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Prolog
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Erich Hartmann senkte den Kopf. Seine Augen fanden den Satzanfang des Manuskripts, wie sie es schon tausendfach getan hatten. Am Ende des Satzes angekommen, blickte Hartmann -anders als sonst immer - auf und starrte auf die in schlichtem Weiß tapezierte Wand seines Büros. Weiße Wände schmückten seit Jahrzehnten schon sein Arbeitszimmer. Kahl, ohne Bilder, ohne Fotos, ohne Irgendetwas. Seine Arbeit sollte durch nichts visuell Auffallendes abgelenkt werden. Ohne jeglichen Einfluss wollte er lesen, ohne irgendeinen optischen Außenreiz, bis auf einen alten, vergilbten Teppich, den er vom Vater übernommen hatte, weil der ihn schon von seinem Großvater übernommen hatte. Möglichst unvoreingenommen eintauchen wollte Hartmann in bislang unentdeckte Welten. Und darüber richten, ob sie für die Menschen erschaffen werden oder nicht.
Hartmann überlegte eine Weile. Dann widmete er sich wieder dem Werk. Für gewöhnlich las er die ersten vier Sätze eines Manuskripts in einem Zuge durch - ohne aufzublicken, ohne die Wand anzustarren und ohne zu überlegen. Die ersten vier und dann den Schlusssatz einer Leseprobe. Diese Vorgehensweise hatte sich Hartmann irgendwann vor vielen Jahren zu Eigen gemacht, um seinerzeit wenigstens im geringsten Maße der Flut eingereichter Manuskripte gerecht zu werden. Sie alle hatten es verdient, wenigstens einmal angesehen und von ihm geprüft zu werden. Die Werke der Unbekannten und Bekannten. Die zu Papier gebrachten Gedanken, Ergüsse, Geheimnisse und Geschehnisse. Die Weisheiten, Verlogenheiten, verborgenen Schätze und ungebetenen Botschaften. Die kosmischen Wahrheiten und kleinbürgerlichen Ansichten. Die Ausblicke und Einblicke, die Eindrücke, Enthüllungen und Geständnisse – die Phantasien und Gewissheiten. Die ersten vier Sätze und der letzte eines circa 30 Seiten umfassenden Probekapitels genügten dem erfahrenen Verleger, um das Manuskript entweder gleich wieder beiseite zu legen oder die Lesestunde genüsslich mit dem gesamten Kapitel zu füllen.
Hartmann hatte seine Lesestunde ritualisiert. An jedem Arbeitstag der Woche gönnte er sich diese 60 Minuten zwischen drei und vier Uhr nachmittags, um sich in sein Büro zurück zu ziehen und „die Neuen“ zu erforschen. „Die Neuen“ wurden jene Manuskripte genannt, die in Hartmanns Verlagshäusern aufgefordert oder unaufgefordert gelandet waren. Abertausende waren es inzwischen, die durch seine Hände gegangen und mit seinen Augen erforscht worden waren. Natürlich landeten die Tonnen angeschwemmter Manuskripte lange schon nicht mehr auf seinem Schreibtisch, sondern in den Lektoraten seiner Verlage oder bei den Autorenbetreuern seines Unternehmens. Aber eine kleine Anzahl von jeweils vier Stück schaffte es doch zu ihm, ausdrücklich nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um dem Chef eine kleine tägliche Freude zu bereiten, wie es hieß.
Als er vor mehr als dreißig Jahren nach einer ordentlichen Buchhändlerlehre und dem anschließenden Studium der Betriebswirtschaft den Hartmann-Verlag in vierter Generation aus den Händen seines Vaters erhielt, wusste er, dass es nicht seine Aufgabe war, das eigene Leben durch die Schöngeistigkeit der Literatur zu bereichern. Er erhielt vielmehr den Auftrag, aus einem mittelständigen Unternehmen einen Literaturbetrieb mit Konzerngröße zu machen. Dieser Aufgabe folgend, entwickelte sich der Literaturliebhaber zu einem knallharten Verlagskaufmann und den übernommenen Betrieb zu einem Flaggschiff weltweiter Kulturvermarktung. Dem Junior war es mit Beharrlichkeit, feinem Spürsinn und Führungsstärke gelungen, aus dem zwar schon prosperierenden, aber noch weitgehend biederen Verlagshaus einen internationalen Medienkonzern mit etlichen Buchverlagen, verschiedenen Zeitschriften und Fernsehsendern zu entwickeln. Mit seinen mittlerweile 65 Jahren genoss Hartmann als Vorstandsvorsitzender längst einen legendären Ruf nicht nur im gesamten Konzern, sondern im ganzen Land.
Umso wichtiger wurde dem literaturversessenen Top-Manager seine tägliche Lesestunde, die er unerbittlich im täglichen Kampf um Auflagen und Umsätze, um Aufträge und Marktanteile nach innen und nach außen verteidigte.
Seine Hand fand auch diesmal blind die immer an derselben Stelle postierte Tasse Tee. Wahlweise und je nach Stimmung griff Hartmann in seiner „LS“, wie seine Mitarbeiter die Lesestunde nannten, nach Tee oder Mineralwasser. Heute verlangte bereits der erste Satz nach einem Schluck beruhigenden Tee. Nicht nur das, es schien Hartmann unmöglich, auch den dritten Satz ohne Gedankenpause an den zweiten zu reihen. Er grübelte eine Weile, bevor er sich entschied, weiter zu forschen. Vier Sätze sollte er doch durchhalten, sagte er sich. Die ersten vier Sätze und den letzten. Aber wieder langte es nur bis zum Punkt, den vierten Satz schaffte er nicht mehr. Warum, fragte er sich, musste es gleich das erste Werk der Lesestunde sein, das ihn dermaßen außer Fassung brachte und den gesamten Tag versaute? Hätte es nicht das letzte oder wenigstens das vorletzte Manuskript seiner Lesestunde sein können? Er ärgerte sich darüber, dass es ihm trotz seines vorgeschrittenen Alters und seiner beruflichen Routine noch immer nicht gelingen konnte, Buchvorlagen wohlwollend und vor allen Dingen mit dem professionellen Abstand des weltweit anerkannten Literaturexperten zu begutachten. Er spürte stattdessen immer noch – wie soeben wieder einmal in höchstem Maße - den unerträglichen Konflikt des Literaturfreundes, der alles Geschriebene per se erst einmal zu verteidigen hatte, mit der offenkundigen Widerwärtigkeit gegenüber dem Erzeuger einer wie der gerade vorliegenden Schrift. Wie viel dummes, nutzloses und abstoßendes Zeug hatte er schon lesen müssen. Plagiate, Hasstiraden, Volksverhetzungen, Pornomist und Menschenentwürdigendes. Übelste Stammtischparolen, debilen Schwachsinn und kleinkariertes Geschwafel. Wenn auch nur vier Sätze lang und den letzten. Diese Technik reichte aus und hatte sich bislang bewährt, um ein Manuskript für würdig oder unwürdig zu beurteilen, weitergelesen und im besten Falle veröffentlicht zu werden. Doch diesmal benötigte er eine für seine Verhältnisse lange Pause, dazu eine Tasse Tee und einen andauernden, abschweifenden Blick, um sich zu überwinden, dem geheiligten Prinzip treu zu bleiben. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, versprach er sich, konzentriert zu bleiben. Er wollte den vierten Satz um der Gerechtigkeit gegenüber allen Autoren lesen und dann noch den letzten. Schließlich überwand er sich, sein Haupt zu neigen, um seine Augen zu zwingen, das Geschriebene aufzunehmen. Doch statt sich zu beruhigen, wurde es noch schlimmer. Nach dem vierten Satz mischte sich seine Verwirrung mit einem Gefühl unerklärlicher Abscheu und einer von Satz zu Satz aufsteigenden Wut. Seine Hände wollten den Text nicht mehr halten, konnten ihn nicht mehr berühren. Er legte die Blätter zu Seite und trank einen weiteren Schluck. Dann stand er auf und lief in seinem großen Büro umher. Was stimmt hier nicht, fragte er sich, ahnend, dass er die Antwort kannte. Er wollte laufen, weglaufen, wie ein ängstlich Verfolgter in Panik. Um sich selbst zu beruhigen, wählte Hartmann den vorgegebenen Weg des Randmusters seines alten Teppichs. Das Muster war farblich von der Innenfläche kaum unterscheidbar auf dreißig Zentimeter abgesetzt und bot sich im rechten Winkel als Laufsteg an. Durch das Umherlaufen wieder etwas beruhigt, überwand Hartmann seinen Ekel, nahm den zur Seite gelegten Papierstapel wieder auf und blätterte zur letzten Seite der Leseprobe. Anschließend trank er den Rest des Tees in einem Zug aus und schleuderte das Manuskript auf den Fußboden. Er war so in Rage, dass er seinem Zorn öffentlich Luft machen musste. Der Konzernchef riss die große Tür seines stattlichen Büros wie ein pubertierender Weltverbesserer auf und verschaffte sich wutschnaubend Luft: „Eine Unverschämtheit! Blasphemie! Ein Verbrechen gegenüber der Literatur! Und ihrer Schöpfer!“ Vier lächerliche Sätze und der letzte eines kleinen Manuskriptes konnten den erfahrenen Herrscher eines riesigen Medienkonzerns also aus der Fassung bringen. Später, viel später, würde er sich fragen warum. Doch jetzt kochte in ihm eine Wut, die er lange nicht mehr kannte.
