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3. Dysfunktionale Besprechungskultur

Die Fähigkeit, mit anderen auszukommen, ist immer ein Pluspunkt, richtig? Falsch! Durch geschicktes Vermeiden jeglicher Konflikte schaffen manche Manager geradezu betriebliches Chaos. 41

– Chris Argyris –

Als Christoph Assistent des Vorstandsvorsitzenden eines Großunternehmens mit rund zehntausend Mitarbeitern und zuständig für die strategische Unternehmensplanung war, wurde er anlassbezogen zu Vorstandssitzungen herangezogen. An diesen Vorstandssitzungen nahmen die fünf Vorstände und der Protokollführer teil. Bei Christophs erster Vorstandssitzung waren strategische Fragen auf der Tagesordnung. Er ging mit der Erwartung hin, dass fünf Vorstände dort im wahrsten Sinn des Wortes über Weltbewegendes sprechen würden. Immerhin war das Unternehmen weltweit aktiv. Gemäß Tagesordnung ging es darum, wie man sich am Weltmarkt positionierte, demgemäß ging es um viel Geld und um viele Arbeitsplätze. Christoph fiel buchstäblich aus allen Wolken, als er hörte, worüber und auf welche Art und Weise die fünf Vorstände miteinander sprachen. Er konnte kaum glauben, dass dies die Kommunikation im Zentrum der Macht war. Die Sitzung begann damit, dass jeder ein Plädoyer für eine Angelegenheit aus seinem Ressort hielt, welche die anderen überhaupt nicht interessierte. Keiner bezog sich auf den anderen. Es war wie ein Schlagabtausch. Dann sprachen sie eine Viertelstunde darüber, ob ein bestimmter Mitarbeiter hundert Euro mehr Gehalt bekommen sollte. Am Schluss war klar, dass die strategischen Fragen, die auf der Tagesordnung standen, vertagt werden mussten.

Woran lag es, dass eine Gruppe von hochintelligenten Menschen unfähig war, zu gemeinsamen Erkenntnissen, zu gemeinsamen Problemlösungen oder auch nur zu einem gemeinsamen Problemverständnis zu gelangen? Wie kam es, dass das Ganze, also die Gruppe, nicht mehr, sondern deutlich weniger als die Summe der Fähigkeiten jedes einzelnen Gruppenmitglieds besaß?

Bevor wir auf diese Fragen eingehen, liefert der Fall UTM zusätzliches und detailliertes Anschauungsmaterial.

3.1 Der Fall UTM

Christoph: Harald, Du warst eine einflussreiche Führungskraft bei UTM. Kramen wir gemeinsam in deinen Erinnerungen und erforschen, wie die Besprechungskultur bei UTM42 war. Danach möchte ich mit dir herausfinden, welche Wirkungen diese Kultur zeitigte.

Harald: Es wird für mich eine Zeitreise. Das macht mich neugierig und ängstigt mich zugleich, v.a. das Krankmachende lasse ich lieber in der Vergangenheit ruhen. Manches ist mir sehr lebendig und manches verklärt und verzerrt die Erinnerung.

Bei UTM gab es auf unterschiedlichen Hierarchieebenen unterschiedliche Besprechungskulturen. Es war etwas anderes, wenn die Geschäftsleitung miteinander sprach als wenn ein Abteilungsleitermeeting versuchte, Dinge zu vergegenwärtigen. Je hochrangiger eine Besprechung besetzt war, desto weniger wurde dabei ausgearbeitet und desto weniger entstand, aber umso besser war sie informell vorbereitet. Man kannte bereits vorher die Position jedes einzelnen, der diese dann bei der Besprechung offiziell mitteilte. Obwohl informell schon klar war, ob ein Thema eine Mehrheit finden würde oder ob es abgelehnt werden würde, brauchte es die Besprechung der Entscheidungsträger, um formal zu einem Ergebnis zu kommen. Das Abstimmungsverhalten war vorhersehbar. Es kam deshalb auch vor, dass eine Besprechung abgesagt wurde, um eine Abstimmung zu verhindern, die zu einem ungewollten Resultat geführt hätte. Dann wurde auf der informellen Ebene solange weitergespielt, bis wir eine Chance sahen, dass das herauskam, was wir, also bestimmte Teilgruppen, als wünschenswert erachteten.

