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Kapitel 4: Telemachos bei Menelaos

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Durch die tiefen Schluchten Lakedaimons fuhren sie, bis sie zum Palast des berühmten Menelaos kamen. Sie trafen ihn dabei an, wie er gerade im Kreise seiner ausgedehnten Verwandtschaft beim Hochzeitsessen saß. Sein Sohn heiratete, und, in einem Aufwasch, auch seine hochwohlgeborene Tochter. Sie gab er dem Sohn des männerzermalmenden Achilleus zur Frau, dem er schon in Troja feierlich versprochen hatte, dass er sie bekommen würde. Nun endlich erlaubten die Götter die Vermählung der beiden. Auf einem Pferdegespann ließ er sie in die berühmte Stadt des Herrschers der Myrmidonen bringen. Und seinem Sohn Megapenthes gab er die Tochter Alektors zur Frau. Dieser kräftige Nachkomme war ihm, im hohen Alter, von einer Sklavin geboren worden; denn Helena ließen die Götter nicht mehr gebären, nachdem sie Hermione bekommen hatte, ihr innig geliebtes Kind, das schön war wie die goldene Aphrodite. Sämtliche Verwandten und Nachbarn saßen da im hoch gebauten Haus des weltberühmten Menelaos beim Schmaus und amüsierten sich königlich. Göttlich sang ein Sänger und spielte die Leier, und zwei Gaukler wirbelten und turnten zwischen den Tischen, wenn er Tanzweisen intonierte.

In diesem Moment hielten die beiden, Telemachos und neben ihm der stattliche Sohn des Nestor - und natürlich auch die beiden schnellen Pferde -, am Hoftor. Eteoneus, der alerte Diener des weltberühmten Menelaos, war gerade herausgetreten und sah sie als erster. Er ging sofort wieder ins Haus, eilte zum König, trat vor ihn hin und sagte aufgeregt:

"Fremde sind draußen, o göttlicher Menelaos, zwei Männer, so stattlich und schön, als stammten sie von Zeus persönlich ab. Sag, sollen wir ihnen die Rosse ausspannen oder schicken wir sie weiter, damit jemand anderes sie als Gäste aufnimmt?"

Unwirsch erwiderte der blonde Menelaos: "Du warst früher eigentlich nicht ganz so blöd, Sohn des Boëthoos; doch jetzt steigerst du dich rapide. Du plapperst wie ein dummer, kleiner Junge. Zigmal mussten wir auf unserer Heimfahrt bangen, ob Zeus uns noch ein weiteres Mal aus einer Notlage rettet und immer sind wir von irgendwelchen Menschen als Gäste versorgt und aufgenommen worden. Also nimm den Pferden der Fremden sofort das Zaumzeug ab und lade die Männer zum Essen ein."

Eteoneus verließ den Saal rasch wieder und erschien mit einer ganzen Reihe von Dienern auf dem Hof. Sie nahmen den nassgeschwitzten Pferden das Joch vom Rücken, banden sie an den Pferdekrippen fest und warfen ihnen Häcksel hinein, untermischt mit weißem Gerstenmehl. Den Wagen schoben sie an eine Wand an der Vorderseite. Und die Gäste führten sie in den atemberaubend prächtigen Palast des Königs Menelaos.

Die beiden staunten nicht schlecht, als sie ihn von innen sahen. Über allem lag ein Glanz, bis hoch unter die Decke, als schienen Sonne und Mond zugleich in die Behausung des Götterkindes, des weltberühmten Atriden. Und als ihre Augen satt waren vom Sehen und Staunen, wurden sie ins Bad geführt. Sie stiegen in weiße, vollkommen glatte Wannen und ließen sich von den Dienerinnen waschen, salben und ankleiden. Dann gingen sie in den Saal und setzten sich neben Menelaos, den Sohn des Atreus. Und eine Magd brachte sogleich Wasser in einer prächtigen, goldenen Kanne, ein silbernes Becken dazu für die Handwäsche, und sie schob ein blitzblank gescheuertes Tischlein heran; und eine treue Haushälterin stellte Brot darauf und wohlschmeckende Häppchen, von allem reichlich; und der Vorschneider servierte in Schalen verschiedene Sorten Fleisch, reichte sie herum und stellte goldene Pokale vor sie hin. Und der blonde Menelaos begrüßte sie mit den Worten:

"Nehmt erstmal und lasst es euch schmecken. Wenn ihr euch satt gegessen habt, will ich wissen, wer ihr seid; dem Anschein nach nicht von niederer Herkunft, eher Söhne aus einem Geschlecht von Königen, die von Zeus erzeugt wurden, um ein Zepter zu tragen. Solche Söhne zeugen die unteren Schichten nicht." Er bot ihnen persönlich ausgesuchte Stücke Rinderrücken an, die man eigentlich für ihn reserviert hatte. Und sie langten ordentlich zu.

Als sie genug gegessen und getrunken hatten, beugte sich Telemachos zum Ohr des Sohns von Nestor und sagte leise, so dass niemand sonst ihn hören konnte: "Schau nur mal, Peisistratos, mein Herzallerliebster, welch ein Glitzern und Funkeln in dieser riesigen Halle! Überall glänzt es von Erz und Bernstein, Gold und Silber, und dann das ganze Elfenbein! So ähnlich muss es im Olympos, in den Hallen des Zeus aussehen. Ein unermesslicher Reichtum! Ich erblasse beinahe vor Ehrfurcht."

Doch Menelaos hatte es trotzdem gehört und sagte rasch: "Nein, liebe Jungs, mit Zeus kann sich keiner messen! Unvergänglich sind allein das Haus und die Schätze des Gottes. Was die Menschen betrifft, kann durchaus noch ein anderer ebenso reich sein wie ich. Oder auch nicht. Ich bin ja auch erst nach unendlichen Irrfahrten und Leiden, acht Jahre waren es, mit dieser Beute heimgekehrt. In Kypros war ich, in Phoinike; nach Aigyptos hat es mich verschlagen; Erember, Sidonier, Aitiopier habe ich kennengelernt und Libyer, bei denen die Zicklein schon mit Hörnchen geboren werden. Dort wirft das Vieh dreimal im Jahr, und weder Herr noch Hirte leiden je an Fleischmangel. Immer gibt es süße Milch und guten Käse, sie melken dort das ganze Jahr über.

Aber während ich in diesen fernen Ländern herumirrte und ein unermessliches Vermögen zusammenraffte, ermordete jemand meinen Bruder, hinterrücks und aus heiterem Himmel. Den Plan hatte sich ausgerechnet seine eigene, verfluchte Gattin ausgedacht. Und so werde ich meines Besitzes nicht recht froh. Ihr habt es bestimmt von euren Vätern erzählt bekommen, wer auch immer die sind. Es war hart: Ausgeräumt war der ganze Hausstand, leer das Haus, das vordem schön und gemütlich war.

Ach, was gäbe ich dafür, ohne mit den Wimper zu zucken, zwei Drittel meines Besitzes, wenn nur all die Männer noch am Leben wären, die drüben im großen Troja fielen, fern von Argos, das seine Rosse gut nährt. Oft sitze ich in meinem Palast und trauere um all die Männer. Manchmal hilft es mir, dass ich weine. Aber dann lass ich's wieder, denn auch die tiefste Trauer wird irgendwann langweilig. Mehr als der Gram um all jene plagt mich der Schmerz um den einen, und ich schlafe nicht und esse nicht, wenn ich an ihn denke. Keiner von den Achaiern hat so viel erlitten, erduldet und durchgemacht wie Odysseus. Er hat das ganze Jammertal durchwandert - aber ich habe den nicht endenden Kummer um ihn. Ähnlich wird es der klugen Penelopeia gehen und seinem Sohn, den er kurz nach der Geburt zu Hause zurückließ."

