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2. Was ist eine schöpferische Besprechung?

Gesellschaften müssen, um lebensfähig zu bleiben, sowohl produktiv als auch schöpferisch sein. Diese zwei Eigenschaften koexistieren nicht so ohne weiteres. Die Balance zwischen den beiden muss immer wieder neu bewertet und kreiert werden.30

– Richard Lester und Michael Piore –

Der Begriff Besprechung hat eine klare Bedeutung – scheinbar.31 Wir verstehen darunter eine Kommunikationsform mit einem bestimmten Beginnzeitpunkt, einem, oftmals weniger bestimmten, Endzeitpunkt und – besonders wichtig – klar definierten Zielen. So betrachtet sieht es so aus, als ob Besprechungen sich zwar durch ihre Zeitdauer, durch ihre Ziele und durch die Teilnehmer unterscheiden, dass aber darüber hinaus keine Unterschiede zwischen Besprechungen bestehen. Diese Hypothese ermöglicht, anscheinend Allgemeingültiges zum Ablauf von Besprechungen zu äußern. Aber die Behauptung, dass es für Besprechungen universelle Normen der Gestaltung, der Leitung und der Moderation gibt, entspricht nicht der Wirklichkeit.

2.1 Die zwei Grundprozesse in Organisationen

In jeder Organisation gibt es zwei grundlegende, aber sehr unterschiedliche Prozesse: die Produktion bzw. die Erbringung einer Dienstleistung einerseits und die Entwicklung bzw. Innovation andererseits. Es ist die Aufgabe der Produktion bzw. das Ziel einer Dienstleistung, gleich bleibende Qualität zu erbringen und dabei die möglichst fehlerfreie Reproduktion definierter Merkmale sicherzustellen. Die Entwicklung hingegen soll etwas Neues – ein Produkt, eine Leistung, einen Prozess, eine Strategie, eine Technologie, einen Markt, einen Ablauf, einen Nutzen – hervorbringen, das sich vom Bisherigen möglichst deutlich unterscheidet. Das Wesen der Leistungserbringung ist voraussagbare Wiederholung, das Wesen der Entwicklung ist Erkundung und Veränderung.32

Diese zwei Grundprozesse unterscheiden sich nun nicht nur im Großen, sondern auch in den Aspekten, die in dem jeweiligen Prozess von Bedeutung sind (s. Abb. 1).


Abb. 1: Aspekte der zwei Grundprozesse © Mandl/Hauser/Mandl 2008

Diese Unterschiedlichkeit der zwei Grundprozesse in Organisationen spiegelt sich auch in der Unterschiedlichkeit der zwei Zieltypen: Was ist in einer Organisation ein Ziel? Typische Ziele sind etwa die Lieferung eines bestimmten Produktes bzw. das Erbringen einer vereinbarten Leistung, wie etwa der Bau eines Gebäudes, die Heilung einer Kranken, die Lieferung eines Autos, kurzum, die meisten Ziele einer Organisation sind rund um ihre Produkte und Dienstleistungen definiert. Dies ist nicht überraschend, da alle Organisationen ihre Existenz der Erreichung solcher Ziele verdanken.

Es gibt aber auch interne Ziele, also solche, die für die Kunden und Leistungsempfänger nicht sichtbar werden, wie etwa die Weiterbildung der Mitarbeiter, die Einführung eines neuen EDV-Systems, die Realisierung einer Investition zur Rationalisierung, zur Durchlaufzeitenreduktion oder zur Qualitätsverbesserung.

Alle diese Ziele lassen sich klar beschreiben, denn es sind vertraute Ziele. Ähnliche Aufträge, ähnliche Aufgaben und ähnliche Investitionsvorhaben wurden schon früher erledigt. Die Mitarbeiter, die daran beteiligt waren, wissen, was zu tun ist. Falls es in Vergessenheit geraten ist, gibt es Aufzeichnungen, Arbeitspläne, Projektpläne und dergleichen. Die Tatsache, dass diese Ziele klar spezifiziert werden können, bedeutet allerdings nicht, dass sie einfach zu erreichen sind. Technologische Veränderungen, spezifische Anforderungen von Kunden oder an Investitionsprojekte stellen Probleme dar, die gelöst werden müssen. Besprechungen dienen dazu, diese Probleme zu lösen, sodass die Ziele effizient erreicht werden können.