„Können wir etwas für Sie tun?“, fragte besorgt eine seiner drei Sekretärinnen, die im Vorzimmer gewohnt waren, Hartmanns Termine zu koordinieren, das operative Geschäft zu organisieren und den Chef vor zeitraubenden Banalitäten zu schützen.
„Ja, können Sie! Ist Doktor Schneider im Haus?“, antwortete Hartmann im Befehlston und stapfte in sein Lesezimmer zurück. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Hartmanns ehemaliger Cheflektor und jetziger Vorstandskollege das Zimmer betrat. Hartmann hatte sich auf seinen Lesesessel zurückgezogen.
„Sie hatten mich gerufen. Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte sich der von den Sekretärinnen Gerufene. „Herr Doktor Schneider“, bemühte sich Hartmann die Fassung zu bewahren, „wie lange sind Sie schon im Unternehmen...dreißig Jahre?“
„Zweiunddreißig, glaube ich, Herr Hartmann“, korrigierte Dr. Schneider höflich. Hartmann hielt einen Augenblick inne, um nicht die vollständige Blöße seiner Entrüstung zu offenbaren. Gefasst schaute er den Weggefährten an. „Wir haben schon Einiges miteinander erlebt. Aufgeblasene Schriftsteller, arrogante Bestsellerautoren, ignorante Möchtegern-Promis, Stars der Weltliteratur und viele, die sich dafürhielten.“
„Wohl wahr“, stimmte Dr. Schneider zu.
Hartmann fuhr sich mit der Hand nervös über den Mund und rückte seine Brille zurecht, um sich anschließend weiter Luft zu machen: „Sie wissen doch, dass ich mir zur LS jeweils vier
zufällig gezogene Manuskripte anschaue, die nicht zur Vorprüfung durch das Lektorat einer unserer Verlage gegangen sind.“
„Natürlich weiß ich das, Herr Hartmann“, bestätigte Dr. Schneider. „Haben wir etwas falsch gemacht? Oder soll etwas geändert werden?“
„Nein, nein“, entgegnete Hartmann, „ich will und werde diesen Brauch nicht ändern, schließlich hat er sich bewährt. Aber mir ist soeben ein Manuskript in die Hände gefallen, das mir, ehrlich gesagt, die Zornesröte ins Gesicht getrieben hat. Mir, der beinahe schon alles gelesen hat. Mir, den nichts mehr umwerfen kann, glaubte ich jedenfalls...“
Dr. Schneider schaute den Sitzenden an. „Das glaubte ich auch, verehrter Herr Hartmann. Aber was hat Sie denn so geärgert?“
Hartmann wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf das am Boden liegende Werk: „Lesen Sie selbst! Die ersten vier Sätze sollten reichen, mehr als genug reichen.“
Dr. Schneider klaubte das Manuskript vom Boden auf und las die ersten vier Sätze.
„Mmhh“, stutzte er nachdenklich, während Hartmann zustimmend nickte: „Mmhh! Und – Ihre Meinung?“
„Die Sätze kenne ich. Offensichtlich bedient sich der Autor kräftig bei anderen Schriftstellern.“
Hartmann erhob sich von seinem Sessel und trat einen Schritt auf seinen Mitarbeiter zu.
„Wissen Sie, Herr Doktor Schneider“, mühte sich Hartmann Ruhe zu bewahren, „dass sich Autoren manchmal bei Kollegen bedienen, wie Sie es nennen, ist bekannt. Dass sie sich Wendungen ausleihen oder Ideen stehlen, auch. Dass ein Plot, ein bestimmter Anlass, bisweilen auch eine ganze Geschichte kopiert wird, kennen wir. Aber dass ein Mensch so dreist ist, jeden der ersten vier Sätze und übrigens auch noch den letzten Satz aus einem bedeutenden Werk der Weltliteratur zu stehlen - das ist der Gipfel!“
Schmollend ließ sich Hartmann in seinen Lesesessel fallen und richtete den Blick zum Fenster. Dr. Schneider nutzte den Augenblick der Stille, um in dem Manuskript weiter zu lesen. „Stimmt“, sagte er, „die nächsten Sätze sind ebenfalls anderen Werken entlehnt.“ Dabei machte er ein amüsiertes Gesicht. „Und das finden Sie auch noch lustig?“, wandte sich Hartmann wieder seinem Gesprächspartner zu.
„Immerhin“, entgegnete Dr. Schneider schulterzuckend, „die Sätze scheinen auf den ersten Blick logisch aneinandergereiht und ergeben offensichtlich einen Sinn.“
Mit dem vorsichtigen Eintritt einer von Hartmanns Sekretärinnen wurde das Gespräch unterbrochen. „Entschuldigung, Herr Hartmann, darf ich an den Termin mit Herrn Minister Hunscha um 18 Uhr erinnern?“
„Ja“, nickte Hartmann seiner Mitarbeiterin zu, um sich dann wieder Dr. Schneider zuzuwenden: „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Einschätzung, lieber Doktor Schneider. Und nehmen Sie diesen Quatsch mit!“
Dr. Schneider blickte kurz auf das Manuskript und dann zu seinem Boss: „Kann ich sonst noch was für Sie tun? Konnten Sie sich wieder ein wenig beruhigen?“.
„Danke, Herr Doktor Schneider, wir sprechen morgen weiter“, entließ der Konzernchef seinen Mitarbeiter zu dessen Aufgaben zurück.
