatte sie ins Herz geschlossen. Wie seine eigene Frau hatte er sie behandelt in seinem Palast, schlief aber nie mit ihr, aus Angst vor dem Zorn seiner rechtmäßigen Gattin. Sie also war es, die neben Telemachos ging und ihm mit der Fackel leuchtete, denn von allen Slavinnen liebte sie ihn am meisten. Sie hatte ihn schon versorgt, als er noch ein Säugling war.
Telemachos öffnete die Tür seines soliden Häuschens, setzte sich auf das Bett, zog seine feinen Kleider aus und gab sie der treusorgenden Greisin in die Hand. Die strich das teure Tuch glatt und hängte es an einen Pfosten neben die schön geschnittene Bettstatt. Dann ging sie hinaus, zog die Tür mit einem silbernen Türring hinter sich zu und verriegelte das Schloss mit einem Lederriemchen. Da lag er unter seinen wollenen Decken und dachte die ganze Nacht über die Reise nach, zu der Athene ihm geraten hatte.