Doch Organisationen arbeiten auch an der Erreichung gänzlich anderer Ziele. Nehmen wir etwa das Ziel, ein attraktives Gebäude oder eine geschmackvolle Kleidungskollektion zu entwerfen. Nehmen wir so unterschiedliche Produktentwicklungsziele wie einen neuen Impfstoff für HIV-Erkrankte, einen auf Kernfusion basierenden Reaktor oder ein Auto, das nicht mehr als drei Liter Benzin pro 100 km verbraucht. Nehmen wir das Ziel, eine neue Dienstleistung zu konzipieren und erfolgreich zu den potentiellen Kunden zu bringen, wie z.B. Reisen ins Weltall, ein neues Universitätsstudium oder die Entfernung des Feinstaubs von den Straßen. Nehmen wir schließlich das interne Ziel, die Durchlaufzeiten von Aufträgen so zu reduzieren, dass sie um drei Prozent unter denen aller Mitbewerber liegen, oder das Ziel, eine sinnvolle Vision, ein Leitbild oder eine umsetzbare Strategie zu entwickeln und zu implementieren.

Die letztgenannten Ziele, wir nennen sie Ziele II, unterscheiden sich von den erstgenannten Zielen, wir nennen sie Ziele I, deutlich:

• Die Erreichung eines Ziels II kann nicht erzwungen werden, selbst wenn sehr viele Mittel und Personen zur Verfügung stehen.

• Es ist unklar, wie vorgegangen werden muss, um ein Ziel II zu erreichen. Die Vorgehensweise selbst muss erst erarbeitet werden und bleibt bis zur Zielerreichung mit dem Zweifel behaftet, ob es die richtige ist.

• Es kann nicht einfach damit begonnen werden, ein Problem zu lösen, weil es »das Problem« nicht gibt oder weil dieses zunächst verborgen bleibt.

Ziele II sind Ziele, die im Vergleich zu den Zielen I wesentlich schwieriger erreichbar sind, weil Neuland betreten werden muss. Es kann sogar sein, dass einige Ziele II grundsätzlich nicht erreichbar sind. Dies erkennt man mitunter erst im Scheitern. Sowohl für Ziele I als auch II bedarf es mehrerer mitunter auch sehr vieler Personen, um sie zu erreichen. Ohne dass einige dieser Personen miteinander reden, in Besprechungen, Meetings oder Sitzungen, ist dies nicht zu schaffen. Aber sollte die Art und Weise, wie eine Besprechung bei Ziel II-Vorhaben abläuft, dieselbe sein, wie eine Besprechung bei Ziel I-Vorhaben? Sollte die jährliche Strategieklausur genauso ablaufen wie der wöchentliche Jour fixe in der Arbeitsvorbereitung?

Unsere Erfahrung ist, dass Entwicklungsprozesse andere Besprechungsformen erfordern als leistungserbringende Prozesse.

Die Unterschiedlichkeit der zwei Zieltypen und die Konsequenzen daraus für die Besprechungen werden aber kaum beachtet. Denn in vielen Besprechungen wird über Ziel I- und Ziel II-Vorhaben in bunter Abfolge geredet. Diese Vermischung bewirkt, dass eine Besprechungsform dominiert, die sich bei Zielen der Kategorie I in jahrzehntelanger Praxis scheinbar bewährt hat. – Ob sie sich wirklich bewährt hat, sei dahingestellt, denn dazu müsste es zumindest zwei Besprechungsmodelle in derselben Organisation geben, sodass diese erprobt und miteinander verglichen werden können. Bemerkenswerterweise ist innerhalb einer Organisation aber wenig so durchgängig einheitlich wie die Art der Besprechung.

2.2 Produktive Besprechungen

Begrifflichkeiten sind wie Bilder. Ein bestimmter Begriff erzeugt in uns, meist ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind, eine Vorstellung. Und diese Vorstellung wiederum bewegt uns, die Realität zu kreieren, die zu unserer Vorstellung passt. Eine produktive Besprechung ist eine Besprechung, die produktiv ist. Produktiv bedeutet, ein Produkt oder eine Dienstleistung in möglichst kurzer Zeit, in gleich bleibender Qualität und mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu erbringen. Diese Vorstellung von Produktivität ist beinahe universell; vermutlich weil bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Konzept hierfür entwickelt wurde, die so genannte wissenschaftliche Betriebsführung.33 Dieses Konzept wurde seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und nimmt in allen Unternehmen einen zentralen Stellenwert ein. Auf höhere Produktivität zu setzen gilt als strategischer Wettbewerbsvorteil.

