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Kapitel 2: Ratsversammlung auf Ithaka – Telemachos’ Abreise
ОглавлениеAls in der Frühe die Göttin Eos die Morgenröte heraufschickte, verließ der Sohn des Odysseus sein Bett, kleidete sich an und hängte sein Schwert um die Schultern. Um die Füße band er seine exklusiven Sandalen, schön wie ein Gott trat er vor das Haus. Sofort gab er den Herolden mit den lauten Stimmen den Auftrag, von überall her die Achaier, die stolz ihr Haar lang trugen, zur Ratsversammlung zusammenzurufen. Also riefen die einen, und die andern liefen. Nachdem sich alle eingefunden hatten und kein einziger mehr fehlte, betrat auch er den Marktplatz, in der Hand die eherne Lanze und flankiert von zwei flinken Hunden. Athene ließ ihn glänzen mit himmlischem Charme. Alle staunten, dass er plötzlich so gut aussah. Die Ältesten machten ihm Platz, und er setzte sich auf den Sitz seines Vaters.
Doch als erster nahm der Held Aigyptios das Wort, der vom Alter gebeugt, doch umso reicher an Erfahrung war. Einer seiner Söhne war einst mit dem göttergleichen Odysseus auf den großen Schiffen ins ferne Ilion losgezogen, wo Pferde gut gedeihen. Er hieß Antiphos, war als guter Speerwerfer bekannt und sollte in der Höhle des unkultivierten Kyklopen den Tod finden, am letzten Abend wurde er vertilgt. Noch drei weitere Söhne hatte der Alte. Der eine, Eurynomos, gehörte zur Gruppe der Freier, die zwei anderen arbeiteten auf seinen Landgütern. Trotzdem klagte und trauerte er immerfort, er konnte den einen Verlorenen nicht vergessen. Er begann vor der Versammlung:
"Hört, Männer von Ithaka, was ich euch zu sagen habe. Seit der große Odysseus mit seinen Schiffen losfuhr, hat es hier keine Rats- oder Ältestenversammlung mehr gegeben. Wer hat sie einberufen, was gibt es Wichtiges? Ruft uns einer der jüngeren Männer oder ein alter? Gibt es Gerüchte, dass das Heer zurückkehrt, und wir sollen es jetzt offiziell erfahren? Oder ist etwas faul im Volke, über das wir reden müssen? Was auch immer es sei, wer auch immer den Rat einberufen hat, er ist ein tüchtiger Mann, ein Kerl nach meinem Geschmack! Möge Zeus ihn segnen und in seinen guten Absichten unterstützen." So weit der Alte.
Nach dieser freundlichen Einleitung hielt es den geliebten Sohn des Odysseus nicht mehr auf seinem Sitz, er trat in die Mitte, er wollte reden. Ohne zu zögern gab ihm der parlamentarische Diener und Herold Peisenor den Rednerstab in die Hände. Rhetorisch geschickt wandte sich Telemachos zuerst an den Vorredner:
"Nun, Alter, gar nicht so weit von dir entfernt steht der Mann, der den Rat einberief. Du wirst also gleich erfahren, worum es geht. Denn ich selbst war es! Ich werde durch eine Notlage dazu gezwungen. Von Gerüchten über das Heer, das zurückkommen soll, weiß ich allerdings nichts, somit kann ich nichts offiziell bestätigen. Auch geht es nicht um das Wohl des ganzen Volkes, wenn ich hier vor dem Rat rede, sondern um eine schwierige Lage, in die ich allein geraten bin. Ich habe zwei Probleme: Erstens verlor ich meinen edlen Vater, der ja als Herrscher auch für euch so etwas wie ein Vater war. Zweitens kam es noch schlimmer, denn es sieht jetzt so aus, als würde ich zudem meinen gesamten Besitz und Hausstand verlieren. Meine Mutter wird, ob sie es will oder nicht, von einer Horde Freier belagert. Es sind das zwar alles ganz nette Menschen, Söhne der angesehensten Familien des Landes, doch weigern sie sich, den üblichen Weg der Brautwerbung über Ikarios zu gehen, den Vater Penelopeias, der meine Mutter mit dem Mann verheiraten müsste, der ihm qua Brautpreis und Sympathie am passendsten scheint. Aber nein, sie kommen Tag für Tag in unser Haus, schlachten für ihre Festgelage unsere Kühe, Schafe und fetten Ziegen, trinken unseren roten Wein, unbekümmert und in unglaublichen Mengen. Es ist niemand da wie Odysseus, der gegen diesen Skandal einschreiten könnte. Ich jedenfalls bin zu schwach dazu. Unsere Zukunft sieht düster aus, wir sind ratlos und wissen uns nicht zu helfen. Ja, wenn ich die Macht und die Mittel hätte, würde ich mich schon wehren, denn es ist nicht mehr schön, wie unser Haus verkommt.