Das war divergierend von dem, was ich bis damals kannte. Davor war mein Ansatz, dass eine Besprechung nur einen Sinn hat, wenn etwas Neues herauskommt. Aber ein solch offener Ausgang war nicht gewünscht. Was ich jetzt beschreibe, das sind die hochrangigen Gremien, wo Entscheidungsträger eingebunden waren. Wenn hingegen Abteilungsleiter sich zu Besprechungen trafen, dann wurde kurz über das Sachthema diskutiert und dann sofort auf das Thema umgeschwenkt »Wie bringen wir den Entscheidungsträgern das, was wir wollen, nahe?«. Zentrale Frage war: »Was müssen wir alles tun, damit wir die Leute entsprechend beeinflussen, damit diese das, was wir als sachlich gut und richtig ansehen, auch so sehen?«

Christoph: Was mich erstaunt, ist, wieso die Sachebene so rasch abgeschlossen werden konnte. Das heißt ja, dass es kaum unterschiedliche Meinungen gegeben hat.

Harald: Bei der Festlegung der Besprechungsteilnehmer fragte man nicht, welche Leute zum Thema die kompetentesten Aussagen beitragen konnten, sondern man lud möglichst diejenigen ein, die mit der eigenen Meinung übereinstimmten. Es war eine gewöhnungsbedürftige Intervention meinerseits, darauf zu bestehen, dass immer der größte Kritiker, den sie zu einem bestimmten Thema benennen konnten, beim nächsten Mal auch dabei war. Das war kulturfremd.

Christoph: Wozu hat das geführt?

Harald: Das hat dazu geführt, dass sie auf der Abteilungsleiterebene länger stritten und dass sie oft keinen Konsens zusammenbrachten. Dann wurde hinterfragt, ob dieses Prinzip gut sei. Ich gehe davon aus, dass man nach meinem Ausscheiden in das alter Muster zurückfiel.

Christoph: Die oberste Ebene ist also Repräsentant von Lobbyinggruppen und muss dann so abstimmen. Das klingt nach einer Plenarsitzung im Parlament.

Harald: Ja, es ging wenig um Meinungsfindung. Das war aber die Schwierigkeit. Jeder kam mit einer durch die Lobbyinggruppen geprägten und verfestigten Meinung zur Sitzung.

Christoph: Wo wurde in dieser Besprechungskultur ein Meinungs- oder Interessenskonflikt offen ausgetragen?

Harald: Es gab annähernd gleichstarke Lobbys. Das führte dazu, dass in Vorbereitung von Entscheidungen Sachthemen zwischen mächtigen Teilsystemen ausdiskutiert werden mussten. Es war nicht immer ausreichend, aber es war hilfreich, wenn mindestens zwei Lobbys einer Meinung waren. Daher hatten sie Diskussionsbedarf. Auf der nachgeordneten Ebene waren sie auch imstande, mit diesen unterschiedlichen Positionen anzutreten und sich darüber auszutauschen. Aber danach funktionierte das Spiel so, dass, wenn wir uns auf etwas Sinnvolles einigen konnten, das auch für die anderen gut sein musste.

Christoph: Und wo passierte diese Einigung?

Harald: Es gab Opinionleader und wenn die sich auf etwas verständigten, dann waren deren Lobbys so stark, dass sie eine organisationsweite Entscheidung zusammenbrachten.

Christoph: Alles lief unter dem Gesichtspunkt, wie ihr zu Entscheidungen kamt. Aber wie kamt ihr zu einem gemeinsamen Problemverständnis? Wie kamt ihr zu der Erkenntnis, welche die relevanten Probleme waren? Wie kamt ihr zu gemeinsamen Zukunftsbildern und zu gemeinsamen strategischen Zielen?

Harald: In Geschäftsleitungssitzungen kamen solche Diskussionen nicht vor. Das war ja eines der großen Probleme. Zielvorstellungen waren Vorgaben einzelner Meinungsbildner der ersten bis zweiten Führungsebene. Das Thema Strategie spielte sich nicht in formalen Besprechungen, sondern im informellen Austausch unter vier Augen ab.

Christoph: Waren dies Tauschverfahren in Sinne von »Wenn du meine Meinung unterstützt, dann hast du etwas gut bei mir«?

Harald: Es wurde nicht explizit gemacht, aber das war das Prinzip.

Christoph: Du beschreibst eine Gesprächskultur, die den Sinn und Zweck hatte, Entscheidungen zu produzieren. Es klingt wie ein Erfolgskriterium. Wenn man in der Sitzung alle Sachen, die zu entscheiden waren, entschieden hatte, dann war man gut unterwegs. Woher kam dieser immense Fokus auf Entscheidungen?