Hartmann wusste, dass er sich nun nicht mehr mit diesem unerfreulichen Vorgang beschäftigen durfte, sondern sich auf das Treffen mit dem Chef des Bundeskanzleramtes vorzubereiten hatte. Diese ein- bis zweimal im Jahr verabredeten Besuche des Bundesministers für besondere Aufgaben hatte sich Hartmann im Laufe der Jahre verdient. Sein Rat war geschätzt bei den jeweiligen Regierungen der Bundesrepublik. Erich Hartmann hatte es verstanden, dem Ruf der Parteien auf eine Mitgliedschaft zu widerstehen und sich stattdessen mit Fachwissen und globalem Beziehungsmanagement den Nimbus eines weltweit anerkannten Wirtschaftsexperten zu sichern. Seine weltweiten Kontakte und Erfahrungen, die Macht seines Imperiums sowie seine strikte Neutralität hatten ihm im Laufe von Jahrzehnten zu Ansehen und Ruhm auch in Regierungskreisen verholfen. Hartmann selbst betrachtete den regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit Polikern als seine persönliche Bringschuld an ein Leben, das ihm eine gewisse Bildung und die Übernahme von Gestaltungsverantwortung ermöglicht hatte. Schon lange waren diese Treffen zu meist wirtschaftspolitischen Fragen des Landes mehr Arbeitsalltag als willkommene Abwechslung. Ein Mann wie er hatte eben diese gesellschaftspolitischen Pflichten zu erfüllen.
Und so wich die Aufregung über das verwerfliche Manuskript der Konzentration auf den anstehenden Besuch. Pünktlich um 18 Uhr begrüßte Erich Hartmann seinen Gast und führte ihn in den kleinen Salon, einen in Teakholz gehalten Raum mit schweren Ledersesseln am Kamin.
„Es freut mich wie immer, verehrter Herr Hartmann, Ihnen im Namen des Kanzleramtes die besten Grüße ausrichten zu dürfen“, begann der Minister das Gespräch. Höflich bedeutete Hartmann seinem Gegenüber Platz zu nehmen. „Nun“, fuhr der Kanzleramtschef fort, während er sich setzte, „ich bin beauftragt worden, drei wichtige die Republik betreffende Sachverhalte mit Ihnen zu erörtern.“
Hunscha vermied es, wie immer in solchen Gesprächen, Ross und Reiter zu nennen. Namen wurden vermieden und persönliche Ämter meist so umschrieben, dass im Zweifelsfall faktisch nichts nachgewiesen werden könnte.
Bevor Hartmann auf die Themen eingehen wollte, schaute er auf die bereitgestellten Getränke und fragte: „Darf Ihnen etwas zu trinken anbieten, Herr Hunscha? Tee, Kaffee, Wasser?“
„Einen Kaffee, bitte, schwarz wie die Nacht“, antwortete der Gast. Hartmann goss seinem Gesprächspartner und auch sich Kaffee ein, um seine Kooperation zu signalisieren. In Vorbereitung auf derartige Gespräche pflegte Hartmann als passionierter Früchteteetrinker entkoffeinierten Kaffee kochen lassen, was er aber verschwieg.
„Lassen Sie uns mit Blick auf die Uhr gleich zur Sache kommen“, bat Hartmann und reichte seinem Gegenüber die Tasse zu.
„Na gut“, antwortete Hunscha, nahm einen kleinen Schluck und fuhr fort, „Zunächst würden sich das Auswärtige und das Kanzleramt freuen, Sie im kommenden Sommer als Mitglied der bundesdeutschen Delegation für die geplante Reise der Bundesregierung nach China gewinnen zu können.“ Hartmann stimmte der Anfrage mit der Bitte zu, den genauen Reisetermin mit seinem Büro abzustimmen. Natürlich wusste er, dass die folgenden Themen inhaltlich schwieriger werden würden. Gewiefte Politiker gingen Hartmanns Erfahrung nach immer strategisch vor, vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplexen. Hunscha holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und fragte: „Darf ich oder gilt bei Ihnen mittlerweile auch striktes Rauchverbot?“
wusste um die Nikotinabhängigkeit seines Gesprächspartners, der Kanzleramtsminister war starker Raucher. Vorsorglich stand der Aschenbecher bereits auf dem kleinen Beistelltisch zwischen ihm und seinem Gesprächspartner.
„Kein Problem“, gewährte Hartmann die Bitte, wissend, damit eine weitere Übereinstimmung erzeugt zu haben. Der Minister zündete sich eine Zigarette an und gelangte nach anfänglichem, eher bedeutungslosem Gerede zum eigentlichen Punkt seines Besuches: „Mein lieber Herr Hartmann, Ihr hochgeschätzter Fernsehsender, dessen politisches Magazin DURCHBLICK sich, wie Sie wissen, im Kanzleramt äußerster Beliebtheit erfreut und stets politisch korrekt berichtet, hatte sich vergangene Woche wiedermal dem Thema Wendezeit gewidmet. Das Kanzleramt spricht von einer sehr gut recherchierten Sendung, politisch korrekt und journalistisch einwandfrei.“
Die Umschreibung „Kanzleramt“, wusste Hartmann, war das Synonym für den Chefsessel der Regierung. Ihm war auch klar, dass diese eher umständliche Einleitung seines Gesprächspartners der Auftakt einer wenig erfreulichen Auseinandersetzung werden würde. Offensichtlich hatte der redaktionelle Beitrag seiner Mitarbeiter Unbehagen in Regierungskreisen ausgelöst.
„Ich habe die Sendung auch gesehen“, antwortete der Angesprochene, „fand sie gut und halte die Berichterstattung rund um die Geschehnisse der Wiedervereinigung für ein immer noch bewegendes Thema, das zeitgeschichtlich einer uneingeschränkten und vorbehaltlosen Aufarbeitung Wert scheint.“
Hunscha nickte zustimmend. „Unbedingt, das sehen wir genauso. Nur befürchtet das Kanzleramt, dass angesichts der aktuellen innenpolitischen Lage, in der unserer Auffassung nach eine geradezu zwanghafte Beschäftigung mit, wie soll ich sagen, Themen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Befriedung unserer Gesellschaft eher abträglich sind, neue Gräben im Osten wie im Westen der Republik aufreißen könnten.“
Hartmann wollte Deutlicheres hören: „Worauf, verehrter Herr Minister, wollen Sie hinaus?“
Hunscha zog an seiner Zigarette. „Der Fernsehbericht war zweifelsohne gut und umfassend. Aber Ihre Redakteure verbeißen sich offenbar regelrecht in Themen, die 30 Jahre und mehr zurückliegen. Schauen Sie, lieber Herr Hartmann, die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran, die zweifellos noch immer vorhandenen Gräben zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu schließen. Und Ihre Redakteure, so scheint es jedenfalls, kramen und wühlen in der Vergangenheit, um Dinge ans Tageslicht zu fördern, die weder geschichtlich noch politisch irgendeine Relevanz haben.“
Hunscha drückte seine Zigarette aus und fuhr fort: „Verstehen Sie, das, was Ihr Magazin da anstellt, ist mit Blick auf eine aussöhnende Harmonisierung der Gesellschaft kontraproduktiv. Zumal Ihre Redakteure angekündigt haben, weiter zu recherchieren und Folgesendungen zum Unrechtsstaat DDR auszustrahlen. Das bedeutet im Endeffekt doch nichts anderes, als längst geschlossene und gottseidank zu einem Großteil verheilte Wunden unnötigerweise neu aufzureißen und bewusst oder unbewusst völlig unnötige Konflikte zwischen den Bürgern der Beitrittsgebiete und der Altbundesländer zu provozieren.“
Hartmann blieb gelassen.