Die Zustände sind unerträglich und sollten auch euch beunruhigen. Schämt ihr euch denn nicht vor den Nachbarn in der ganzen Umgebung? Habt ihr keine Angst vor dem Zorn der Götter, die sich aus Wut über die Übeltaten gegen euch wenden könnten? Ich jedenfalls flehe euch an, beim Zeus im Olympos und bei der gerechten Themis, der Schirmherrin aller Versammlungen: Macht dem bösen Treiben ein Ende, Leute! Jetzt! Isoliert und völlig am Boden zerstört würde ich vor euch stehen, wenn ihr es nicht tut. Hätte mein Vater Odysseus euch freie Achaier je beleidigt oder schlecht behandelt, hättet ihr Grund, mich als Feind zu betrachten und die Freier, eure Söhne, gegen mich aufzuhetzen! Dann wäre es ehrlicher, wenn ihr alle meine Herden schlachten würdet. Und nehmt euch doch gleich meine Güter, meinen ganzen Besitz! Dann werde ich wenigstens die Genugtuung haben, als Bettler durch die Stadt laufen zu können und euch mit meinen Klagen auf Wiedergutmachung zu nerven, bis ich alles wieder zusammengebettelt habe. So wie jetzt darf es nicht weitergehen, das halte ich nicht aus!"
Wütend warf er den Rednerstab auf den Boden, seine Augen waren voller Tränen. Alle waren betroffen, manche hatten sogar Mitleid. Schweigend saßen sie da, keiner hatte den Mut, etwas gegen Telemachos vorzubringen. Nur Antinoos sagte nach einer Weile:
"Telemachos, du Großmaul, das geht zu weit! Du verbreitest da Vorwürfe, die uns in ein äußerst schlechtes Licht rücken. Aber wir Achaier, die wir um Penelopeia werben, sind vollkommen schuldlos. Deine liebe Mutter selbst ist verantwortlich, sie hat die Dinge geschickt und mit Berechnung so arrangiert. Es geht nun schon drei Jahre, das vierte wird auch bald voll sein, dass sie mit den Gefühlen der Achaier Schindluder treibt und uns an der Nase herumführt. Sie macht uns Hoffnungen! Zwar vertröstet sie uns, aber dann sendet sie immer wieder eindeutige Signale aus und ermuntert jeden einzelnen von uns in seiner Freierrolle. In Wirklichkeit spielt sie ihr eigenes Spiel. Zum Beispiel hat sie sich folgenden Trick ausgedacht: Sie stellte in ihrem Gemach einen Webstuhl auf und begann, ein riesiges, feines Leinentuch zu weben. Uns sagte sie: 'Ihr jungen Männer, die ihr um mich werbt, da der edle Odysseus tot ist, ich bitte euch, drängt mich nicht zur Heirat, bis ich dieses Stück fertig gewebt habe. Sonst wäre ja der ganze Faden unnütz verschwendet! Ich mache ein Leichentuch für den Helden Laertes, damit in der Stunde, da ihn das düstere Los des Todes trifft, keine achaische Frau mir nachsagen kann, der alte hochverdiente Fürst läge ohne standesgemäße Bedeckung auf dem Totenlager.' Das war ihr Argument, mit dem sie uns Gutgläubige übertölpelte. Nun webte sie tagsüber fleißig an dem riesigen Tuch, trennte es aber nachts, im Fackelschein, regelmäßig wieder auf. So führte sie die Freier hinters Licht, ganze drei Jahre lang. Doch als dann schließlich das vierte Jahr heraufzog und die Horen den Kreis der Jahreszeiten vollendet hatten, da verriet es uns eine der Dienerinnen, die Bescheid wusste, und wir ertappten die feine Frau dabei, wie sie das Laken gerade mal wieder auftrennte. Von da ab musste sie, ob sie wollte oder nicht, die Arbeit zu Ende bringen.