Bei diesen Worten spürte Telemachos das Verlangen, zu weinen und zu klagen. Als der Name seines Vaters fiel, flossen die Tränen aus seinen Augen und tropften auf den Boden. Um sie zu verbergen, hatte er seinen purpurnen Mantel schützend bis über die Augen hochgezogen. Menelaos bemerkte es, zögerte aber und fragte sich gerührt, ob er ihn darauf ansprechen sollte oder ob er warten sollte, bis der junge Mann selbst seinen Vater erwähnte.

Während er dies in seinem Herzen abwog, kam aus den hohen, wohlriechenden Frauengemächern Helena, schön wie Artemis, mit der goldenen Spindel. Adraste stellte einen exklusiv gefertigten, prächtigen Sessel für sie hin, Alkippe brachte Decken aus weicher Wolle, und Phylo das silberne Nähkästchen, ein Geschenk von Alkandra, der Gattin des Polybos, der sehr, sehr weit weg im fernen aigyptischen Theben lebte, wo vergleichsweise die reichsten Innenausstattungen von Häusern zu finden sind. Dieser Polybos hatte Menelaos zwei silberne Badewannen, zwei große, dreifüßige Kessel und ganze zehn Talente Gold geschenkt; und auch seine Gattin geizte nicht und gab für Helena eine goldene Spindel und ein mit Ornamenten verziertes, silbernes Kästchen, dessen Ecken zu allem Überfluss auch noch vergoldet waren. Genau dieses Geschenk brachte nun die Dienerin Phylo. Feinstes Garn füllte das Kästchen, und obenauf lag die goldene Spindel, umwunden mit veilchenfarbener Wolle.

Helena ließ sich nieder auf den Sessel, platzierte ihre Füße auf dem Schemel und begann sofort, ihren Gatten unumwunden auszufragen: "Wissen wir schon, Menelaos, mein Göttergatte, wie diese jungen Männer heißen? Von woher sie sich rühmen, gekommen zu sein? Täusche ich mich, oder ahne ich das Richtige, wenn ich sage, was mir auf dem Herzen liegt, dass mir nämlich noch nie im Leben, weder bei Männern noch bei Frauen, eine derartige, absolut frappierende Ähnlichkeit aufgefallen ist: Dieser junge Mann dort muss einfach der Sohn des stolzen Odysseus sein. Ja, jener Telemachos, den er gleich nach seiner Geburt zurückließ, als ihr Achaier gen Troja fuhrt, so ganz und gar kampfentflammt wegen meiner Wenigkeit und meinen treufrechen Hundeaugen."

Darauf blieb dem blonden Helden Menelaos nurmehr zu sagen: "Ja, Frau, genau das habe ich auch gerade gedacht. Hände, Füße, Augen, ganz genau wie bei ihm, auch das Profil und die Locken. Eben noch habe ich von Odysseus gesprochen und erwähnt, wie viel er meinetwegen erduldet und durchlitten hat. Und gleich fing er hier an zu weinen, bittere Tränen rannen ihm von den Wimpern, und er verhüllte sein Gesicht in seinem purpurnen Mantel."

Da sagte Nestors Sohn Peisistratos: "Verehrter Atride Menelaos, König deines Volkes, ja, er ist wirklich sein Sohn, wie du vermutest. Da er jedoch äußerst bedächtig und sensibel ist, meint er, es sei unpassend, sich dir gleich nach der Ankunft mit aufdringlichem Geschwätz und sämtlichen Problemen zu nähern. Außerdem hat uns deine Erzählung vollkommen gefesselt. Mich hat der alte Nestor nur als Begleitung mitgeschickt. Telemachos wollte dich unbedingt sehen und fragen, ob du ihn mit Rat und Tat unterstützen kannst. Denn ein Sohn hat's nicht leicht im Haus, wenn der Vater fort ist und kein anderer ihm zur Seite steht, wie es bei Telemachos der Fall ist. Verschollen der Vater, und niemand aus der Stadt hat die Zivilcourage, ihn vor Unrecht zu schützen."

Darauf sagte der blonde Held Menelaos: "Meine Güte, da habe ich tatsächlich den Sohn meines besten Freundes im Haus, der um meinetwillen so viele Gefahren durchgestanden hat! Den ich von den Achaiern am liebsten wiedergesehen hätte, wenn Zeus, der Donnergott im Olympos, uns allen die Heimkehr auf den schnellen Schiffen erlaubt hätte! Einen Palast, ja eine ganze Stadt in Argos hätte ich ihm gegeben, um ihn aus Ithaka herzulocken, mitsamt Sohn, Vermögen und all seinen Leuten. Ich hätte eine der umliegenden Städte, die mir gehören, extra für ihn räumen lassen. Dann wären wir oft hier zusammengekommen, nichts hätte unsere Freude, unsere Freundschaft stören können, bis dass, na ja, bis dass die dunklen Wolken des Todes uns verschluckt hätten. Garantiert war es ein Gott, der uns das vermiest hat, weil er meinem Freund, dem armen Kerl, die Heimkehr nicht gönnte."

Bei diesen Worten spürten nun alle das Verlangen, zu weinen und zu klagen. Weinend saß Helena da, die argeiische Götterschöne, weinend Telemachos, und auch der Sohn des Atreus heulte. Ja, selbst Nestors sonst tränenfreier Sohn Peisistratos bekam ansatzweise feuchte Augen. Sein Herz schmerzte sehr, denn er erinnerte sich an seinen Bruder Antilochos, den fehlerfreien, der vom überlegenen Sohn der strahlenden Eos in den Haides befördert worden war. Da ihm das Gefühl schon bis zum Hals stand, sagte er:

"Sohn des Atreus! Nestor, mein Alter, sagt immer, wenn wir bei uns zu Haus im Palast über dich reden, du seist ein sehr kluger Mensch. Deshalb bitte ich dich um einen Gefallen. Ich habe überhaupt keine Lust, nach einem so guten Abendessen an Tränenorgien mitzuwirken. Morgen wird die Sonne schon wieder aufgehen. Weinen soll man meiner Meinung nach, wenn ein Sterblicher von uns geht, dem Ruf des Schicksals folgt und so weiter. Das Einzige, was wir dann tun können, um die Bedauernswerten zu ehren, ist Tränen vergießen und uns in Trauer die Haare abschneiden. Mir ist mein Bruder gestorben, er war bestimmt nicht der schlechteste im Heer der Achaier. Aber das wirst du besser wissen; ich habe ihn ja selbst nie gesehen. Ich weiß nur, dass man sagt, Antilochos sei ein rekordverdächtiger Läufer und auch ein guter Kämpfer gewesen."

Darauf sagte der blonde Held Menelaos: "Dein Einwurf, mein lieber Freund, ist so klug und abgeklärt, dass er auch vom weisen Nestor selbst stammen könnte. Ganz und gar der Sohn seines Vaters! Da sieht man mal wieder, mit wem es Zeus bei Heirat und Nachkommenschaft gut meint. Er hat Nestor ja auch gegönnt, sehr alt zu werden und seine Tage gemütlich in seinem Palast zu beschließen, umringt von klugen Söhnen, die ihre Lanzen zu handhaben wissen. Also, ihr Lieben: Schluss mit der Jammerei, wir wollen wieder fröhlich tafeln! Schickt Diener, wir wollen uns die Hände waschen! Morgen früh ist dann Zeit, mich mit Telemachos ausführlich auszutauschen."