Harald: Aus der Schwierigkeit der Steuerung einer solch großen Organisation, in der verschiedenste Strömungen repräsentiert werden sollten, man aber keine Form mehr fand, dass diese sichtbar wurden. Es war kaum möglich, die unterschiedlichen Standpunkte zu einem Thema unter einen Hut zu bringen. Damit aber die Organisation handlungsfähig blieb, brauchte sie laufend Entscheidungen.

Christoph: Wie musste jemand in dieser Besprechungskultur agieren, um ein Maximum an Wirkung zu erreichen?

Harald: Du musstest eine ganz hohe Anzahl von Vieraugengesprächen zu ein und demselben Thema führen, damit du die Breite der Organisation erreichen konntest.

Christoph: Wusste man, wer die wirkungsvollsten Personen waren?

Harald: Das wusste man genau. Das machte diese Personen so wertvoll. Andererseits war das problematisch, weil sie überbeansprucht wurden. Diese ›menschlichen Drehscheiben‹ waren in der zweiten oder dritten Führungsebene angesiedelt. Und es lief alles über sie, unabhängig von ihrer Zuständigkeit. Je länger so eine Person in dieser Rolle als Informationsdrehscheibe tätig war, desto losgelöster von ihrer Sachkompetenz wurde sie angesteuert.

Christoph: Du warst so eine Drehscheibe und wurdest dadurch krank. Was war das Krankmachende daran?

Harald: Dieses Hineinwachsen in eine Knotenfunktion war verschleißend. Ich wurde zunehmend in die Entscheidungsvorbereitung involviert. Damit kam ich in immer größeren Verantwortungsdruck. Die Einflüsse der miteinander im Clinch liegenden Lobbys auf mich wurden größer. Ich wurde nach allen Richtungen gedehnt und zerrissen. Der Versuch der Vereinnahmung war teilweise intensiv. Als ich ein Informationsknoten wurde, begann das Spiel, an mir zu zerren und zu reißen: »Dort blockieren wir dich, wenn du da nicht mit uns gehst. Du willst, dass wir da mit dir gehen? Dann wollen wir aber, dass du in den und den Dingen unsere Sicht der Dinge vertrittst.«

Das musste ich auch zeitlich durchstehen. Ich hatte bis zu acht Vieraugengespräche an einem Tag. Jeder bilaterale Termin dauerte zwar nur maximal eine Stunde, aber ich musste auch die formalen Kontakte abwickeln. Da ich mit Entscheidungsträgern zu tun hatte, war das ein 24-Stunden-Job. Es wurde immer aufwendiger, alle diese Deals einzuhalten. Es war eine Exponentialkurve: Die ersten Deals konnte ich klar und sachlich richtig abschließen. Dann explodierte die Zahl der Sachzwänge. Da war ich mit diesem unter einem Hut, dort mit jenem. Das alles passte aber schließlich nicht mehr zusammen.

Christoph: Diese Knotenpersonen haben eine machtvolle Position, weil sie die Dinge überproportional stark beeinflussen können. Aber der Preis ist, dass sie gleichzeitig Träger der Interessenskonflikte sind, die nicht in den Besprechungen ausgelebt werden. Je mehr Konflikte es gibt, desto mehr wird dieser Knoten belastet. Gibt es Leute, die das durchhalten?

Harald: Einige Kollegen, die wie ich solche Informationsknotenfunktionen hatten, bekamen gesundheitliche Probleme. Es gab auch welche, die an Herzversagen starben. Die Motivation war, dass dies die mächtigste Funktion war, die ich je wahrzunehmen hatte. Ich erhielt die einmalige Chance, Dinge zu bewegen, die vor mir noch keiner bewegen konnte. Ich brachte die Entscheidung über die Neuaufteilung der Finanzmittel zwischen den Bereichen zusammen. Als ich kam, sagten alle, dass dies ein unlösbares Problem sei. Aber in jener Sitzung, wo mein Vorschlag von den Granden abgesegnet wurde, brach ich körperlich ein: Ich stand aus der Sitzung auf und fuhr mit Herzproblemen ins Spital.

Christoph: Diese Besprechungskultur ist zwar dysfunktional, um mit komplexen Problemen umzugehen, ist aber integraler Bestandteil der Organisation. Sie sind von dieser Kultur abhängig und wenn du ihnen diese wegnimmst, ist es wie bei einem Alkoholiker, dem du den Alkohol wegnimmst.