Nun, Telemachos, dies ist die Antwort der Freier, dir an erster Stelle rate ich, sie ernst zu nehmen; alle anderen Achaier wissen damit auch, was der Stand der Dinge ist. Sag deiner Mutter, sie soll endlich das Haus verlassen und den Mann heiraten, den ihr Vater akzeptiert und den sie selbst mag. Wenn sie die Söhne der Achaier noch länger zum Narren halten will und allzu selbstbewusst auf die weiblichen Gaben vertraut, die Athene ihr in die Wiege gelegt hat - herrliche Handarbeiten anzufertigen, einfühlsam, sensibel und klug zu denken, aber auch hinterlistige Intrigen einzufädeln, wie wir sie noch niemals von einer Achaierin geboten bekamen, wie sie auch von den Frauen der Vorzeit nicht bekannt sind, nicht von Alkmene und Tyro oder der liebestollen Mykene, die alle bei weitem nicht so einfallsreich taktierten - kurzum, wenn sie so weitermacht, wird sie nicht gut damit fahren. Die Männer, die um sie freien, werden so lange weiter von deinem Vermögen zehren, wie sie ihr Spiel mit ihnen treibt, an dem die Götter sie anscheinend Gefallen finden ließen. Zwar gewinnt sie für sich unvergleichliches Ansehen und einen Ruf über die Landesgrenzen hinaus, doch du wirst dabei deinen ganzen Besitz los, Telemachos. Denn wir gehen erst dann auf unsere Güter zurück oder anderswohin, wenn sie einen von uns Achaiern zum Mann genommen hat."
Der bedächtige Telemachos erwiderte: "Antinoos, ich kann doch meine Mutter, die mich zur Welt gebracht und aufgezogen hat, nicht einfach aus dem Haus jagen, zumal ich nicht weiß, wie es um meinen Vater steht. Auch wäre es sehr hart für mich, die hohe Mitgift zurückzahlen zu müssen, die fällig wäre, wenn ich sie eigenmächtig ins Haus ihres Vaters schickte. Und kommt mein Vater doch noch heim, macht er mich dafür fertig! Noch schlimmer würden die Daimonen mich strafen, falls meine Mutter mich verfluchte und beim Verlassen des Hauses die Göttin der Rache anriefe, die grausame Erinnys. Und überhaupt: Kein vernünftiger Mensch würde mein Verhalten billigen. Kurz, ich kann sie nicht aus dem Haus vertreiben, und wenn euch meine Weigerung, das zu tun, nicht passt, dann verlasst doch selbst das Haus. Geht einfach anderswo essen, wo ihr selbst bezahlen müsst. Oder ladet euch gegenseitig ein, in eure eigenen Häuser. Aber euch passt es ja viel besser in den Kram, ohne Gegenleistung einen Wehrlosen auszunutzen. Macht ihr nur weiter so, ich aber werde die ewigen Götter anrufen! Wenn dann Zeus zur Tat schreitet und mir Rache gönnt, werdet ihr keine Gelegenheit mehr bekommen, eure Schulden zu begleichen, bevor ihr zugrunde geht."
Genau in dem Moment, als Telemachos dies sagte, ließ Zeus, der weithin schaut und alles sieht, vom Gebirge her zwei Adler herabfliegen. Majestätisch schwebten sie auf dem Wind heran, dicht beieinander, ohne einen Flügelschlag. Als sie genau über dem Markt waren, begannen sie zu kreisen, mit den Flügeln zu schlagen und unheildrohend auf die Menge herunterzublicken. Dann hackten sie mit den Schnäbeln aufeinander ein, schlugen sich gegenseitig die Fänge in die Hälse und schossen schließlich nach rechts über die Häuser und Menschen hinweg.