In dem Maße, in dem Besprechungen zunahmen und damit ihr Anteil am gesamten Mitteleinsatz der Unternehmen immer größer wurde, mussten auch Besprechungen immer produktiver werden. Die verbreitete Vorstellung von »Produktivität« wurde den Besprechungen übergestülpt. Besprechungen sind dann produktiv,

– wenn sie dazu führen, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig Mitteleinsatz erzeugt bzw. erbracht wird, und

– wenn die Besprechung selbst in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenigen Personen stattfindet.

Eine beinahe archetypische Besprechung ist der wöchentliche Jour fixe zur Arbeitsvorbereitung in der Produktion oder am Bau. In dieser Besprechung werden die zu erledigenden Arbeiten besprochen und abgestimmt, außerdem wird festgelegt, wer was wann und wie macht. – Immer wieder stellen wir mit Erstaunen fest, dass die meisten Menschen, auch jene, die nie in einem Produktionsbetrieb tätig waren, dieses archetypische Bild einer produktiven Besprechung in sich tragen und ihre aktuellen Besprechungserlebnisse damit vergleichen. Besprechungen, so die verbreitete Meinung, haben produktiv zu sein und wenn sie dies nicht sind, dann sind die daran teilnehmenden Personen unzufrieden.

Produktive Besprechungen sind wesentlich, um Produkte oder Dienstleistungen (wieder und wieder) möglichst effizient und damit kostengünstig herzustellen. Aber um Neues hervorzubringen – also für Ziel II-Vorhaben – sind sie unpassend, mitunter sogar kontraproduktiv.

2.3 Schöpferische Besprechungen

Um Neues hervorzubringen genügt es nicht, Kreativitätstechniken zu verwenden. Diese sind zwar geeignet, vorgegebene Probleme zu lösen. Sie sind indes nicht geeignet herauszufinden, welches Problem überhaupt gelöst werden soll, welches Thema gerade wichtig ist oder welche Aufgabe angegangen werden soll. Menschen, die tief im Lösen eines Problems, im Bewältigen einer Krise stecken, übersehen leicht, dass es immer beliebig viele Probleme und Krisen gibt, aus denen ausgewählt werden kann und muss. Dieser Prozess des Auswählens ist jedoch der wichtigste Aspekt jeder schöpferischen Tätigkeit. Wahrhaft schöpferisch wird eine Besprechung dadurch, dass dieser Prozess des Auswählens eines Problems oder einer Aufgabenstellung selbst Teil der Besprechung ist.

Noch bevor Sinneseindrücke bewusst wahrgenommen werden, wird gefiltert, welche dieser Sinneseindrücke bedeutsam sind. Das Bewusstsein gaukelt zwar vor, alles wahrzunehmen, tatsächlich erlangt aber nur ein Bruchteil der gesamten Sinneseindrücke das Bewusstsein. Erst danach setzt jener aktive Prozess ein, die Aufmerksamkeit auf die eine oder andere Sache zu konzentrieren.34

Dieser individuelle Prozess des Filterns und des Lenkens von Aufmerksamkeit spielt sich kollektiv auch in Besprechungen ab. Weil aber jeder Mensch andere Filter der Wahrnehmung hat, können in Besprechungen die unbewussten Wahrnehmungsfilter dadurch auf ein Minimum reduziert werden, dass darüber gesprochen wird, was jede Person für bedeutsam hält. Dem Phänomen des Groupthink wird so vorgebeugt. Aus der Fülle bedeutsamer Themen erhält in einer schöpferischen Besprechung jeweils eines besondere Beachtung, solange, bis die Zeit reif für das nächste bedeutsame Thema ist.35

Ein wesentliches Merkmal schöpferischer Besprechungen ist, dass es zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten kommen kann, ja kommen muss. Je wichtiger der Gruppe die identifizierten Probleme, Themen oder Aufgaben sind, desto emotioneller werden solche Meinungsdifferenzen – bis hin zu persönlichen Konflikten. In produktiven Besprechungen hingegen sind Meinungsdifferenzen unerwünscht, werden als Hindernis gesehen und beseitigt.