„Ich mische mich gewöhnlich nicht in das Tagesgeschäft meiner Fernsehradaktionen ein“, antwortete er, „Zudem erkenne ich, ehrlich gesagt, auch keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer die Zeitgeschichte aufarbeitenden Berichterstattung und irgendeiner an die Bürger unseres Staates gerichteten Provokation.“
Hunscha zündete sich eine weitere Zigarette an. „Zweifelsohne haben Sie mit Ihrer Sichtweise auch recht und, Gott bewahre, will Sie auch niemand in irgendeiner Hinsicht beeinflussen. Aber, sagen Sie mir, Herr Hartmann, warum man immer wieder - beinahe schon manisch - alte Wunden aufreißen und auf diese Weise künstlich, jedenfalls wie wir meinen, einen Ost-West-Konflikt im eigenen Land schüren sollte? Schauen Sie, wir bemühen uns um Einheitslöhne, arbeiten nach wie vor durch Transferleistungen an die neuen Bundesländer auf wirtschaftliche Stabilität aller Bundesgebiete hin und damit einem Rechtsruck der Bundesbürger in den neuen Ländern entgegen. Was bringt dem Gemeinwohl da eine unverhältnismäßig dichte Dauerberichterstattung zu Themen eines längst überholten und begrabenen Unrechtstaates?“
Hartmann zuckte die Achseln. „Ich kenne die Planungen meiner Chefredaktionen nicht im Einzelnen. Ich weiß und vertraue aber, dass sie grundsätzlich das planen und ausstrahlen, was vor allem die Menschen vor dem Bildschirm interessiert.“
Damit war für Hartmann das Thema im Grunde erledigt. Um den Gast aber nicht gänzlich unzufrieden nach Hause zu schicken, versprach er, bei Gelegenheit mit den Machern des Magazins zu reden und die Besorgnisse der Regierung zum Ausdruck zu bringen.
Diesen Punkt abgehandelt, folgte im weiteren Verlauf des Gesprächs ein weiterer, eher belangloser und die Verabschiedung mit der Versicherung der gegenseitigen Wertschätzung. Natürlich wusste Hartmann, dass der ministeriale Besuch höheren Orts veranlasst und zuvörderst dem eindringlichen Wunsch nach vorläufiger Einstellung weiterer Sendebeiträge zu problematischen Themen wie die des Unterganges der DDR gewidmet war. Schließlich waren ihm derartige, von Politikern, Wirtschaftsführern und Prominenten geäußerte Wünsche nicht fremd. Sie gingen meist einher mit der persönlichen Bitte um Diskretion und einer wohlwollenden Überarbeitung eines medialen Beitrags, der nach seiner Publikation noch einmal revidiert und den Bittsteller in einer zweiten Veröffentlichung in einem besseren Licht erscheinen lassen sollte. In den meisten dieser Fälle handelte es sich um Skandale, Leichen im Keller oder unbequeme Wahrheiten, die den Ruf bekannter Menschen extrem schädigen konnten, gleichwohl aber zu den originären Aufgaben des investigativen Journalismus gehörten.
An diesem Abend beschäftigten sich Hartmanns Gedanken jedoch weniger mit solchen Vorkommnissen. Den Grund dafür kannte er. Das widerliche Manuskript seiner Lesestunde ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Dieses kleine, eigentlich unbedeutende Papier gestohlener Dichtkunst hatte es tatsächlich geschafft, dem Literaturliebhaber die Sicht auf andere, wichtigere Themen, wie zum Beispiel das Anliegen des Ministers, zu verhageln. Hartmann war eben mehr Literaturfreund als Politiker. Dennoch konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Medienkonzernchef irgendwann doch noch der Bitte des Ministers nachkommen und pro forma mit dem Redaktionsteam über die Angelegenheit reden würde.
In der anschließenden Nacht schlief Hartmann schlechter als sonst. Durchschlafen konnte der Konzernchef seit Jahrzehnten ohnehin nicht mehr. Etwa seitdem er den Posten des Vorstandsvorsitzenden bekleidete, ließen ihn die operativen und strategischen Aufgaben nachts nur noch stundenweise zur Ruhe kommen. Dass er aber, wie in dieser Nacht, noch nicht einmal ansatzweise in den Schlaf finden konnte, war ihm gänzlich unbekannt. Sicher, es gab Situationen, da machte er durch, wie schon ein paar Mal an Silvester oder wenn auf Geschäftsreisen die Zeitverschiebungen einen Nachtschlaf verbaten. Dass es ihm aber trotz Müdigkeit partout nicht gelingen konnte in den Tiefschlaf zu gelangen, ärgerte ihn nun maßlos und zunehmend. Der Grund lag auf der Hand. Das Drecksmanuskript wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Es hatte sich in das Gedächtnis des Lesefreundes gefressen - unerlaubt, aufdringlich und schlafraubend.
So sehr sich der Gequälte Stunde um Stunde auch anstrengte, zur Ruhe zu kommen, so wenig gelang es ihm. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, mit unterschiedlichster Lektüre entspannende, in den Schlaf führende Müdigkeit zu erzeugen, stand er aus dem Bett wieder auf und ging - durch das Schlafzimmer, über den Flur und im Wohnzimmer auf den abgesetzten Rändern des teuren Perserteppichs, den er einst von einem Iranbesuch mitbrachte, bei dem er zur Wirtschaftsentourage der Kanzlerin gehört hatte. Hartmann zählte – mal seine Schritte, mal die Muster, schließlich die Fliesen seines Badezimmers. Aber es half nichts. Schlaftabletten hatte er nicht, weil er Abhängigkeit verabscheute. Der zwischenzeitlich angeschaltete Fernseher befreite ihn ebenso nicht von der Last wie die eingelegte CD mit klassischer Musik. Selbst das Grübeln über das Grübeln zwang die Wachheit nicht zur Aufgabe. Schließlich, draußen wurde es langsam hell, sank er auf dem Teppich nieder und glitt erschöpft für eine knappe Stunde in den unterwachen Zustand. Als seine Frau ihn wie immer um 5 Uhr 30 wecken wollte, fand sie ein leeres Bett vor. Hartmann stand schon wieder unter der Dusche und plante die Tagesstrategie, erschöpft und unausgeschlafen zwar, aber pflichtbewusst und unnachgiebig, wie er es gelernt hatte, wenn es um Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit ging.
Auf die Anweisung, das als Leseprobe eingereichte Kapitel noch einmal vorzulegen, zudem das gesamte Manuskript zu beschaffen und den Verfasser des Plagiats einzubestellen, reagierte Dr. Schneider verwundert: „Ich dachte, Sie hielten die Leseprobe für unwürdig, nur noch einen Deut weiter gelesen zu werden.“
Bebend schaute Hartmann seinem alten Weggefährten in die Augen. „Solchen Dieben, lieber Doktor Schneider, muss das Handwerk gelegt werden. Und zwar ein für alle Mal! Wenn Sie meine Nacht erlebt hätten, würden Sie verstehen, dass nur die persönliche und direkte Auseinandersetzung mit diesem Betrüger wenigstens ein Mindestmaß befriedigender Genugtuung und nachhaltiger Abstrafung verschafften kann. Schließlich will ich wieder wenigstens einigermaßen schlafen können. Also her mit dem gesamten Manuskript, damit ich diesem Verbrecher der Schöpfungshöhe die Gesamtheit seiner widerlichen Taten nachweisen und um die Ohren hauen kann! Und laden Sie den Kerl in 14 Tagen zu mir ein! Das Sekretariat soll einen frühen Vormittagstermin suchen, damit der Lump möglichst früh aufstehen muss.“
Hartmann wusste aus der Fußzeile des Manuskripts, dass der Verfasser, ein unbekannter Autor namens Gernot Lammroth, in Berlin beheimatet war, und richtig viel zu tun haben würde, an einem frühen Vormittag in Gütersloh, dem Hauptsitz des Konzerns, zu erscheinen.