Und der allzeit bereite Diener des weltberühmten Menelaos, Asphalion, goss Wasser über ihre Hände. Dann langten sie wieder zu, denn alles lag bereit auf den Tischen. Und Helena hatte noch eine gute Idee; in den Wein, den sie tranken, gab sie heimlich ein Kraut, das gut gegen Sorgen und Ärger wirkt - man vergisst einfach alles Schlimme. Wer das Mittel zusammen mit Wein zu sich nimmt, der kann an diesem Tag keine einzige Träne mehr vergießen, selbst wenn Vater und Mutter gemeinsam im Sterben lägen oder vor seinen Augen der liebste Sohn oder der Bruder mit dem Schwert niedergemetzelt würde. Solche starken und heilenden Drogen besaß die schöne Helena. Polydamna, die Frau, mit der Thon schlief, hatte ihr die Drogen aus Aigyptos geschickt, dem Land, wo die fruchtbare Erde im Überfluss Tausende von Kräutern hervorbringt, sowohl nützliche wie auch schädliche. Dort ist beinahe jeder ein Heilkundiger, wie sie überhaupt dort mehr wissen als der Rest der Menschheit. Kein Wunder, denn sie stammen allesamt von Paiëon ab.

Nachdem Helena das Kraut in den Wein getan hatte, und alle die Becher damit gefüllt hatten, brachte sie das Gespräch wieder in Gang: "Atride Menelaos, mein Göttergatte, und ihr beiden, ihr Söhne erlauchtester Männer! Glück oder Unglück bringt Zeus, heute für den, morgen für jenen. Er kennt keine Beschränkungen, er macht, was er will. Deshalb lasst es euch, zur Abwechslung, jetzt mal ohne Einschränkung gut gehen. Bleibt noch ein wenig sitzen, esst etwas und genießt dabei die Geschichte, die ich euch erzählen werde.

Ich kann euch natürlich nicht alles erzählen, all die Begegnungen, all die Kämpfe, die der im Unglück stets standhafte Odysseus durchgemacht hat; nur von einer einzigen und besonders waghalsigen Heldentat will ich reden. Es war im Land der Troer, wo ihr achaischen Männer eine so schwere Zeit hattet. Mit einer Geißel hatte Odysseus sich selbst Wunden zugefügt und sich dann ein billiges Tuch übergeworfen, er sah aus wie ein geprügelter Sklave. So konnte er sich in die uneinnehmbare feindliche Festung hineinschleichen. Er tat so, als wolle er betteln, und erinnerte in nichts an den Helden, den man bei den achaischen Schiffen zu sehen gewohnt war. Er war also drinnen in der gigantischen Festung, unerkannt; nur ich durchschaute seine Verkleidung. Ich wollte ihn ausfragen, doch er wich geschickt aus. Da bot ich ihm ein Bad an. Und als ich ihn gewaschen und mit Öl eingerieben, ihm neue Kleider geschenkt und alle heiligen Eide geschworen hatte, den Troern nichts zu verraten, bis er wieder bei den Zelten und den schnellen Schiffen der Gefährten wäre, da endlich erzählte er mir von den Plänen der Achaier. Auf dem Rückweg tötete er noch eine ganze Reihe von Trojanern, um dann mit wertvollen Erkenntnissen zu seinen Leuten zurückzukehren. Laut klagten die Frauen Trojas, doch ich freute mich im Stillen; denn ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt schon wieder umorientiert: Ich sehnte mich danach, mein Haus, meine liebe Heimat wiederzusehen, und bereute, der Verführungskunst der mächtigen Aphrodite erlegen zu sein, die mich derart verliebt gemacht hatte, dass ich alles verließ, was mir lieb gewesen, meine Tochter und das Ehebett eines Mannes, der herzensgut und dazu noch schön war."

Darauf sagte ihr blonder Held Menelaos: "Du hast das alles stimmig dargestellt, Frau. Ich bin ja in der weiten Welt herumgekommen und habe einige mutige Männer, ihre Ideen und Zielvorstellungen, kennengelernt, doch ist mir kein zweiter unter die Augen gekommen, der so beherzt und geradeaus war wie der kühne Odysseus. Denk nur an das Kabinettstückchen mit dem hölzernen Pferd! Was hat er da riskiert, zusammen mit uns, den mutigsten Argeiern. Wir saßen drinnen, bereit den Troern Mord und Totschlag zu bringen, da kamst ausgerechnet du des Wegs, Frau, als hätte ein böser Geist dich geschickt, der den Troern zum Sieg verhelfen wollte. Und auf deinen Fersen folgte die schöne Deïphobos. Dreimal bist du um das hohle trojanische Pferd herumgeschlichen, hast es mit deinen Händen geprüft, dabei die Namen aller adligen Argeier gerufen und zu allem Überfluss auch noch die Stimmen ihrer jeweiligen Bettgenossinnen imitiert! Wir drei, ich, der Tydide und der Held Odysseus, saßen mittendrin im Bauch des Holzgauls, hörten dich rufen und hatten natürlich große Lust, gleich herauszustürmen oder zumindest auf deine Rufe zu antworten. Allein Odysseus erlaubte es nicht, so sehr wir auch drängten. Die Achaiersöhne hatten sich auch bald wieder beruhigt, bis auf Antiklos, der unbedingt Kontakt mit dir aufnehmen wollte. Odysseus presste ihm mit seinen starken Händen den Mund zu und hat uns alle damit gerettet. Er hielt ihn so lange fest, bis Pallas Athene so gnädig war, dich endlich von dannen zu führen."

Da mischte sich Telemachos ins Gespräch. Er gab zu bedenken: "Mensch, umso schlimmer, Menelaos! So hat Odysseus ein viel grauenhafteres Ende gefunden! Seine ganze eiserne Kampfkraft hat ihm letztendlich nichts genützt. Aber bitte, lasst uns nun zu Bett gehen, damit der süße Schlaf uns für morgen stärkt."

Helena von Argos befahl ihren Dienerinnen, in der Vorhalle zwei Betten aufzustellen, mit schönen, purpurnen Kissen, und jede Menge wollene Decken daraufzulegen. Aus den Kammern eilten die Mägde mit brennenden Fackeln und richteten alles. Ein Herold führte die beiden hin, und so ruhten sie dort im vorderen Teil des Palasts, der strahlende Telemachos, und der gutgebaute Sohn des Nestor, Peisitratos. Der Atride legte sich im Innern des großen Hauses neben Helena nieder, der schönsten aller Frauen, die jedoch in sehr langen Gewändern schlief.

Als aber Eos die Morgenröte schickte, verließ Menelaos, der Meister des furchterregenden Schlachtrufs, sein Bett, kleidete sich an und hängte sich sein Schwert um die Schulter. An seine Füße band er die exklusiven Sandalen und schritt dann wie ein leibhaftiger Gott aus dem Schlafzimmer. Er ging zu Telemachos, setzte sich neben ihn und fragte:

"Was führte dich her, tapferer Telemachos, übers weite Meer bis in unser gesegnetes Lakedaimon? Ist es eine öffentliche Angelegenheit oder eine Privatsache? Du kannst offen mit mir sprechen."