Die aber sahen staunend die riesigen Vögel und fragten sich bang, was dieses Zeichen für ihre Zukunft bedeutete. Halitherses, der greise Held, Mastors Sohn, ergriff das Wort. Er war der Begabteste in der Deutung des Vogelflugs und verstand die Winke des Schicksals:
"Ihr Ithaker, hört, was ich euch prophezeie! Besonders richte ich mich an die Gruppe der Freier. Für sie zieht Unheil herauf. Denn wahrlich, ich sage euch, nicht mehr lange wird Odysseus den Seinen fernbleiben, schon ist sein Kommen nahe. Tod und Verderben wird er den Freiern bringen! Und auch manch anderem von uns, die wir Ithaka, das aus der Ferne gut sichtbare, bewohnen, droht Unheil. Lasst uns, bevor es dazu kommt, überlegen, was wir gegen das dreiste Verhalten der Freier tun können. Eigentlich sollten sie es einsehen, denn sie selbst hätten letzten Endes den größten Vorteil davon. Ich prophezeie keineswegs einfach drauflos, sondern aus reicher Erfahrung. Schon jenem hat sich alles wortwörtlich erfüllt, wie ich es vorhergesagt hatte, dem, der mit den Argeiern nach Troja zog, dem Mann der tausend Schliche, Odysseus. Nach dem Verlust aller seiner Gefährten, nach unendlichen Leiden, so sagte ich damals, wird er, von niemandem, nicht einmal von den Seinen erkannt, im zwanzigsten Jahr in seine Heimat zurückkehren. Das alles wird sich jetzt erfüllen."
Darauf entgegnete Eurymachos, der Sohn des Polybos: "Mach, dass du nach Hause kommst, Alter, beglücke deine Enkel mit deinen Orakeln, damit ihnen nur ja nichts Böses zustößt. Ich weiß sehr genau und ohne Hokuspokus, was wirklich ist. Im Licht der strahlenden Sonne fliegen unzählige Vögel herum, und nicht alle verkünden irgendein Schicksal. Tatsache ist, dass Odysseus in der Fremde umgekommen ist. Wenn es nach mir ginge, hättest du ruhig mit ihm zusammen den gleichen Weg nehmen können! Dann blieben uns deine dummen Orakelsprüche erspart und du könntest Telemachos nicht aufhetzen in der Erwartung, dass er dir dafür Geschenke ins Haus bringen lässt.
Ich prophezeie dir auch etwas, und das wird sich tatsächlich erfüllen: Wenn du trotz deiner ach so langen und reichen Erfahrung den jungen Mann in seiner aufmüpfigen Haltung weiter bestärkst, dann wird er als erster darunter leiden: Er wird nämlich bei den Freiern überhaupt nichts mehr zu melden haben. Und dir selbst, Opa, werden wir deine miese Polemik derart heimzahlen, dass du dich noch schwarz ärgern wirst, wenn du die Folgen am eigenen Leib spürst.
Telemachos fordere ich hiermit in aller Öffentlichkeit auf, seiner Mutter zu raten, aus dem Haus und zu ihrem Vater zu gehen. Dort können die Freier um sie werben und Geschenke abliefern, wie sie einer so gefragten Tochter angemessen sind. Dann erst, das ist meine Meinung, werden die Söhne der Achaier die Brautwerbung im Haus des Odysseus einstellen. Wir brauchen uns von nichts und niemand bange machen zu lassen, weder von Telemachos, macht er auch noch so viel Worte, noch von windigen Orakeln, mit denen du uns beschwatzen willst, Alter, und die dich bei uns nicht gerade beliebter machen. Solange diese Frau Heiratsabsichten hat, uns aber hinhält, werden wir Kosten verursachen. Und das wird nun mal teuer, da wir nichts zu erstatten brauchen. Wir werden weiter um diese außergewöhnliche Frau wetteifern, Tag für Tag, und bis dahin andere Weiber, die ein jeder unseres Standes leicht kriegen könnte, links liegen lassen."