Vierzehn Tage später stand der Täter vor ihm. Der Dieb teuerster Literatur. Der Räuber wertvollster Dichtkunst. Der Mann, der Hartmann um den Schlaf gebracht hatte. Von Wuchs schien der Mann nicht gerade groß, vielleicht um die 1 Meter 70. Ein kleiner Wicht, urteilte der Verlegerkönig. Dazu die aus Hartmanns Sicht wirklich gräuliche Kleidung: braune Cordhose, ein verwaschener, ehemals wohl gelber Pollunder, darüber auf einem karierten Hemd ein abgestoßener Kragen, der unter einem beigefarbenen, mindestens 30 Jahre alten Sakko einen runden Kopf ohne Hals hielt. Die langsam ausgehenden Haare hatte der Besucher sorgsam nach links gekämmt. Wohl um Ordnung bemüht, dachte sich Hartmann, und um den Anschein eines sittsam-seriösen Mannes zu erwecken. Das Gesicht des Frevlers zeigte erstaunliche Frische. Rosa Teint, glatte Haut, tadellos rasiert, mit übel duftendem Rasierwasser balsamiert, vielleicht auch mit einem Gel der billigsten Sorte.
Um sich keine Blöße zu geben, begrüßte Hartmann den Mann, der sich so frech wie hinterhältig an der Kunst vergriffen hatte, förmlich und bat ihn Platz zu nehmen. Der Übeltäter wählte zum Sitzen einen Eckplatz auf der großen, weißen Couch, die in Hartmanns Büro stand, und stellte einen mitgebrachten Diplomatenkoffer aus den frühen achtziger Jahren dicht an seine Füße.
Hoffentlich führt der Kerl keine Bombe in dem Koffer mit, überlegte Hartmann, um sich und mich in die Luft zu sprengen, falls das Gespräch nicht in die gewünschte Richtung läuft. Vorher jedoch würde er dem Kerl aber noch kräftig den Marsch blasen. Hartmann nahm gegenüber seinem Gast in einem Sessel Platz, der ebenfalls zur Garnitur gehörte.
„Nun, Herr Lammroth, Sie werden sich vermutlich wundern, warum Sie ausgerechnet der Vorstandsvorsitzende des Konzerns eingeladen hat“, eröffnete Hartmann das Gespräch.
„Nun ja“, antwortete der Angesprochene, „ich vermute wegen meines Manuskripts.“
„Sie sind ein schlaues Kerlchen“, höhnte Hartmann, “aber nicht schlau genug. Wer, zum Teufel, hat Sie denn glauben lassen, dass Sie mit dieser Masche durchkommen?“
Der Frevler blickte Hartmann fragend an. „Entschuldigung, aber von welcher Masche sprechen Sie?“
„Von welcher Masche ich spreche?“, erzürnte sich Hartmann. „Von dem geistigen Diebstahl, dessen Sie sich durchgehend schuldig gemacht haben. Ihr gesamtes Manuskript trotzt vor Plagiaten. Bald kein einziger Satz, den ich in Ihrem Teufelswerk fand, stammt aus Ihrer Feder. Sie haben gestohlen, wo Sie nur konnten – vornehmlich bei den Größten der Dichtkunst.“ Der Erzürnte rückte seine vor Aufregung ein Stück heruntergerutschte Brille zurecht und fuhr fort: „Selbst vor der Bibel haben Sie nicht haltgemacht!“
Lammroth unterbrach den Redeschwall seines Peinigers: „Falls Sie mein Manuskript durchgehend und vor allem aufmerksam gelesen haben, müsste Ihnen aufgefallen sein, dass ich auch jeweils einen Satz aus dem Koran, dem Tanach der Juden und dem Tripitaka, dem Kanon der Schriften des Buddhismus, sowie weiterer maßgeblicher Religionsschriften verwendet habe.“
„Verwendet?“, ereiferte sich der Literaturexperte, „Sie haben nicht verwendet, Sie haben entwendet! Kaltblütig gestohlen. Sich in der Weltliteratur bedient, wo Sie nur konnten. Um auf eine ganz faule, miese und fiese Art von den größten Koryphäen unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu stehlen. Um zu nehmen, was nicht Ihnen gehört. Um auf eine ganz dreckige und billige Art zu profitieren. Pfui, sind Sie ein Schwein!“
Nachdem Hartmann fertig war, holte er erst einmal tief Luft. Sein Gegenüber schaute den Medienmogul mit Unverständnis an. Dann äußerte Lammroth sich, leise und wenig beeindruckt: „Erstens wird es auch nicht besser, wenn Sie andauernd betonen, dass ich gestohlen hätte. Und zweitens muss ich anscheinend meine Hoffnung begraben, in Ihnen jemand gefunden zu haben, der den eigentlichen, den tieferen Sinn dieses umfassenden Manuskripts, ich möchte sogar sagen: der den wahren Wert dieses monumentalen Universalwerkes erkennt und würdigt.“
Hartmann war baff. Was nahm sich dieser Kerl, dieser Verbrecher heraus? Und was glaubte dieser Betrüger, würde aus diesem, naja, immerhin - und mit viel Wohlwollen betrachtet - noch einigermaßen ordentlich zusammengestrickten Manuskript ein monumentales Universalwerk werden lassen? Er fragte nach: „Was in aller Welt lässt Sie annehmen, dass Ihr aus Betrug, Diebstahl und Raub zusammengestellter Text ein Universalwerk werden lässt?“
Lammroth beugte sich sichtlich enttäuscht vor. „Es geht im Eigentlichen weniger um die Geschichte, die das Buch erzählt. Wenngleich der Plot, mit viel Aufwand entwickelt, sich durchaus sehen lassen kann. Es geht vielmehr um die Rettung der Dichtkunst, was sag‘ ich, es geht im Prinzip um die Rettung der gesamten Literatur.“
„Erklären Sie sich weiter!“ Hartmann verstand nicht, warum er dies gerade gesagt hatte, anstatt den Kerl gleich wieder vor die Tür zu setzen.