Telemachos antwortete bedacht: "Göttlicher Menelaos, Sohn des Atreus, Gebieter deines Volkes! Ich bin hergekommen, um durch dich vielleicht etwas über meinen Vater herauszufinden. In unserem Haus herrscht Verschwendung. Mein Erbe, die reichen Güter, Schafe, Rinder und so weiter, werden immer weniger; unser Palast ist voll widerwärtiger, überheblicher Männer, die auf meine Mutter scharf sind. Daher bitte ich dich inständig, mir zu verraten, wie mein Vater sein trauriges Ende fand, vielleicht warst du ja Augenzeuge. Oder du hast von andern gehört, wo er herumirrt. Ach, in was für ein Elend hat seine Mutter ihn bloß geboren! Und bitte, mir gegenüber keine falsche Rücksicht oder Mitleid, sag mir offen und ehrlich, was du gesehen hast und was geschah. Wenn dir je mein Vater, der tapfere Odysseus, mit Worten oder Taten beigestanden hat, als ihr vor Troja lagt und die Situation für die Achaier brenzlig wurde, dann denk jetzt daran, mir zuliebe. Sag die ganze, brutale Wahrheit."

Mit Zorn reagierte darauf der blonde Menelaos: "Das ist ja das Letzte! Es wäre ein Skandal, wenn diese Schlappschwänze sich ins gemachte Bett eines solchen Mannes legen dürften! Um bildlich zu sprechen: Das wäre etwa so, als ob eine Kuh ihr frisch geborenes Kälbchen in der Höhle des Löwen unterbringt, der seinerseits friedlich durch Wälder und Wiesen streifend nach Grünfutter sucht. Doch so ist er nicht, der Löwe! Nein, er kehrt zurück in seine Höhle und tötet die Kuh und ihr Junges! Und ebenso wird Odysseus mit den Freiern verfahren, erbarmungslos. Beim Zeus, bei Athene und Apollon, ich hoffe, er ist noch so stark wie damals, als er auf der schönen Insel Lesbos im Ringkampf gegen König Philomeleidos antrat und ihn derart fertigmachte, dass alle anwesenden Achaier vor Begeisterung aufschrien. Nimm Gift drauf, Junge, kommt Odysseus je zurück, dann gibt es ein tödliches Fest für die Freier, eine Hochzeit des Schreckens wird das!

Nun, was deine Frage angeht, so bin ich nicht der Mann, der falsch redet oder ausweicht. Ich werde dir verraten, was ein glaubwürdiger Meeresgeist, der alte Proteus, mir offenbarte. Die Götter hielten mich damals in Aigyptos fest, trotz meines Heimwehs, denn ich hatte wichtige Opfertermine einfach verstreichen lassen. Und die Götter achten nun mal darauf, dass wir sie mit der gebotenen Regelmäßigkeit verehren. Also, es gibt da in der Nähe von Aigyptos eine kleine Insel, mitten in der unruhigen See. Sie heißt Pharos und ist vom Festland mit einem großen Schiff in einem Tag zu erreichen, vorausgesetzt, man hat günstigen Wind. Sie hat einen natürlichen Hafen, und viele Schiffe halten dort kurz, um frisches Wasser aus den dunklen Brunnen aufzunehmen. Mich hielten die Götter ganze zwanzig Tage fest auf Pharos, denn was Schiffe gemeinhin brauchen, um übers weite Meer zu fahren, fehlte - kein Lüftchen regte sich.

Meine Männer wären regelrecht verhungert, wenn nicht eine Göttin mich gerettet hätte, Eidothea. Sie, die Tochter des urigen Meergreises Proteus, hatte echtes Mitleid mit mir. Einsam lief ich herum, weit weg von meinen Leuten, die mit selbst gebastelten Haken Fische zu fangen versuchten, der Hunger verdrehte ihnen ja schon die Mägen. Da näherte sich mir auf einmal die Göttin und sprach mich an: 'Bist du nur einfach dumm, Fremder, und erschöpft? Oder steckt Absicht dahinter und du genießt eventuell sogar dein Elend, dass du so lange auf der Insel bleibst, ohne dir Gedanken zu machen, wie du wegkommst, während deine Männer immer mutloser und schwächer werden?' Ich antwortete ihr: 'Wer auch immer du bist unter den Göttinnen, ehrlich gesagt, ich könnte mir leicht besseres vorstellen, als auf dieser Insel festzusitzen. Ich muss wohl die Unsterblichen droben verärgert haben. Apropos, sag du mir doch, Götter wissen schließlich alles, wer von denen da oben etwas gegen meine Weiterfahrt hat. Und was muss ich tun, damit ich über die fischreichen Jagdgründe wieder heimkomme?' Und die holde Göttin antwortete mir umgehend: 'Aber bitte sehr, Fremder, das verrate ich dir doch gern. Hier hält sich sehr häufig ein Meeresgeist auf, der unsterbliche Proteus vom Fluss Aigyptos, ein uralter Diener des Poseidon. Die tiefsten Tiefen des Meeres sind sein Reich, und man munkelt, er sei mein väterlicher Erzeuger. Wenn es dir gelingt, ihm aufzulauern und ihn irgendwie zu packen, wird er dir seefahrerisch präzise Angaben für die Weiterfahrt geben. Du kannst ihm wirklich vertrauen, und wenn du neugierig bist, wird er dir auch sagen, was alles an Gutem oder Bösem bei dir zu Hause passiert ist, während du dich fern den Deinen auf langen, beschwerlichen Wegen herumgetrieben hast.' Sie schwieg, aber ich bohrte weiter: 'Dann erklär mir doch bitte, wie ich den göttlichen Meeresgreis zu packen kriege. Wenn er mich zu sehen bekommt, taucht er garantiert weg. Götter lassen sich ungern von Sterblichen festnageln.' Und die holde Göttin verriet es mir. 'Fremdling', sagte sie, 'ich bin immer offen und direkt. Wenn Helios in seinem Lauf den höchsten Punkt erreicht hat und der Zephir sanft die Wellen kräuselt, steigt der Bote der Wahrheit, der Alte vom Meere, aus den salzigen Fluten, um sich zur Ruhe zu legen. Und aus der schäumenden Brandung steigen in dichten Scharen die Robben, die Kinder der lieblichen Meerestochter, mit ihrem scharfen Geruch aus den Tiefen des Meeres, um mit ihm zu schlummern. Dahin führe ich dich bei Morgenrot. Du legst dich dort hin mit drei Gefährten, den mutigsten, die du auf deinem Schiff auftreiben kannst. Und das sind die Finten und gefährlichen Eigenheiten des Alten: Als Erstes wird er zu den Robben gehen, sie mustern und zählen. Wenn er sie mit Hilfe der fünf Finger seiner Hand abgezählt hat, legt er sich in ihre Mitte, wie der Hirte zu seinen Schäflein. Sobald ihr sicher seid, dass er schläft, müsst ihr alle eure Kräfte zusammennehmen, euch auf ihn stürzen und ihn an Ort und Stelle festhalten. Er wird sich heftig wehren und er wird unablässig seine Gestalt ändern, um euch zu entkommen. Er kann sich in jedes Wesen verwandeln, das auf dieser Erde kreucht und fleucht, aber auch in Elemente wie Wasser oder Feuer. Lasst keinen Augenblick locker, presst ihn nur unerbittlicher auf den Boden! Erst wenn er schließlich, in seiner ursprünglichen Gestalt, von sich aus zu reden beginnt und dir eine Frage stellt, brauchst du keine Gewalt mehr anzuwenden. Lass ihn dann los, du Held, und frag ihn, welcher Gott dir das Leben schwer macht und wie du über das fischreiche Meer in deine Heimat kommst.'