So weit Eurymachos. Telemachos dachte scharf nach und hielt ihm entgegen: "Ich will mich nicht wiederholen, Eurymachos. Weder dich noch die anderen Freier werde ich ein zweites Mal bitten, denn sowohl den Göttern als auch den Achaiern reicht es, einmal zu hören, was ich gesagt habe. Nun zu etwas ganz anderem. Ich möchte ein schnelles Schiff und zwanzig Leute, um eine Reise zu unternehmen. Ich will nach Sparta und dann ins sandige Pylos, um mich nach dem Verbleib meines verschollenen Vaters zu erkundigen. Vielleicht weiß einer der Menschen dort etwas über ihn. Oder ich bekomme von Zeus ein Zeichen, was natürlich weit verlässlicher wäre. Wenn ich herausfinde, dass mein Vater lebt und sich auf dem Weg nach Hause befindet, werde ich die beklagenswerte Situation hier noch für ein Jahr tolerieren. Erfahre ich aber, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt, dann errichte ich, sobald ich zurück bin im geliebten Land der Väter, ein Grabmal für den Verstorbenen und feiere ausgiebig die Totenriten, wie es Sitte ist. Anschließend lasse ich meine Mutter sich neu vermählen."
Nach dieser Rede setzte er sich, und aus dem Kreis erhob sich Mentor, der treue Freund des Odysseus. Ihm hatte der Held bei seiner Abfahrt das Haus anvertraut, um das er sich, unter der Leitung des alten Laertes, kümmern sollte. Einen guten Rat hatte Mentor nun für die Versammlung parat:
"Hört, ihr Leute von Ithaka, was meine Meinung dazu ist. Ihr habt in Zukunft keinen König mehr verdient, der aufrichtig, freundlich, gerecht oder gar mild ist. Nein, ein bösartiger Despot wäre das Richtige für euch! Keiner von euch denkt mehr an den göttlichen Odysseus und dankt ihm dafür, dass er wie ein gütiger Vater zu euch war. Den überaus virilen Freiern kann ich nicht einmal böse sein, dass sie in ihrem Ungestüm Dinge tun, die Unheil nach sich ziehen. Sie riskieren immerhin etwas, nämlich Kopf und Kragen, wenn sie des Königs Hab und Gut verprassen, in der Annahme, er käme nicht wieder. Viel schlimmer finde ich die Einstellung des übrigen Volkes: Ihr sitzt hier 'rum, schweigt euch aus, und nicht einer von euch traut sich, etwas gegen das Grüppchen der Freier zu sagen, sie zu bremsen, obwohl ihr doch in der Überzahl seid."
Dagegen wandte sich sofort Leiokritos, der Sohn des Euenor: "Mentor, du unverschämter Wirrkopf, du wagst es, gegen uns zu hetzen und willst uns bremsen? Das dürfte schwierig werden: Wer aus der schweigenden Mehrheit würde wegen ein paar lächerlicher Mahlzeiten einen Kampf riskieren? Und käme Odysseus höchstpersönlich, der hehre Held Ithakas, und nähme sich vor, die edlen Freier, die in seinem Palast feiern und schmausen, gewaltsam aus dem Männersaal zu säbeln, es wäre ein trauriges Wiedersehen für seine Gattin. Bei dieser Übermacht erginge es ihm schlecht, er wäre auf der Stelle tot. Nein, Mentor, deine Argumente ziehen nicht. - Geht nun auseinander, Männer, ein jeder an seine Arbeit. Um unseren Kleinen hier und seine Reise werden Halitherses und Mentor sich schon kümmern, sie sind ja Freunde seines Vaters. Dabei scheint es mir viel wahrscheinlicher, dass er auf Ithaka hocken bleibt, um ja kein Gerücht zu verpassen; er wird nie losfahren."
Nach diesen Worten löste sich die Versammlung rasch auf. Man zerstreute sich, ein jeder ging in sein Haus. Die Freier aber trafen sich wieder im Haus des göttlichen Odysseus.
Telemachos jedoch machte sich auf den Weg zum Strand, wusch seine Hände im grauen Meerwasser und betete zu Pallas Athene: "Erhöre mich, Gottheit, die du mich gestern in meinem Haus besucht hast! Du hast mir aufgetragen, mit einem Schiff auf die dunstige See hinauszufahren, um etwas über meinen verschollenen Vater herauszufinden. Doch die Leute unterstützen meine Pläne nicht, am wenigsten natürlich die Freier, diese Mistkerle."