Harald: Ja, aber die Frage ist, ob sich parallel zu der dysfunktionalen, aber systemerhaltenden Entscheidungskultur etwas entwickeln lässt, in dem Strategie und Zieldefinition behandelt werden können. Dann hätte man einen Hebel, mit dem die Reform der Organisation diskutierbar würde. Sie tun sich deswegen schwer, über die Organisationsreform zu diskutieren, weil das ein anderes Miteinander-Reden bedingt. Es reicht nicht, dass ich in einem Meeting, wo ich mich über die Reform der Organisation unterhalte, meinen Standpunkt abgebe. Ich muss flexiblere Positionen einnehmen, ich muss Dinge in der Schwebe halten.

Christoph: Das können diese Netzwerkknoten nicht bewältigen.

Harald: Nein, das ist nicht ihre Orientierung. Sie können die aktuellen existenzbedrohenden Probleme der Organisation benennen. Sie sind gleichzeitig ein Problemfilter und -verdichter, aber kein Problemlöser.

Christoph: Würdest du mit deinem Wissen von heute eine Chance sehen, wirkungsvoll zu agieren und dich trotzdem zu schützen?

Harald: Nein. Du müsstest das System als ganzes reformieren können, damit du aus dieser krankmachenden Rolle raus kommst. Das geht aber nur, indem du dich in diese krankmachende Rolle hineinbegibst. Denn nur diese Informationsknotenträger könnten eine Reform des Systems zusammenbringen. Und ich würde nicht wissen, wie ich mich schützen soll, würde ich mich erneut in diese Situation begeben.

3.2 Was läuft schief?

Schon möglich, dass UTM ein krasses Beispiel für eine dysfunktionale Besprechungskultur ist, aber es ist beileibe kein Einzelfall. Auch ist dies kein kulturelles Phänomen, das etwa im deutschsprachigen Raum häufiger auftritt als anderswo. Bereits 1986 publizierte Chris Argyris, Professor für Erwachsenenbildung an der Harvard Business School, seine Beobachtungen bei amerikanischen Managementteams und seine Erkenntnisse daraus.43 Argyris beschrieb zwei neue Phänomene in Besprechungen: Abwehrroutinen (defensive routines) sowie professionelle Unfähigkeit (skilled incompetence).

Unter professioneller Unfähigkeit versteht Argyris ein Verhalten in Besprechungen, das einerseits professionell ist in dem Sinne, dass die Personen authentisch, mit bester Absicht und aus Erfahrung heraus agieren. Andererseits zeigen die Personen Unfähigkeit in dem Sinne, dass sie nicht imstande sind, ein gemeinsam angestrebtes Besprechungsziel, z.B. eine gemeinsame Vision oder eine gemeinsame Strategie, zu erreichen.

Abwehrroutinen wiederum entstehen, so Argyris, wenn Personen in einer Besprechung mit einem Thema konfrontiert werden, das für sie peinlich oder bedrohlich ist, diesem Thema ausweichen und dieses Ausweichen vertuschen. Ein solches Verhalten führt dazu, dass die Gründe der Peinlichkeit oder der Bedrohung nicht besprochen und deshalb nicht aus der Welt geschafft werden.

Meinungsverschiedenheiten nicht offen anzusprechen und Konflikte nicht auszutragen, führt über die Jahre zu einer dysfunktionalen Besprechungskultur.

Besprechungsteilnehmer verhalten sich häufig so, als ob Menschen und deren Meinungen ein und dasselbe wären. Anscheinend sind die einzigen Alternativen, entweder die Meinung und damit den Menschen in Frage zu stellen oder den Menschen und damit seine Meinung zu akzeptieren. In einem solchen Denkmuster ist es nicht möglich, eine Meinung in Frage zu stellen und zugleich die Person wertzuschätzen.


Abb. 2: Abwehrroutinen und professionelle Unfähigkeit sind Auswirkungen von gut gemeintem, aber letztlich dysfunktionalem Verhalten44 (vgl. Kap. 1.1) © Mandl/Hauser/Mandl 2008

In einer wahrhaft schöpferischen Besprechung ist es jedoch unabdingbar, dass die Beteiligten einander schätzen, und dass trotzdem – oder gerade deswegen – alle bedeutsamen Meinungsdifferenzen besprochen werden. Dies kann dazu führen, dass die Besprechung länger dauert als vorgesehen oder auch, dass eine einfache Lösung in weite Ferne rückt – eine Horrorvorstellung für jene, die Besprechungspunkte rasch erledigen wollen. Wenn um die Auflösung der Widersprüche im Gespräch gerungen wird, egal in welches ungewöhnliche Terrain dies auch führt, dann wird eine Besprechung schöpferisch.

Die schöpferische Besprechung

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