Nachdem sie das gesagt hatte, tauchte die Göttin in die Fluten und war verschwunden. Ich ging mit heftig klopfendem Herzen zu den Schiffen zurück. Wir bereiteten ein mageres Abendessen, denn die milde Nacht nahte schon, und schliefen bald ein, im Sand nahe der Brandung.

Und als in der Frühe strahlend Eos das Morgenrot schickte, ging ich am Strand des unermesslichen Meeres entlang und betete innig zu den Göttern. Mit mir gingen drei Gefährten, auf die ich mich in jeder Situation verlassen konnte. Inzwischen hatte die Göttin aus den Tiefen, in die sie getaucht war, die Felle von vier geschlachteten Robben heraufgebracht, alle ganz frisch abgezogen, um ihren Vater perfekt zu täuschen. Sie hatte bereits Kuhlen im Sand gegraben, saß dort und wartete auf uns. Wir legten uns der Reihe nach hinein, und sie breitete über jeden ein Fell. Aber die Tarnung stellte sich als unerträglich heraus. Der scharfe Gestank der Robbenfelle, dieser Kinder der Tiefsee, brachte einen schier um. Und wer möchte schon an Meeresmonstergestank sterben? Aber ein kluger Schachzug der Göttin brachte uns Rettung. Sie rieb einem jeden von uns Ambrosia unter die Nase, und das duftete so gut, dass die ekelhaften Ausdünstungen der Robben etwas gemildert wurden. Mit eiserner Willenskraft hielten wir durch, den ganzen verdammten Morgen. Endlich kamen die Robben aus dem Meer und legten sich in Scharen in den Sand nahe der Brandung.

Und mittags stieg der Alte vom Meere aus den Fluten, musterte die feisten Leiber der Robben und zählte sie, uns sogar als erste von allen Tieren. Er merkte nichts; er rechnete ja auch nicht mit Betrug. Dann legte er sich schlafen. Wir sprangen auf und stürzten uns mit Kampfgeschrei auf ihn. Sofort griff der Alte in seine Kiste tückischer Tricks. Zuerst verwandelte er sich in einen Löwen mit mächtiger Mähne, dann in eine Schlange; es folgten Panther, riesiges Wildschwein, flüssiges Wasser, zuletzt wurde er sogar zu einem hohen Baum mit allen Ästen daran. Aber wir hatten ihn eisern im Griff. Als er seiner Zauberei müde war, fing er endlich an zu reden und fragte mich: 'Sohn des Atreus, wer von den Göttern hat dich instruiert, dass du mich trotz meiner Gegenwehr austricksen konntest? Und was liegt an?' Aber ich hielt dagegen: 'Komm, Alter, du weißt sowieso Bescheid, was sollen die gewundenen Fragen? Ich sitze auf dieser Insel fest und komme nicht weg; langsam verlassen mich meine Kräfte. Die Götter wissen doch immer alles, deshalb erklär mir, wer von den Unsterblichen mich hier festhält und partout nicht einverstanden ist, dass ich über die fischreichen Gründe nach Hause segle.' Und er zögerte keinen Moment mit seiner Antwort: 'Klarer Fall, du hast Zeus und den anderen Göttern vor deiner Abfahrt die heiligen Opfer nicht dargebracht. Hol das nach, und du kannst auf schnellstem Weg heim übers Meer, das dunkel ist wie Wein. Aber du wirst weder deine Lieben noch dein schönes Schloss je wiedersehen, wenn du nicht an den Fluss Aigyptos, dessen Quelle im Himmel liegt, zurückfährst und dort den Unsterblichen ein großes Opfer ausrichtest. Erst dann wirst du, wie gewünscht, freie Bahn haben.' Mir brach schier das Herz, als er das sagte, denn es bedeutete, erneut die lange, gefährliche Reise übers Meer anzutreten in das Land, wo der Aigyptos fließt. Zerknirscht gab ich ihm zur Antwort: 'Ich werde alles tun, Alter, was du mir geraten hast. Aber nun sag mir bitte noch, offen und ohne Umschweife: Sind die anderen Achaier, die Nestor und ich bei unserer Abfahrt in Troja zurückließen, schon alle zu Hause angekommen, oder gab es Verluste? Hat das grausame Schicksal nochmals zugeschlagen nach durchstandenem Krieg? Auf See vielleicht oder schmählich von Seiten der lieben Verwandten in der Heimat?' Der ehrliche Alte antwortete auch diesmal. 'Sohn des Atreus', begann er, 'musst du mich das fragen? Es wäre besser für dich gewesen, nicht zu hören, was ich darüber weiß, denn du wirst bittere Tränen weinen. Es leben zwar noch viele, doch viele kamen auch um. Wer von deinen Mitstreitern im Krieg fiel, weißt du ja. Zwei weitere Achaierfürsten in Führungspositionen überlebten die Heimfahrt nicht. Ein dritter lebt noch, sitzt aber als Gefangener in fernen Meeresgegenden. Aias ging mit seinem Langruderschiff unter. Poseidon trieb ihn gegen die Felsklippen von Gyrai; er hatte sich zunächst schwimmend retten können, obwohl er Athene äußerst verhasst war. Doch dann war er so dumm, in seinem Übermut herauszubrüllen, er sei dem Meeresschlund aus eigener Kraft entkommen und die Götter könnten ihn mal. Poseidon, der Erderschütterer, hörte sich die unverschämten Prahlereien kurz an, packte dann mit seinen gewaltigen Fäusten den Dreizack und spaltete den Felsen von Gyrai in zwei Teile. Die eine Hälfte blieb stehen, die andere stürzte ins Meer. Und genau auf dieser saß der vorlaute Angeber Aias. Samt Felsenbrocken riss ihn Poseidon hinunter in die wildschäumenden Fluten, und das Großmaul schluckte Salzwasser, bis er randvoll war. So weit Aias. Dann dein Bruder: Er entkam dem Tod auf seinen großen Schiffen, er stand ja unter dem Schutz der mächtigen Hera. Aber als er sich den steilen Felswänden von Maleia näherte, packte ihn ein Sturm und trieb ihn weit hinaus auf das von Fischen wimmelnde Meer, extrem weit hinaus zu seinem Leidwesen; bis dahin, wo früher der alte Thyestes hauste und Aigisthos zu Hause war, der Sohn des Thyestes. Aber irgendwann ging es weiter, die Götter ließen die Winde in die Gegenrichtung wehen, und er kam mit seinen Gefährten nach Hause. Das Herz voller Freude, betrat er den Boden der Heimat, kniete nieder und küsste ihn. Er weinte, so glücklich war er, sein Land wiederzusehen. Doch entdeckte ihn ein Beobachtungsposten, den der hinterlistige Aigisthos aufgestellt und dem er für den Erfolgsfall zwei Talente Gold versprochen hatte. Ein ganzes Jahr schon hatte der Mann auf der Lauer gelegen, um zu verhindern, dass dein Bruder überraschend heimkehren und den Kampf aufnehmen könnte. Sofort lief er ins Haus des Fürsten und meldete die Ankunft. Und Aigisthos reagierte sofort mit einem hinterhältigen Plan, wie er nur ihm einfallen konnte. Er wählte einerseits zwanzig seiner besten Männer aus, die sich verstecken mussten, andererseits ließ er ein Festmahl vorbereiten. Finsteres im Sinn, fuhr er mit einem Gespann hinaus, um Agamemnon, der an alles Mögliche, aber nicht an den Tod dachte, zu dem Festessen einzuladen. Er führte ihn in den Saal und erschlug ihn an seinem eigenen Tisch, einfach so, wie man ein Rind an seiner Krippe, wo es ruhig bleibt, erschlägt. Keiner der Gefährten des Atriden überlebte das nun folgende Gemetzel, aber auch keiner von Aigisthos' Leuten, alle lagen erschlagen im Saal.'