Und als er so betete, da trat an seine Seite die Göttin Athene. Sie war von Mentor, was Stimme und Aussehen betraf, in nichts zu unterscheiden. Sie sprach ihm wieder Mut zu: "Bitte keine kindischen Rückfälle, Telemachos, nicht den Kopf verlieren! Und ab jetzt keine schlechte Laune mehr! In dir steckt doch der Mut und der Elan deines Vaters, der tat, was er sagte und zu Ende brachte, was er begann. Genauso wirst du deine Pläne mit Erfolg durchführen. Bist du aber nicht sein und Penelopeias Sohn, dann allerdings fürchte auch ich, dass du nicht schaffst, was du dir vorgenommen hast. Wenige Söhne erreichen ja das Niveau ihrer Väter, die meisten bleiben darunter, nur seltene Ausnahmen übertreffen es. Da du aber nie wieder schlaff und missmutig sein wirst, und auch die vorausplanende Intelligenz und Gerissenheit deines Vaters in dir steckt, besteht durchaus Hoffnung! Du wirst schon schaffen, was du dir vorgenommen hast. Kümmere dich nicht darum, was die Freier denken und sagen: Ihr Rechtsbewusstsein ist so unterentwickelt wie ihr Verstand. Sie ahnen nicht einmal, dass der Tod und die schwarze Unheilsgöttin auf sie warten, ja dass der Tag ihres Endes schon feststeht.
Du wirst in Kürze auf dem Weg sein, wie du es geplant hast. Als Freund deines Vaters bin ich auch dein Freund; ich werde dir ein schnelles Schiff besorgen und dich begleiten. Aber nun geh nach Hause und mische dich ganz normal unter die Freier. Beschaffe Reiseproviant und verpacke alles gut: Wein in Amphoren, Gerstenmehl, das Mark der Männer, in dichte Ledersäcke. Ich werde im Volk Gefährten suchen, die mitfahren. Schiffe, alte wie neue, gibt es ja auf Ithaka, das vom Meer umspült wird, jede Menge. Ich suche das beste aus, wir laden ein, was wir brauchen, und ab geht's auf die weite See." So motivierte ihn die Tochter des Zeus aufs Neue, die feurige Athene.
Telemachos hielt sich nicht lange auf und ging, nachdem die Göttin gesprochen hatte, zurück in den Palast. Mit Unmut sah er, wie die arroganten Freier im Hof seinen Ziegen das Fell über die Ohren zogen und seinen gutgemästeten Sauen die Borsten sengten.
Lachend kam ihm Antinoos entgegen, nahm seine Hand - ohne sie wieder loszulassen - und sagte: "Na, Telemachos, du großer Redner, du bist rhetorisch ja wirklich unschlagbar! Aber jetzt vergiss mal Streit und Feindschaft, Schwamm drüber. Komm, iss und trink mit uns wie in alten Zeiten. Die Achaier werden dir schon geben, was du willst, ein tolles Schiff und eine erstklassige Mannschaft, bestimmt! Dann kannst du ins sandige Pylos sausen und dich dort nach deinem werten Vater erkundigen."
Telemachos antwortete überlegt: "Nein, Antinoos, danke. Ich kann mein Essen in eurer doch etwas lauten Gesellschaft nicht in Ruhe genießen. Euch reicht es anscheinend noch nicht, dass ihr mein Erbe, die Basis meines zukünftigen Wohlstands, angegriffen habt, als ich noch ein Kind war. Nun aber bin ich erwachsen, höre, wie andere Leute die Dinge einschätzen, denke mir selbst meinen Teil und lerne meine eigenen Kräfte kennen. Für die nächste Zeit habe ich kein anderes Ziel, als euch die üblen Todesdaimonen auf den Hals zu hetzen, egal ob von Pylos oder von hier aus. Ich werde fahren und die Reise wird etwas bringen! Selbst wenn ich nur als Passagier irgendwo mitreise. Denn ich glaube nicht, dass ich ein eigenes Schiff samt Mannschaft bekommen werde. Ihr habt mich ja dabei auch nicht gerade unterstützt." Mit diesen Worten entzog er dem Antinoos seine Hand.