Lammroth folgte der Aufforderung: „Sehr geehrter Herr Hartmann, vielleicht hören Sie mir erstmal einen kurzen Augenblick zu, bevor Sie mich weiter beleidigen! Wir alle wissen doch, dass die Menschheit das Lesen mehr und mehr vernachlässigt. Die visuellen Reize des Fernsehens, der Filmkunst, der Computer und Smartphones lassen das Lesen mehr und mehr in den Hintergrund rücken. Unsere Kinder leiden unter einem akuten Mangel an Phantasie, weil sie zu wenig oder gar nicht mehr Bücher oder wenigstens längere Texte lesen. Sie konsumieren vor irgendeinem Bildschirm, ohne sich selbst ausmalen zu müssen, was hinter einer niedergeschriebenen Landschaftsbeschreibung, einer dargestellten Person, hinter einer Geschichte - egal ob Tragödie oder Komödie, egal ob wahr oder erfunden - stecken könnte. Die Lese- und Rechtschreibschwäche nimmt nicht nur weltweit, sondern gerade auch bei uns dramatisch zu, Lesen ist kein Abenteuer mehr, keine Leidenschaft und keine angewandte Kulturtechnik, Lesen droht zur unliebsamen Qual zu verkommen, der man allenfalls noch beim flüchtigen Betrachten einer Kurznachricht nachkommt. Lieber zieht man sich heute einen Film oder ein PC-Spiel rein als sich in einem spannenden Buch zu verlieren. Erholung vom Alltag und Abwechslung sucht man heute nicht mehr beim Lesen, sondern beim Chillen vor dem Smartphone oder PC oder Fernseher.“
„Und Ihr Buch wird daran etwas ändern?“
Der höhnisch-provokanten Äußerung bewusst, fuhr der vermeintliche Dieb fort: „Nun Herr Hartmann, ich habe die letzten 23 Jahre damit verbracht, aus den 5000 wichtigsten und bedeutendsten Büchern der Weltgeschichte jeweils einen Satz zu extrahieren, um ein einziges Buch zu erschaffen. Nämlich das Buch, das für alle Zeiten die Schönheit, Weisheit und globale Relevanz der gesamten Weltliteratur in sich vereinigt. Ja, es stimmt, nicht ein einziger Satz dieses Manuskripts stammt aus meiner Feder, dennoch ist das, was ich geschaffen habe, einmalig und wird der Welt noch einen großen Dienst erweisen.“
Lammroth begann sich in Rage zu reden. Er fuhr fort: „Wissen Sie überhaupt, welchen Aufwand es bedarf, tausende von Büchern zu sichten? Können Sie ermessen, was es bedeutet, aus den besten, gewaltigsten und erfolgreichsten Werken der Weltliteratur jeweils nur einen einzigen, beispielgebenden Satz nehmen zu können und diesen in einen sinnvollen Zusammenhang mit allen anderen ausgewählten zu bringen? Wie schwierig die Entscheidungsfindung war und wie mühselig das Zusammensetzen der einzelnen Puzzleteile zu einem lesbaren, Sinn gebenden Plot? Ich habe eine brutale Auswahl treffen müssen aus sämtlichen je veröffentlichten Büchern der gesamten Menschheitsgeschichte!“
Hartmann unterbrach den Redner: „Was hat Sie qualifiziert, unter allen Büchern, die je geschrieben wurden, die maßgebliche Auswahl zu treffen? Wer sind Sie, darüber zu urteilen, welches Werk es Wert ist, in Ihrer Zusammenfassung zu erscheinen?“
Lammroth schien diese Frage erwartet zu haben. „Ich habe weltweit knapp eintausend Literaturlehrstühle an Hochschulen angeschrieben, ungefähr ebenso viele Literaturkritiker, natürlich nur die profiliertesten. Ich habe Kontakt zu den am besten ausgestatteten Bibliotheken und versiertesten Buchhandlungen auf der ganzen Welt aufgenommen und selbstredend die Meinung der renommiertesten und bekanntesten Autorinnen und Autoren, eingeschlossen sämtliche lebenden Pulitzer- und Literaturnobelpreisträger, eingeholt. Ich habe Historiker, Meinungsmacher und Politiker aller Richtungen und Facetten um eine Longlist gebeten, dazu Kirchenfürsten und Journalisten.“
Hartmann schaute Lammroth erstaunt ins Gesicht: „Für einen einzigen Mann eine ganze Menge Arbeit. Übrigens, mir ist nicht in Erinnerung, dass Sie mich in dieser Angelegenheit jemals befragt hätten. Lammroth nickte: „Selbstverständlich habe ich auch Sie angeschrieben und um eine Liste der aus Ihrer Sicht bedeutendsten Bücher aller Zeiten gebeten. Allerdings habe ich anstelle einer Auswahlliste leider nur einen netten Brief Ihrer Presseabteilung mit einem freundlichen Hinweis auf Ihren hohen Anfall von Arbeitsaufgaben und der damit leider verbundenen Absage meines Wunsches sowie einer file list möglicher Datenquellen im Netz erhalten.“
Lammroth hatte ohne Zorn oder sichtbare Enttäuschung geantwortet. Erstens gehörten Absagen auf seine Anfragen ebenso zu seiner Recherchearbeit wie nie beantwortete, zweitens wusste er nun sicher, dass er Hartmann auf seine Fährte gelockt hatte. Er fuhr fort: „Um die Frage nach meinem Aufwand zu beantworten: ja, ich habe einen Gutteil meines Lebens damit verbracht, zu recherchieren, zu sammeln und auszuwerten. Natürlich habe ich mir als Computerspezialist für die Endauswahl der in das Buch aufzunehmenden Sätze, es sollten ja insgesamt genau 5000 sein, eine umfassende Datenbank gebaut, deren Inhalte anhand eines von mir speziell entwickelten Logarithmus auf Relevanz und Validität, Qualität und Interpretationsstabilität der empirischen Daten ausgewertet und weiterverarbeitet wurden.“
„Da waren Sie nicht der erste“, warf Hartmann ein, „Wie sind Sie weiter vorgegangen?“
Lammroth war über das Interesse seines Gesprächspartners nicht verwundert, hatte er diesen doch inzwischen in sein Spinnennetz locken können. „Mit Hilfe“, so seine Erklärung, „eines weiteren, von mir selbst entwickelten Computerprogramms. Mit diesem Prototyp habe ich auf der Grundlage linguistischer Analysen potenziell infrage kommende Sätze aus den einzelnen Werken extrahiert und zu einer schlüssigen Handlung zusammengefügt. Dass ich dazu technisch in der Lage bin, haben Sie ja bestimmt meiner der Leseprobe beigefügten Vita entnommen.“
Natürlich hatte Hartmann die Kurzvita des Plagiatverbrechers gelesen. Der Kerl war, ebenso wie er selbst, 1954 zur Welt gekommen, allerdings in der Nähe Berlins, also im Hoheitsgebiet DDR. Als berufliche Ausbildungen hatte Lammroth eine Lehre zum Elektromechaniker angegeben, an das sich später noch ein Studium der Informationsverarbeitung anschloss, als derzeitige berufliche Tätigkeit nicht Autor oder Schriftsteller, sondern EDV-Dozent mit unterschiedlichen Honoraraufträgen bei Berliner Bildungsträgern. Veröffentlicht hatte Lammroth noch nichts.
„Sie haben noch nichts veröffentlicht“, bohrte Hartmann aus weiterem Interesse nach, „Keine Epik oder Prosa? Keine wissenschaftlichen Artikel, keine Sachbücher?“
Lammroth schüttelte den Kopf.