Hier endete Proteus; und diesmal brach mein Herz wirklich. Ich saß weinend im Sand und wollte das Licht der Sonne nicht länger sehen, so lebensmüde war ich. Als ich mich ausgeweint und mich lange genug, am Boden zerstört, auf diesem gewälzt hatte, begann der Alte vom Meere, der Bote der Wahrheit, wieder zu sprechen: 'Nicht mehr weinen, Menelaos, hör auf, nun reicht es. Gejammer ist kein Ausweg. Du solltest lieber versuchen, so schnell wie möglich heimzukommen. Entweder du triffst den Mörder dort noch lebend an, oder Orestes hat ihn schon umgebracht. In diesem Fall kannst du immerhin noch seiner Bestattung beiwohnen.' Seine klaren Worte rissen mich aus meiner desolaten Stimmung, und mein Herz, so kummerschwer es war, schlug wieder munterer. Ich riss mich zusammen und sagte: 'Gut, nun weiß ich, was zweien passiert ist. Und wer ist der dritte, der draußen im weiten Meer verschollen ist? Auch wenn es wieder wehtun sollte, ich will es wissen.' Und er beantwortete meine Frage prompt: 'Das ist der Held aus Ithaka, der Sohn des Laertes. Ich sah, wie seine Tränen munter perlten, dort auf einer fernen Insel, im Schlafzimmer der fesselnden Nymphe Kalypso, die ihn mit Macht und all ihren Reizen dazu bringen will, bei ihr wohnen zu bleiben. Er kann auch gar nicht weg, da er weder Schiffe noch Gefährten hat, die ihn über das weite Meer in sein Land bringen könnten. Und nun zu dir, Menelaos, Liebling der Götter! Dir haben die Götter bestimmt, nicht in Argos, wo die Pferde gedeihen, zu sterben. Nach dem Willen der Götter wird sich dein Schicksal in den Gefilden am Ende der Welt erfüllen, wo die Ebenen Elysions liegen. Dort, beim Richter der Toten, dem blonden Rhadamanthys, wo die Menschen leicht und sorglos durch das Leben gehen; wo weder Regen und Schnee fällt, noch Stürme je wüten. Und wo Zephyros allzeit ein klein wenig Wind wehen lässt vom Okeanos her, um die Menschen zu erfrischen. Da wirst du sterben.' Nach diesen Worten tauchte er weg in die schäumende Meeresbrandung.

Ich ging mit heftig klopfendem Herzen zu den Schiffen und meinen Männern zurück. Wir bereiteten ein Abendessen, denn die milde Nacht nahte schon, und schliefen bald ein beim Rauschen der Brandung. Und als in der Frühe strahlend Eos das Morgenrot schickte, zogen wir die Schiffe in die salzige See, richteten den Mast auf, setzten das Segel, stiegen in das Schiff, ließen uns in Reihen auf den Bänken nieder und peitschten mit den Rudern die grauen Fluten. Ich steuerte die Schiffe zurück in den Fluss Aigyptos, der dem Himmel entspringt, und führte dort erfolgreich die Opferzeremonien durch. Nachdem ich den Zorn der Ewigen besänftigt hatte, schüttete ich ein Denkmal aus Erde auf, zur bleibenden Erinnerung an meinen Bruder. Damit war alles erledigt, und ich fuhr nach Hause. Der Fahrtwind, den die Götter jetzt schickten, war passabel, und wir erreichten die Heimat im Nu.

Doch nun wieder zu dir, Telemachos: Bleib doch noch etwas in meinem Palast, sagen wir elf, zwölf Tage! Dann werde ich dich mit opulenten Souvenirs ziehen lassen, werde dir einen schmucken Wagen mit drei Pferden schenken, dazu einen Goldpokal, aus dem du für alle Zeiten trinken und meiner gedenkend den Göttern spenden kannst."

Und Telemachos, der genug Zeit gehabt hatte, sich alles sehr genau zu überlegen, erwiderte: "Bitte versuch nicht, Atride, mich zu einem längeren Aufenthalt zu bewegen. Liebend gern würde ich ein ganzes Jahr bei dir verbringen, ohne mich nach Haus und Verwandten zu sehnen, so erfreulich war es, den Erzählungen aus deinem Mund zu folgen. Doch warten in Pylos meine Freunde auf mich, sie werden sich ärgern, wenn du mich ewig aufhältst. Statt der großen Geschenke kannst du mir besser ein handliches Kleinod mitgeben; Pferde könnte ich eh nicht nach Ithaka transportieren, sie mögen hierbleiben und weiterhin für dein Prestige sorgen. Du hast die besseren Weiden für sie, ebene Wiesen, voll mit sattem Klee; der Weizen und die Gerste wuchern auf deinen Feldern. Ithaka kann das nicht bieten, es gäbe keinerlei Auslauf für die Tiere; es ist eher ein Land, das sich für Ziegen eignet. Keine der Inseln, die dort im Meer liegen, bietet gute Bedingungen für Pferde, am allerwenigsten aber Ithaka."

Da musste, Menelaos, der Meister des beeindruckenden Schlachtrufs, lächeln. Er nahm seinen jungen Gast freundlich in den Arm und sagte mit ernster Stimme: "Was du da sagst, mein Kleiner, ist der Beweis dafür, welch wahrhaft edles Blut durch deine Adern fließt. Ich muss dir also etwas anderes schenken! Nun gut, ich hab's ja. Das Haus ist voll von kostbaren Schätzen, und du sollst ruhig das Schönste und Wertvollste, das ich habe, als Geschenk mitnehmen: den kunstvoll gearbeiteten, großen Weinmischpokal aus Vollsilber mit Goldrandverzierung. Hephaistos höchstpersönlich hat ihn einmal angefertigt. Ich habe ihn von Phaidimos bekommen, dem König von Sidon, als ich auf dem Weg in die Heimat Gast in seinem Palast war. Er soll dir gehören."

So saßen sie dort, und das Gespräch ging noch hin und her, als schon die Gäste im Haus des göttlichen Königs eintrafen. Die einen brachten ein Schäfchen zum Braten mit, die anderen wieder guten Wein, der den Männern Kraft gibt. Und Frauen mit wunderschönen Schleiern servierten Brot. Bald waren alle im hohen Saal mit der Mahlzeit beschäftigt.

Indessen waren auf dem Platz vor dem Palast des Odysseus die Freier damit beschäftigt, Speerwerfen zu üben und den Diskos um die Wette zu schleudern, laut und selbstbewusst, wie es ihre Art war. Antinoos und der göttlich gutaussehende Eurymachos, die beiden Führungspersönlichkeiten unter den Freiern, saßen etwas abseits; sie waren ohnehin in allen Sportarten die Besten.

In diesem Moment näherte sich Noëmon, der Sohn des Phronios, und fragte Antinoos: "Sag mal, Antinoos, ist schon raus, wann Telemachos aus Pylos zurückkommt, oder weißt du auch nichts? Er ist nämlich mit meinem Schiff gefahren, und ich brauch es nun selber, um nach Elis zu fahren. Ich habe dort zwölf Stuten plus mehrere Maultiere stehen, kräftige Viecher, aber noch wild. Ich muss ein paar von ihnen holen und für den Arbeitseinsatz zähmen."