In Ziel II-Vorhaben sind aber solche Meinungsdifferenzen viel zu wichtig, um sie zu negieren oder einfach einer Sichtweise den Vorzug zu geben. Neues entsteht, wenn Ideen, Kenntnisse und Erfahrungen verschiedener Personen in den Entstehungsprozess einfließen. Je konträrer die Ideen, Kenntnisse und Erfahrungen zunächst sind, desto radikaler ist das daraus entstehende Neue, wenn, ja wenn die beteiligten Personen es schaffen, ihre unterschiedlichen Auffassungen und Sichtweisen zu etwas gemeinsamen Neuen zu verbinden, nicht als Kompromiss, sondern als neue Erkenntnis.

Als Christoph Hochschulassistent an der ETH Zürich war, trafen alle Mitglieder desselben Instituts einander täglich, vormittags und am Nachmittag, für jeweils 20 Minuten zum gemeinsamen Kaffeetrinken. Wer immer am Institut war, der kam, auch Gäste. Sie tranken Kaffee und redeten miteinander. Es gab keine vorgegebene Agenda, deshalb wurde über alles Mögliche gesprochen, aber auch über die unterschiedlichen Forschungsvorhaben. Die Gespräche waren freundschaftlich und von einem Klima gegenseitigen Interesses getragen. Für neue Doktoranden, so auch für Christoph, war die zentrale Frage, worüber die Doktorarbeit handeln sollte. Niemand hatte darauf eine direkte Antwort. Diese Frage war auch auf keiner Tagesordnung so genannter Institutsbesprechungen. Aber in diesen Pausengesprächen formte sich bei Christoph mit der Zeit das Bild von dem Problem, dem er sich in der Doktorarbeit widmen wollte. Diese Gespräche ermöglichten es ihm auch zu erfahren, wie andere die Bedeutung dieses Themas sahen. Von allen Gesprächen am Institut waren diese die schöpferischsten, denn in ihnen wurden viele der neuen Forschungsideen geboren.

Gespräche, in denen die daran Beteiligten zu gemeinsamen neuen Erkenntnissen oder Einsichten gelangen, sind unabdingbar, um Entwicklung, um technologische oder andere Veränderung, um Forschung und um Lernen zu ermöglichen. Solche Gespräche finden in jeder Organisation, die Neues erschafft, statt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es für diese »Besprechung der anderen Art« kein gängiges Wort gibt. In der Philosophie wurde ein solches Gespräch als »Dialog«36 bezeichnet, in der Managementlehre wurden solche Gespräche als »Team-Lernen«37 und in den Ingenieur- und Sozialwissenschaften als »interpretierende bzw. bedeutungsgebende Gespräche«38 bezeichnet. Wir haben uns entschieden, solche Gespräche »schöpferische Besprechung« zu benennen, weil sie schöpferischen Prozessen in Organisationen zugrunde liegen.

Produktive Besprechungen sind für den Kernprozess Produktion bzw. für die Erbringung einer Dienstleistung notwendige unterstützende Tätigkeiten. Schöpferische Besprechungen hingegen sind bei Entwicklungen bzw. Innovationen der Kernprozesse selbst wichtig. Schöpferische Besprechungen sind daher nicht nur notwendige Voraussetzung für die eigentliche Arbeit, sie sind die eigentliche Arbeit.

2.4 Wann ist eine Besprechung schöpferisch?

Produktiv sind Besprechungen dann, wenn in möglichst kurzer Besprechungsdauer die zu erledigenden Arbeiten und Aufgaben geklärt, strukturiert und verteilt sind. Ob Besprechungen hingegen schöpferisch sind, ist nicht so einfach festzustellen. Nicht zu jedem Zeitpunkt einer schöpferischen Besprechung ist ersichtlich, ob man dem angestrebten Ziel II wirklich näher gekommen ist. Dies liegt vor allem an der multidimensionalen Qualität solcher Besprechungen:

• Persönlich Bedeutsames wird ausgesprochen,

• Informationen werden interpretiert,

• Wahrnehmungen wird Bedeutung gegeben,

• Sichtweisen werden anerkannt,

• Meinungsverschiedenheiten wird auf den Grund gegangen,

• Annahmen werden hinterfragt,

• Erkenntnisse werden gewonnen,

• Mentale Modelle werden offenbar,

• Verständnis wird gestiftet,

• Beziehungen werden vertieft,

• Intentionen werden entdeckt,

• Engagement und Commitment werden geschaffen,

• Personen werden integriert und

• Vorgehensweisen werden synchronisiert.