„Und warum nun ausgerechnet dieses Buch voller gestohlener Sätze?“
Lammroth antwortete leiser, bedachter als zuvor. „Irgendjemand musste es ja tun. Irgendjemand sollte das Wichtigste zusammenfassen. Um es für die Nachwelt zu sichern. Nicht die ganze Literatur, die es zweifelllos verdient hätte.“
Mit Absicht ließ er eine kurze Pause folgen, als suchte er nach weiteren Worten. „Sehen Sie, Herr Hartmann, ich wollte der Menschheit mit diesem Buch einen allumfassenden, beispielgebenden, konzentrierten Abriss der gesamten Weltliteratur schenken. Wer auch immer in dieses Buch schaut, soll Antworten auf alle wichtigen Fragen finden. Und ich glaube doch, dass dies mir recht gut gelungen ist.“
Hartmann kam diese Aussage verstört und überheblich, fast schon krankhaft vor. Dennoch steckten in ihr vielleicht so etwas wie Engagement, Enthusiasmus und Überzeugung. Der Konzernchef bohrte weiter: „Und Sie glauben ernsthaft, dass Sie mit diesem Buch der Welt einen Gefallen tun? Einen Dienst erweisen? Oder wollen Sie in Wirklichkeit damit nur Geld verdienen?“
Lammroth lehnte sich zurück. „Was ist Schändliches daran, mit Literatur Geld zu verdienen, das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu erklären. Es stimmt, kein einziger Satz dieses Buches stammt aus meiner Feder. Aber bedenken Sie, statt beispielsweise im Deutschunterricht unter fremderzeugtem Druck qualvoll eine Handvoll ausgewählter Bücher lesen zu müssen, erhalten Sie mit meinem, ich sag jetzt mal Universalalmanach, einen Gesamtüberblick, der - genial zusammengestrickt - vielleicht sogar Appetit auf mehr Lesen macht, mit Sicherheit aber das Allgemeinwissen erheblich erweitert. Mit diesem einzigartigen Werk epischen Ausmaßes könnte für jeden Menschen das wirkliche Lesen beginnen. Selbst wenn Sie nie wieder ein weiteres Buch in die Hand nehmen würden, so hätten Sie doch das umfassendste aller Zeiten gelesen. Außerdem setze ich mit diesem Gesamtwerk den wichtigsten und bedeutendsten Schriftstellern, Politikern, Wissenschaftlern und Themen ein alle Zeiten überdauerndes Denkmal.“ Lammroth beugte sich näher zu seinem Gesprächspartner vor. „Und Sie, Herr Hartmann, bringen das Buch auf dem Markt. Das Buch der Bücher. Das Universalwerk. Das wichtigste Buch aller Zeiten. Das einzige, das die Welt im schlimmsten Fall sichern und retten muss.“
Hartmann stand kurz auf, um Getränke zu ordern. Er wandte sich an seinen Gast: „Auch Tee oder lieber einen Kaffee?“
„Auch Tee“, wickelte Lammroth seinen Gastgeber ein. Die aufgestellte Falle hatte so gut wie zuschnappt.
Während die Kontrahenten auf den Tee warteten, klärte Hartmann den Eingeladenen auf: „Sehen Sie, guter Mann, ein Manuskript, das ausschließlich aus zitierten Sätzen bereits veröffentlichter Texte zusammengestrickt ist, hält schon rein juristisch keiner Prüfung stand. Mit viel Wohlwollen könnte ein derartiges Buchprojekt vielleicht gerade noch so als Beispiel hochkrimineller Plagiatskunst herhalten. Aus lizenzrechtlicher Sicht aber wäre es ein schier aussichtsloses Unterfangen, die notwendigen Erlaubnisse beziehungsweise Genehmigungen zur Übernahme und Nutzung sämtlicher der in Ihrem Manuskript versammelten Sätze von den Rechteinhabern zu erhalten.“ Hartmann setzte sich wieder. „Abgesehen davon wirkt der komplette Erzählstrang, so wie er von Ihnen zusammengeschustert wurde, weder besonders fesselnd noch umwerfend interessant. Ihre Absicht zur Rettung der Weltliteratur in Ehren, aber sie ist naiv, töricht, im eigentlichen Sinn sogar weltfremd.“
Lammroth hörte geduldig schweigend zu - wie es sich für jemanden gehörte, der an sachlicher Kritik interessiert war. Hartmann musste während seiner Ausführungen innerlich ein wenig schmunzeln. Überkam nicht irgendwann so gut wie jeden in der Literatur Tätigen eine große Sehnsucht nach einem alles umfassenden Werk? Einem Buch, das komplett alles in sich vereinte, was die Dichtkunst jemals hervorgebracht hatte? Und konnte man aus diesem Grund nicht auch jenem armen Tropf verzeihen, der zwar mit unlauteren Mitteln, gleichwohl aber mit viel Mühe und Akribie gesammelt und geschuftet, gesichtet und getüftelt hatte. Lass ihn noch eine Tasse Tee trinken, dachte sich Hartmann, und genießen vom Konzernchef der weltweit größten Verlagsgruppe persönlich empfangen worden zu sein. Dann entlass den selbsternannten Literaturretter mit ein paar freundlichen Worten und vergiss ihn für immer.
Um endlich diese Diskussion zu beenden, für Hartmann war alles gesagt, und um die Zeit bis zum versprochenen Tee zu überbrücken, bat Hartmann seinen Gast um Auskunft, was es mit dem Diplomatenkoffer, den dieser bei sich trug, auf sich hatte.
„Och“, antwortete dieser, „da ist mein Reisegepäck drin: Rasierer, Zahnpasta, ein frisches Hemd und Ersatzunterwäsche.“ Lammroth warf kurz einen liebevollen Blick auf das Utensil. „Es freut mich, dass dieses alte Stück, welches mich so lange begleitet und mir immer gute Dienste erwiesen hat, Ihre Aufmerksamkeit erregt.“
„Ich schleppte einen ganz ähnlichen in den 80-er Jahren mit mir herum“, erinnerte sich Hartmann an die Anfangszeiten seiner beruflichen Laufbahn und wie er, stolz wie Oskar, mit seinem ledernen Diplomatenkoffer zur Arbeit ging.
Das dennoch für eine Gesprächsverlagerung zu wenig ergiebige Thema veranlasste Hartmann, eine weitere, eher beiläufig gemeinte Frage zu stellen. „Wenn Sie sich so dermaßen für Literatur interessieren, warum schreiben Sie nicht mal etwas selbst? Hat Sie nie die Entwicklung eines eigenen Manuskripts gereizt, eines Werkes, dass aus Ihrer eigenen Feder stammt?“
Die Falle hatte zugeschnappt.
„Sie werden lachen“, antwortete Lammroth, „habe ich.“
Hartmann forderte den selbsternannten Weltliteraturretter zum Weiterreden auf. Um des Verlegerkönigs Neugier zu steigern, verzögerte der angesprochene ein wenig die Antwort. Endlich redete er weiter: „Das von mir selbst angefertigte Manuskript beruht auf reinen Tatsachen. Und diese ließen, so sie ans Tageslicht kämen, die jüngste Geschichte sowohl der DDR, vor allem aber der BRD in einem neuen, ganz anderen Licht erscheinen.“
„Wie meinen Sie das?“, erbat Hartmann mehr Auskunft.
Lammroth fuhr fort: „Noch während meines Studiums der Datenverarbeitung, das ich einige Jahre nach meiner Facharbeiterausbildung zum Elektromechaniker absolvierte, hat mich das Ministerium für Staatssicherheit angeworben. Ich hatte mich im Studium auf Computerlinguistik spezialisiert – naja, meine Affinität zu Literatur und Sprache.“
Lammroth unterbrach seine Rede, als die Tür aufging und eine Mitarbeiterin den Tee hereinbrachte.
„Stellen Sie das Tablett hier ab, das genügt!“, mahnte Hartmann seine Mitarbeiterin zur Eile. Sobald diese das Zimmer verlassen hatte, nahm Lammroth den Faden wieder auf: „Mir schien die Mitarbeit in einer Behörde, besonders in einer wie dem Ministerium für Staatssicherheit, weniger attraktiv als die eigentliche Aufgabe. Es ging im Wesentlichen um die Analyse von Sprache, in meiner Abteilung von gesprochener Sprache. Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, alle Formen gesprochener Sprache in Schriftsysteme zu bringen, in lesbare Dokumente.“
Hartmann unterbrach seinen Gast: „Ich verstehe, Sie sprechen von Umschriften.“
„Genau“, fuhr Lammroth fort, „wir nannten es Transkription.“
Hartmann kannte natürlich auch diesen Fachausdruck, bevorzugte aber der Liebe zur deutschen Sprache wegen den von ihm gewählten Begriff.