Die anderen Freier, die im Haus mit den Essensvorbereitungen beschäftigt waren, begannen ihn zu reizen und zu verspotten. Einer der jungen Kerle rief zum Beispiel: "Ach du meine Güte, Telemachos grübelt schon wieder! Er will uns an den Kragen, wie tödlich! Er gibt sich wirklich Mühe! Nun holt er sich auch noch Verstärkung aus dem sandigen Pylos oder sogar aus dem knallharten Sparta. Vielleicht fährt er sogar bis ins fruchtbare Ephyra, wo auf fetter Scholle giftige Kräuter gedeihen, die er uns dann in die Weinkrüge schüttet. Dann sind wir endgültig hin!"
Und unter dem Gelächter der aufgekratzten Freier bemerkte ein anderer: "Oje, wer weiß, unter Umständen geht er mit seinem Schiff irgendwo verloren oder gar unter, fern den lieben Seinen, genau wie Odysseus. Das wäre aber hart! Wir hätten noch mehr Mühe und Arbeit als bisher: Seinen gesamten Besitz müssten wir dann unter uns verteilen! Das Haus zum Glück nicht, das bliebe ja seiner Mutter erhalten und ihrem zukünftigen Gatten." So scherzten sie miteinander.
Telemachos aber ging in den Keller, der sehr groß war und eine gewölbte, hohe Decke hatte. Dort lagerten haufenweise Gold und Erz, Truhen voller Gewänder, Gefäße voll duftender Öle und fässerweise alter, wohlschmeckender Wein; ein göttliches Gesöff, rein und ohne streckende Zusätze. Reihenweise ruhten die Fässer da, hinten an der Wand, und warteten darauf, Odysseus zu trösten, wenn er nach unendlichen Durststrecken wieder heimkehrte. Davor aber stand ein aus soliden Brettern gebauter Verschlag mit abschließbarer Doppeltür. Den einzigen Schlüssel hatte die mit allen Wassern gewaschene Haushälterin, die Tag und Nacht über die Vorräte wachte: Eurykleia, die Tochter des Ops, der wiederum von Peisenor abstammte.
Telemachos rief sie herbei und sagte zu der Alten: "Mütterchen, füll mir Wein in Krüge mit zwei Henkeln; eine gute, süffige Qualität bitte, die beinahe an den Göttertrunk heranreicht, den du in deiner Weisheit für den Unglücklichen zurückbehältst, falls er den Keren, den Botinnen des Todes und der Nacht, von der Schippe springt und doch noch heim kommt, dieser Geniestreich der Götter, mein Vater Odysseus. Mach ein dutzend Amphoren voll, verschließe sie mit Deckeln, und füll mir auch noch Gerstenmehl ab, zwanzig Maß, feingemahlen in der Schrotmühle; aber in Säcke bitte, deren Nähte dichthalten. Keiner außer dir darf davon wissen! Wenn du alles beisammen hast, komme ich es holen, abends, nachdem meine Mutter auf ihr Zimmer gegangen ist, um sich schlafen zu legen. Denn ich fahre nach Sparta und ins sandige Pylos, um mich umzuhören, ob jemand etwas über die Rückkehr meines lieben Vaters weiß."
Entsetzt schrie Eurykleia auf, seine treusorgende Amme, und unter Jammerklagen sprudelten die Worte aus ihr: "Was hast du dir bloß in den Kopf gesetzt, mein Kindchen! Du, unser einziger, unser Liebling? Was willst du da draußen in der weiten Welt? Wir haben doch schon Odysseus in der Fremde verloren. Und sobald du weg bist, hat man hier Gelegenheit, böse Komplotte, sogar Mordpläne gegen dich auszuhecken. Sie werden restlos alles, was dir gehört, unter sich aufteilen. Ach, bleib doch hier bei den Deinen! Was bringt es denn, auf den wilden Weltmeeren herumzuirren und üble Erfahrungen zu machen." Ihr hielt der bedächtige Telemachos, der sich alles gut überlegt hatte, entgegen: "Nur Mut, Mütterchen, es wird schon werden! Mein Entschluss kam nicht ohne göttlichen Zuspruch zustande. Aber schwöre mir, dass du meiner lieben Mutter nichts sagst, zumindest die nächsten elf, zwölf Tage nicht. Gut, wenn sie mich arg vermisst oder eh von anderen hört, dass ich abgereist bin, dann tröste sie. Sonst verderben ihr die Tränen noch den makellosen Teint."