Kriterium für schöpferische Besprechungen ist, dass zu jedem Zeitpunkt eine dieser Qualitäten präsent ist. Im Laufe einer Besprechung sollten aber alle Qualitäten erfahren werden.

Martin Buber hat dieses Schöpferische in der ihm eigenen Sprache so beschrieben: Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche Fruchtbarkeit.

2.5 Besprechungsparadigmen

In kaum einer Organisation wird zwischen produktiven und schöpferischen Besprechungen unterschieden. Daher kann nicht über deren Unterschiede gesprochen, kann schwer deren Gestalt wahrgenommen werden – und daher können letztlich unterschiedliche Besprechungsformen nicht absichtsvoll kreiert oder erlernt werden.

Ein gutes Beispiel für einen solchen Wahrnehmungsprozess ist Oberton-Singen.39 Dies ist eine zentralasiatische Singform, bei der über einen mit den Stimmbändern erzeugten Ton ein reiner Oberton entsteht. Physikalisch geschieht dies durch die schwingende Luftsäule in der Mundhöhle. Der Zuhörer hört somit zwei Töne – einen tiefen Grundton und einen sehr hohen, reinen Oberton. Die Schwierigkeit beim Lernen von Obertonsingen ist, dass Ungeübte zunächst den Oberton nicht hören, obwohl er da ist. Erst nach und nach nimmt ein Ungeübter den Oberton, zunächst nur als Veränderung der Tonfarbe des Grundtones, wahr, dann als eigenen, ganz leisen Ton und schließlich – und das ist das wahrhaft Verblüffende – hören Geübte nur mehr den Oberton und nicht mehr den Grundton. Und erst wenn ein Neuling gelernt hat, seine eigenen Obertöne zu hören, kann er sein Obertonsingen verbessern.

So wie leistungserbringende Prozesse von Entwicklungsprozessen grundverschieden und nicht in einen Prozess vereinbar sind, so sind auch produktive und schöpferische Besprechungen miteinander unvereinbar. Mit beiden Besprechungstypen gehen spezifische Denkmuster einher, zwei Paradigmen also. Beide Besprechungsparadigmen spiegeln einen impliziten Konsens über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, innerhalb eines Besprechungsparadigmas »richtig« zu agieren. Insofern ist das Erlernen der schöpferischen Besprechung nicht einfach das Aneignen einer neuen Methode, sondern das Akzeptieren eines Paradigmas – allerdings ohne das andere Paradigma für obsolet zu erachten.

Dies ist schwierig und führt dazu, dass in einer Organisation jeweils nur ein Besprechungsparadigma dominant ist. Deshalb – und wohl auch weil leistungserbringende Prozesse herausragende Bedeutung in der Industriegesellschaft haben –, werden produktive Besprechungen auch in Entwicklungs- und Innovationsprozessen verwendet. In Organisationen, bei denen die Entwicklung selbst die Dienstleistung ist, wie etwa bei Architekten oder Softwarefirmen, führt dies dazu, dass Ziele II oft verfehlt werden. Je entwicklungsintensiver eine Organisation ist, umso problematischer wird die Verwendung von produktiven statt schöpferischen Besprechungen.

Organisationen, in denen produktive Besprechungen dominieren, bringen wenig Neues hervor, dafür sind ihre Leistungen von gleich bleibend hoher Qualität. Von Organisationen hingegen, in denen schöpferische Besprechungen alltäglich sind,40 dürfen Kunden nicht gleich bleibende, sondern durch Innovationen veränderte Leistungen erwarten. Unsere Erfahrung ist, dass es beiden Arten von Organisationen gelingt, sich gemäß ihrem Potenzial zu entwickeln, wenn sie schöpferische Besprechungen bewusst einsetzen.

Die schöpferische Besprechung

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