Da staunten die beiden Führungspersönlichkeiten nicht schlecht; sie hatten gedacht, Telemachos sei irgendwo draußen bei den Viehherden und keineswegs im nelëischen Pylos. Und Antinoos fragte zurück:

"Das will ich nun aber ganz genau wissen, Noëmon. Wann ist er abgefahren? Hat er nur eigene Diener und Sklaven dabei, oder hat er auch Leute aus Ithaka mitgenommen? Zuzutrauen wäre ihm das ja. Und, sag mal ehrlich, hat er sich das Schiff einfach genommen, oder hast du es ihm, auf seine freundlichen Bitten hin, freiwillig überlassen?"

Und Noëmon, Sohn des Phronios, gab offen und ehrlich zur Antwort: "Freiwillig natürlich; jeder hätte das genauso getan, wenn ihn ein Edelmann in einer Notlage darum bäte. Und er war sehr in Sorge. Da wäre es hart gewesen, nein zu sagen. Außerdem waren es - wenn man von uns einmal absieht - die besten jungen Leute aus guten Familien, die mit ihm fuhren. Mentor führte sie an, vielleicht war's auch ein Gott, zumindest sah er aus wie Mentor. Moment mal, ich habe Mentor doch gestern früh hier gesehen... Aber vorgestern ist er mit nach Pylos! Seltsam." Verunsichert ging er in Richtung väterlicher Behausung.

Die beiden düpierten Führungspersönlichkeiten waren hellauf entrüstet. Da war sofort Schluss mit den sportlichen Übungen, alle mussten sich setzten. Antinoos, der Sohn des Eupeithes, war äußerst aufgebracht. Seine schwarze Seele kochte derartig, dass das Gehirn bereits in Mitleidenschaft gezogen wurde. Und seine Augen sprühten wie Feuer, als er sagte:

"Ungeheuerlich! Da hat also dieser dreiste Telemachos die Frechheit besessen, die Fahrt doch zu unternehmen. Und wir dachten, er würde sich nie trauen, gegen die Mehrheit zu handeln. Holt sich einfach ein Schiff, sucht sich seelenruhig die besten Leute aus; der Kerl wird uns eines Tages noch Schwierigkeiten machen! Soll ihm Zeus sämtliche Gräten, inklusive Rückgrat, brechen, bevor er ganz erwachsen wird. Also Bewegung, Leute! Mit einem schnellen Schiff und zwanzig fähigen Männern lauern wir ihm auf, wenn er durch die Meerenge zwischen Ithaka und den Felsen von Same zurückkommt. Das Herumsegeln soll ihm genauso gut bekommen wie seinem Vater." Das schlug er vor, und alle stimmten seinem Vorschlag zu. Sie standen auf und gingen ins Haus des Odysseus.

Aber bald schon bekam Penelopeia Wind von dem Vorhaben der Freier. Medon, der neugierige Herold, hatte zwar nicht direkt, jedoch über die Hofmauer alles mitgehört und eilte in den Palast, es ihr zu melden. Kaum hatte er die Schwelle betreten, fauchte ihn Penelopeia an:

"Was ist denn jetzt schon wieder, Herold, weshalb schicken dich die Freier diesmal? Sollen meine Mägde wieder alles stehen und liegen lassen, um Essen für sie zu machen? Ach, wenn es nur das letzte Mal wäre, dass sie hier essen! Es wäre mir lieber, sie hätten nicht so viel Interesse an mir. Ihr kommt wieder und wieder und verprasst allmählich das ganze Erbe des armen Telemachos, der sich noch nicht wehren kann. Habt ihr denn, als ihr klein wart, nicht von euren Eltern gesagt bekommen, wie anständig sich Odysseus ihnen gegenüber verhalten hat? Nie hat er das Volk schlecht behandelt, wie es andere Könige oft tun, die die einen protegieren und die anderen niederhalten. Er war immer ein gerechter, unparteiischer König, der niemandem geschadet hat. Und als Dank dafür zeigt ihr jetzt euren wahren Charakter, eure widerwärtige Gier."

Medon aber, der sich durchaus selbst Gedanken machte, antwortete: "Schön wär's, Königin, wenn dies das einzige Übel wäre. Weit schlimmer scheint mir zu sein, was die Freier sich jetzt zusätzlich in den Kopf gesetzt haben; möge Zeus es verhüten! Sie planen, Telemachos auf der Rückreise mit ihren blitzgefährlichen Erzgeräten zu ermorden. Denn er ist weggefahren, um sich in Pylos und im gesegneten Lakedaimon nach seinem Vater umzuhören."

Als Penelopeia das hörte, stockte ihr der Atem, ihre Knie wurden weich und ihr Herz stand still. Ihre Stimme versagte, lange blieb sie stumm. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Nach einer Weile fand sie die Sprache wieder und sagte zu Medon: "Warum ist das Kind bloß weg, Medon? Was soll denn das, in seinem Alter schnelle Schiffe zu benutzen, diese für Männer gemachten Meeresrösser, mit denen man sich rasch vergaloppieren kann? Will er denn, dass auch sein Name aus der Liste der Lebenden gestrichen wird?"

Medon aber, der sich durchaus selbst Gedanken machte, antwortete: "Es fällt mir schwer, auseinander zu halten: War es ein Gott, oder war es eigener Antrieb, der ihn nach Pylos fahren ließ? Er will eben Klarheit, ob sein Vater heimkehrt; oder was das Schicksal sonst mit ihm angestellt hat." Nachdem er das losgeworden war, beeilte sich Medon, das Haus des Odysseus zu verlassen.

Denn auf Penelopeia hatte sich herzzerreißender Kummer gelegt; nicht mal richtig hinsetzen konnte sie sich, obwohl doch Sessel genug im Haus standen. Gleich auf der Schwelle ihres prunkvollen Gemachs sank sie nieder und schluchzte kläglich. Und alle Mägde, die gerade im Haus waren, heulten mit, junge wie ältere. Penelopeia begann zu jammern:

"Ach, ihr Lieben, unsäglichen Schmerz schickt mir der Olympier, mehr als jeder anderen Frau meiner Generation. Erst verlor ich meinen Gatten, der den Mut eines Löwen hatte und in vielem die Danaer überragte; edel und rechtschaffen war er und in ganz Argos und Hellas berühmt. Und jetzt entführen mir die Stürme auch noch den geliebten Sohn! Nicht einmal von seiner Abfahrt wusste ich! Ihr seid grausam und herzlos; keine von euch hat mich aus dem Bett geholt, obwohl ihr sicher gewusst habt, wann er das große, pechschwarze Schiff besteigen würde. Wenn ich rechtzeitig von seinen Reiseplänen gewusst hätte, hätte er keinen Fuß vor den Palast gesetzt, es sei denn über meine Leiche. Aber nun sagt dem alten Dolios Bescheid, dem Sklaven, den mein Vater mir damals mitgab, als ich hier einzog, und der jetzt meinen Obstgarten betreut. Er soll schleunigst zu Laertes gehen und ihm alles berichten; vielleicht hat der ja eine Idee, was man tun könnte. Zum Beispiel vor allen Leuten Klage erheben, dass die Freierbande drauf und dran ist, sein und Odysseus' Geschlecht auszurotten."