Und die Alte schwor bei den Göttern den heiligen Eid. Nachdem sie geschworen und den Schwur mit der korrekten Formel abgeschlossen hatte, goss sie sofort Wein in Krüge mit zwei Henkeln und füllte Gerstenmehl in Säcke, deren Nähte dicht hielten. Telemachos ging wieder in den Männersaal, wo die Freier zusammensaßen.
Da ersann Athene, die Göttin mit den strahlenden Augen, wieder etwas Neues: Sie nahm die Gestalt des Telemachos an und lief, von ihm äußerlich durch nichts zu unterscheiden, kreuz und quer durch die Stadt, sprach mit verschiedenen Männern und bat sie, sich gegen Abend im Hafen zu versammeln. Um das Schiff bat sie den gut beleumdeten Noëmon, den Sohn des Phronios, der es bereitwillig auslieh.
Die Sonne war untergegangen, dunkel lagen Straßen und Wege, als sie das Schiff ins Wasser zog, all die Gerätschaften an Bord brachte, die ein gutes Ruderschiff mit Oberdeck nun einmal braucht, und es am Ende des Hafens vertäute, wo die braven Gefährten schon gut gelaunt versammelt waren. Denn die Göttin war einfach mitreißend. Und noch einen Einfall hatte Athene mit den strahlenden Augen: Sie ging zum Haus des Odysseus und goss hypnotisch Müdigkeit aus über die Freier. Die ohnehin schon Angetrunkenen machte sie volltrunken und derart orientierungslos, dass ihnen die Becher aus den Händen glitten. Das starke Schlummerbedürfnis zwang alle, den Palast zu verlassen und heim in ihre Betten zu taumeln. Sie hätten sich auch gar nicht mehr auf ihren Stühlen halten können, so schwer hatte sich der bleierne Schlummer auf ihre Augen gelegt. Telemachos aber holte Athene noch vorher aus dem wohnlichen Saal, und von Mentor war sie nicht zu unterscheiden für den, der sie sah und ihre Stimme hörte.
"Komm, Telemachos, die Gefährten sitzen bereits in ihren schönsten Rüstungen an den Rudern und warten auf dich. Beeilen wir uns, damit sich die Abfahrt nicht weiter verzögert."
Nach diesen Worten ging Pallas Athene schnellen Schritts voraus, und Telemachos folgte ihr auf dem Fuße. Als sie unten am Meer und beim Schiff angelangt waren, trafen sie am Strand auf die Gefährten, die stolz ihr Haar lang trugen. Mit einmal verdammt energisch sagte Telemachos:
"Los, Freunde, jetzt holen wir den Reiseproviant. Alles liegt schon im Palast bereit. Meine Mutter weiß von nichts, auch die Dienerinnen haben nichts gemerkt, nur eine einzige weiß Bescheid."
Er ging schnellen Schritts voraus und die anderen folgten ihm auf dem Fuße. Sie schafften die Vorräte heran und verstauten sie auf Befehl von Telemachos am Boden des Schiffs. Er ging als zweiter an Bord, Vortritt hatte Athene, die auf dem Achterdeck Platz nahm. Er setzte sich direkt an ihre Seite. Die andern banden die Haltetaue los, gingen an Bord und setzten sich an die Ruder. Athene besorgte günstigen Wind, eine kräftige westliche Brise brauste über die dunklen Wogen. Der Sohn des Odysseus wies seine Gefährten an, die Takelage klarzumachen. Sie taten, was er sagte, stellten den hohen Mast aus Tannenholz auf, sicherten ihn im Mastfuß, zurrten die Seile fest und zogen mit geflochtenen Lederriemen das weiße Segel empor. Der Wind fuhr hinein, blähte es auf, Gischt spritzte um den Bug. Das Schiff nahm schnell Fahrt auf und glitt durch die dunklen Wellen, von der Strömung noch beschleunigt, hin zum Ziel der Reise. Und als auf dem teerschwarzen Schiff die Segel gerichtet und alle Taue befestigt waren, stellten sie die Krüge voll schäumenden Weines vor sich hin, vergossen einige Tropfen auf das Deck als Opfer an die unsterblichen Götter - und besonders an die Göttin mit den strahlenden Augen - und tranken. Hin durch die Nacht schoss das Schiff und erreichte frühmorgens sein Ziel.