Lammroth fuhr fort: „In einem nächsten Schritt, als wir über das technische Wissen verfügten und die Möglichkeiten dazu hatten, wurden ab einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche Texte des auditiven Materials mithilfe spracherkennender Computertechnik auf alle denkbaren Interpretationsmöglichkeiten hin untersucht. Wir entwickelten seinerzeit inhaltsanalytische PC-Programme, die in der Lage waren, jede sprachliche Äußerung, ob spontan oder einstudiert, auf ihren Wahrheitsgehalt, ihre Motivation und ihre tatsächliche Absicht hin zu überprüfen. Jeder Tonfall, jedes Räuspern, jede Sprechpause, jede Betonung und jedwede Form der Aussprache konnten als Zustimmung oder Ablehnung, als offene oder geheime Botschaft identifiziert werden. Selbst Lachen, Atmen, Gähnen, Floskeln, regionale Termini oder ein „äh“ oder „ähm“ konnten wir anhand der mitgeschnittenen Telefonate, Interviews, Verhandlungen, Seitengespräche, Smalltalks und Sondierungsgespräche auf absichtliche oder unabsichtliche, auf gewollte oder ungewollte Signale hin mit so gut wie 100-prozentiger Sicherheit deuten. Zu jedem aufgezeichneten Gespräch fertigten wir erstens eine individuelle Diskursanalyse an, zweitens eine Dialoganalyse und drittens eine Inhaltsanalyse.“
„Nun gut“, fügte Hartmann hinzu, „das Gleiche oder Ähnliches machten vermutlich alle anderen Auslandsgeheimdienste auch. Davon gehe ich jedenfalls aus.“
„Nur sitzt Ihnen hier jemand Ihnen gegenüber“, führte Lammroth trocken aus, „der die geheimen Mitschnitte bundesdeutscher Spitzenpolitiker, die in die DDR eingereist waren, in seinem alleinigen Besitz hat. Die Rede ist hier nicht nur von öffentlichen, sondern auch von geheimen Treffen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und nicht nur das. Ich bin ebenfalls im Besitz sämtlicher Auswertungsergebnisse dieser Gespräche.“
„Was wollen Sie damit andeuten?“, hakte Hartmann sofort nach.
Lammroth antwortete: „Gegen Ende der Achtziger Jahre hatte ich mich im gesamten Ministerium zum Top-Experten für textuelle Korpus- und Computerlinguistik der deutschen Sprache hochgearbeitet. Ich wurde nicht mehr auf kleine Fische wie Republikflüchtlinge, Oppositionelle oder Personen mit staatsfeindlichen Westkontakten angesetzt. Meine Hauptaufgabe war die geheime Aufzeichnung und Auswertung aller Gespräche - ich betone: aller - Ihrer unseren Staatsapparat aufsuchenden Regierungsspitzen. Mit Staatsapparat meine ich das Politbüro der DDR und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei.“
„Naja“, mutmaßte Hartmann, „da wird vielleicht schon mal das eine oder andere unbedachte Wort gefallen sein. Außerdem ist das lange her.“
„Guter Mann“, lachte Lammroth, „ich rede hier nicht, jedenfalls nicht nur, von Parteivorsitzenden, Ministern und Ministerpräsidenten der Bundesrepublik und ihrer Bundesländer, die längst aus ihrem Amt ausgeschieden oder bereits tot sind. Das Material, was ich in der Wendezeit kurz vor der Erstürmung der Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg gesichert habe, ist an Brisanz nicht zu übertreffen. Ich habe Material, da würde Ihnen die Hutschnur hochgehen. In meinem Besitz befinden sich kompromittierende Originalaufnahmen von Geheimgesprächen bundesrepublikanischer Politiker, die heute noch im Amt sind. Übrigens handelt es sich dabei auch um Dokumente, die nichts anderes als eine sofortige Entlassung beziehungsweise ein sofortiges Amtsenthebungsverfahren mit der Anklage wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zur Folge hätten. Und zwar in besonders schweren Fällen, da es sich durchweg um Personen handelt, die ihre verantwortliche Stellung missbraucht haben. Und die aufgrund ihres Amtes zur Wahrung mit dieser Stellung verbundenen Geheimnisse besonders verpflichtet waren - und zum Teil heute noch sind.“
Hartmann schaute Lammroth fragend an.
„Ja“, lehnte sich dieser zurück, „aus diesen Originalaufzeichnungen, von denen es übrigens keinerlei Duplikate gibt, habe ich eine umfassende Dokumentation gemacht, die Ross und Reiter nennt und für mächtigen Wirbel im heutigen Deutschland, ich vermute sogar weltweit sorgen dürfte. Wenn das, was ich zu einem veritablen Manuskript zusammengefasst habe, herauskommt, rollen Köpfe. Nicht nur einer, Herr Hartmann. Mehrere. Und so manch ein Lebenslauf ehrenvoll gewürdigter Politiker müsste gänzlich neu geschrieben werden.“
Lammroth beugte sich nochmals vor. „Falls Sie jetzt an Hitlers Tagebücher oder so etwas gedacht haben, ich liefere Ihnen zusammen mit meinem Manuskript alle Audio-Mitschnitte und sämtliche verschriftlichten Originalaufzeichnungen. Exklusiv und zu treuen Händen.
Hartmanns investigative Spürnase brannte.
„Naja gut“, bemühte sich der erfahrene Verlagsmanager um eine möglichst zurückhaltende Stellungnahme, „Sie könnten mir ja mal gelegentlich - und selbstverständlich ganz unverbindlich - das Manuskript zukommen lassen. Oder haben Sie es vielleicht zufälligerweise dabei?“
Hartmanns Blicke fielen auf den Aktenkoffer.
„Nein“, antwortete Lammroth und wusste nun gewiss, dass er die richtige Fährte ausgelegt hatte und die Falle an der vorgesehen Stelle endgültig zugeschnappt war.
Um Ruhe und professionelle Zurückhaltung bemüht, bat Hartmann seinen Gast beiläufig um eine Auskunft: „Haben Sie dieses zweite Manuskript schon anderen Verlagen angeboten?“
Lammroth verneinte, Hartmann sei bislang sein erster und einziger Ansprechpartner.
„Dann schicken Sie bitte das gesamte Manuskript nicht an irgendein Lektorat meiner Verlage, sondern mit kurzer Bezugnahme auf unser heutiges Gespräch und dem Vermerk „persönlich/vertraulich“ direkt zu meinen Händen!“
Hartmann wusste, dass mit dieser Adressierung das Manuskript ungeöffnet bei ihm auf dem Schreibtisch landen würde. Für den Vertraulichkeitsvermerk hatte der erfahrene Verlagschef zwei Gründe. Die Wahrheit Lammroths Geschichte vorausgesetzt, wäre zum einen die Dokumentation von solch hoher Brisanz, dass sowohl der Verfasser als auch das Schriftstück selbst geschützt werden müssten. Zweitens dürfte in diesem Fall die überall lauernde Konkurrenz nicht den Hauch einer Chance erhalten, auf welchen Wegen auch immer, Wind von diesem Manuskript zu bekommen.