Darauf sagte Eurykleia, die treue Amme: "Mein liebes Kind, du kannst mich dafür ruhig auf grausame Weise hinrichten lassen - oder es sein lassen. Ich gestehe. Ja, ich wusste von der ganzen Geschichte. Und obendrein gab ich ihm alles, was er verlangte, Speisen und Weinvorräte für die Reise. Er ließ mich heilige Eide schwören, bis zum zwölften Tag zu schweigen, außer du hättest es aus anderen Quellen erfahren oder grämtest dich zu sehr. Er wollte nämlich auf keinen Fall, dass du dir durch übermäßiges Weinen deinen makellosen Teint verdirbst. Nun komm, nimm erst mal ein Bad, zieh dir ein sauberes Kleid an und geh dann mit deinen Dienerinnen nach oben. Bitte Athene, die Tochter des Zeus, des Gottes der Aigis, sein Leben zu schonen; sie wird ihm sicher helfen. Und scheuch den alten Laertes nicht herum, er hat schon Kummer genug. Überhaupt ist der Stamm des Arkeisios bei den Göttern nicht derart verhasst, dass du befürchten müsstest, der eine, der das hohe Haus und die reichen Ländereien erben wird, bliebe dir nicht erhalten."

Diese Worte beruhigten die Fürstin, der Kummer schwand, die Träne versiegte. Sie nahm ein Bad, wählte ein neues Gewand und stieg mit ihren Dienerinnen hinauf ins obere Stockwerk. Dort streute sie Gerste in die Opferschale und betete zu Athene:

"Erhöre mich, Tochter des Zeus, des Gottes der Aigis, Unbezwingliche! Hat dir je der weltgewandte Odysseus auf dem Altar saftige Schenkel von Schafen und Rindern verbrannt, dann erinnere dich nun daran und rette seinen Sohn, schütze ihn vor den Freiern, diesen üblen Mistkerlen." So flehte sie schluchzend, und die Göttin erhörte ihr Gebet.

Aber unten im Saal voller Schatten begannen die Freier wieder zu lärmen. Zum Beispiel spottete einer der Übermütigen:

"Wie schön! Da bereitet sich unsere allseits hochverehrte Königin auf die Hochzeit vor und hat keine Ahnung, dass ihr Zukünftiger der Mörder ihres Söhnchens ist!" So redeten sie daher, ohne zu ahnen, dass Penelopeia ihre Pläne kannte.

Doch da fuhr Antinoos sie an: "Spinnt ihr denn alle? Redet nicht so großspurig daher, sonst hört es noch jemand und verrät uns. Wenn wir unsere großen Worte je wahrmachen wollen, und da waren wir uns ja alle einig, dann haltet jetzt den Mund."

Nach dieser Ermahnung wählte Antinoos zwanzig gute Männer aus. Sie gingen zum Strand, wo ein schnelles, pechschwarzes Schiff lag, zogen es ins Wasser und legten Mast und Segel hinein. Dann befestigten sie nach allen Regeln der Kunst die Ruder mit Riemen aus Rindsleder und zogen das weiße Segel hoch. Waffen und Rüstungen mussten ihnen ihre überaus motivierten Sklaven hinterhertragen. Dann verankerten die Freier das Schiff und gingen wieder ans Ufer, um dort ihre Mahlzeit einzunehmen und auf den Anbruch des Abends zu warten.

Indessen lag oben in ihrem Gemach die sensible Penelopeia und konnte weder essen noch trinken, so aufgewühlt waren ihre Gefühle durch die Frage, ob ihr vortrefflicher Sohn dem Tod entrinnen oder den gewalttätigen Freiern in die Hände fallen würde. Wie eine Löwin, die, von einer Horde von Jägern eingekreist, ängstlich innehält und unschlüssig zu sinnen scheint, so überlegte sie, was alles passieren könnte - bis endlich erlösender Schlaf sie überkam und die Spannung ihrer Glieder löste.

Und da dachte sich Athene, die Göttin mit den strahlenden Augen, wieder etwas Neues aus: Sie schickte ihr im Traum eine Frau, die wie Iphtime aussah, die Tochter des Ikarios und Gemahlin des Eumelos aus Pherai. Dieses Traumbild schickte Pallas ins Haus des göttlichen Odysseus, um Penelopeias ewigem Jammern und der immensen Tränenflut Einhalt zu gebieten. Es trat ein ins Schlafgemach durch das Löchlein, durch das der Riemen des Türriegels gezogen war, beugte sich über ihren Kopf und sagte:

"Quält sich dein liebes Herz noch im Schlaf mit Sorgen, Penelopeia? Doch die, deren Dasein unbeschwert ist, die Götter, wollen nicht, dass du traurig bist und weinst. Dein Sohn wird zurückkehren, ist er doch in ihren Augen ohne Schuld."

Und die gescheite Penelopeia - dämmernd im Halbschlaf, an der Pforte der Träume - gab ihr zur Antwort: "Was führt dich her, Schwesterchen, du bist doch sonst nie hier? So weit weg von hier wohnst du. Und jetzt befielst du mir einfach, ich soll meine Trauer vergessen, und meine Sorgen , die mir unaufhörlich und immer zahlreicher zu schaffen machen? Erst verlor ich meinen Gatten, der den Mut eines Löwen hatte und in vielem die Danaer überragte; edel und rechtschaffen war er, berühmt in ganz Hellas, erst recht aber in Argos. Nun ist auch noch mein geliebter Sohn mit dem Schiff in die Ferne gezogen, dabei ist er noch ein Kind, ahnungslos und ohne jede Erfahrung. Er dauert mich mehr als mein Mann, und ich zittre und bange, was ihm alles zustoßen könnte auf dem Meer oder bei den Menschen, denen er begegnet. Und auf seinem Heimweg will eine ganze Gruppe feindlicher Männer ihm ans Leben, sie wollen ihn tatsächlich töten."

Das fahle, undeutlich dunkle Traumbild erwiderte: "Sei getrost, sei guten Muts und fürchte dich nicht. Ihm steht nämlich eine Gefährtin zur Seite, deren Beistand schon mancher starke Mann herbeisehnte: die mächtige Pallas Athene. Sie weiß um deine Sorgen und hat Mitleid mit dir; sie ist es auch, die mich geschickt hat, dass ich es dir sage."

Und Penelopeia fragte geistesgegenwärtig: "Wenn du ein Gott bist, oder zumindest auf die Stimme eines Gottes hörst, dann verrate mir doch schnell, wie es um den Beklagenswertesten steht, ob er noch lebt und die Strahlen der Sonne ihn wärmen oder ob er tot ist und drunten im Haus des Haides wohnt."

Aber das fahle, undeutlich dunkle Traumbild erwiderte: "Nein, über ihn kann ich dir leider nichts sagen, weder ob er lebt, noch ob er tot ist. Es ist nicht gut, windiges Zeug zu schwatzen."

Nach diesen Worten entschwand das Traumbild durch das Löchlein, durch das der Riemen des Türriegels gezogen war, und löste sich in Luft auf. Die Tochter des Ikarios fuhr aus dem Schlaf; ihr Herz war wieder voll Freude, so hell und klar war der Traum gewesen, der im Dunkel der Nacht zu ihr gekommen war.

Indessen waren die Freier längst an Bord gegangen und hatten die Wasserstraßen durchkreuzt, mit nichts anderem im Sinn als Mordgelüsten gegen Telemachos. Mitten in der Durchfahrt zwischen Ithaka und der felsigen Insel Samos lag die kleine Insel Asteris. Es gab dort eine Bucht, aus der man nach beiden Seiten rasch ausfahren konnte. Dort versteckten sie sich und warteten.

Die Odyssee

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