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Kapitel 2
ОглавлениеHartmanns Lesestunde. Unter den Textproben befand sich das erste Kapitel eines Krimis. Das Manuskript war relativ emotionslos, fast dokumentarisch geschrieben, erinnerte in der Form eher an ein Dossier als an einen Roman. Es beschrieb aus der Sicht eines bekannten Film- und Theaterregisseurs die Suche nach seinem plötzlich verschwundenen Trauzeugen, einem bislang unauffälligen Durchschnittsbürger, der, was seinem Freund nicht bekannt war, als Bankmitarbeiter des Öfteren Wertpapiere aus Schließfächern entwendet hatte, deren Inhaber gerade verstorben waren. Bereits in der Einführung des Romans offenbarte der Verfasser, dass sich unter den gestohlenen Papieren auch hochbrisante aus dem 2. Weltkrieg befanden, die bekannten Menschen – Künstlern, Politikern – gehörten. Wie Hartmann dem beigefügten Exposé entnehmen konnte, verdichteten sich in der Folge Hinweise darauf, dass der Staatsschutz des Landes, in dem die Geschichte spielte, seine schmutzigen Hände beim Verschwinden des Schließfachdiebs im Spiel hatte und dass sich der Regisseur bei der weiteren Suche nach seinem Freund in Lebensgefahr begeben würde. In der letzten E-Mail erinnerte der Verschollene seinen Kumpel an die schönen Zeiten, welche beide gemeinsam anlässlich ihrer jährlichen Besuche der Berliner Filmfestspiele erleben durften. In derselben Mail bat der Dieb seinen Freund, ihn für immer aus dem Gedächtnis zu streichen. Konkret hieß es im Text: „Suche nicht nach mir, wenn Dir Dein Leben etwas wert ist! Vernichte alles, was uns einte, und vergiss meinen Namen für immer! Falls ich das alles überlebe, werde ich mich bei Dir melden!“
Die Leseprobe stammte aus der Feder eines unbekannten Autors namens Ömer Titec. Hartmann war konsterniert, man könnte sagen: sogar ein wenig geschockt. Angstschweiß hatte sich bereits während des Lesens auf seiner Haut gebildet. Ein Gefühl eigenartiger Bedrohung beschlich den erfahrenen Medienmacher, gemischt mit beinahe infantiler Neugier sowie einem Hauch prickelnder Abenteuerlust, wie sie zuweilen investigative Journalisten anfällt. Der Verstörte nahm die Brille ab, schloss die Augen und versuchte tief und langsam zu atmen. Während seiner Atemübungen wartete er genau die Zeit bis zum regulären Ende der Lesestunde ab, dann begab er sich mit den Leseproben unter dem Arm in das Büro seiner Chefsekretärin.
„Darf ich etwas für Sie tun?“, begrüßte Frau von Goeben ihren Chef, der gewöhnlich nicht das Sekretariat aufsuchte.
„Ja“, antwortete Hartmann, „haben Sie einen Aktenvernichter?“
Frau von Goeben zeigte auf das Gerät in der Nähe des Kopierers. „Dort drüben.“
Mit den Jahren hatte sie ihren Chef einzuschätzen gelernt und bemerkt, dass ihn etwas zu bedrücken schien. „Geht es Ihnen gut“, fragte sie, „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, ja, es sind nur diese schrecklich schlecht geschriebenen Manuskripte, sie versauen einem manchmal richtig den Tag. Diese hier sind so grauenvoll, dass sie nichts anderes verdient haben als umgehend entsorgt zu werden.“
Hartmanns Chefsekretärin stand auf, um ihrem Boss die Manuskripte abzunehmen: „Lassen Sie, das kann ich doch machen!“
„Nein, nein“, wehrte Hartmann ab und lief zum Papierwolf, „ich möchte mich mehr bewegen und körperlich ein bisschen aktiver werden zwischen dem unentwegten Sitzen.“
Er schaltete das Gerät ein und begründete seine Aktivität weiter, während er Blatt für Blatt in den Reißwolf steckte: „Es gibt da so eine 45-10-5-Minuten-Regel. Sobald Sie 45 Minuten am Schreibtisch sitzend gearbeitet haben, sollten Sie 10 Minuten umhergehen und sich weitere 5 Minuten auf andere Art und Weise bewegen.“ Hartmann zwinkerte seiner Sekretärin zu: „Sollten Sie auch mal versuchen!“
Frau von Goeben nickte - ein wenig aus Gewohnheit, ein wenig, weil sie die Idee nicht schlecht fand. Noch eines musste sie bezüglich der Aktenvernichtung nachfragen: „Ich gehe davon aus, dass Sie keine Nachricht mit einer Begründung für die Ablehnung der Texte an die Autoren wünschen?“
Die korrekte Chefsekretärin wollte den Sachverhalt klären, da Sie im Normalfall die Autoren abgelehnter Manuskripte anhand vorgefertigter Textbausteine über die Ablehnungsgründe informierte, sich für das Interesse an einer Veröffentlichung bedankte und mit einer mutmachenden Floskel sowie freundlichen Grüßen verabschiedete.
Hartmann quittierte die Frage mit einem Blick, der seiner Sekretärin nichts anderes als Unmut signalisierte. Sie verstand.
Die Vernichtung dauerte, sodass Hartmann die Zeit mit einer für ihn nicht ganz unwichtigen Frage überbrückte: „Sagen Sie, wie sieht mein diesjähriges Berlinale-Programm aus?“
Hartmanns persönliche Terminplanung schloss den Besuch der Berliner Filmfestspiele seit Jahrzehnten verbindlich ein; zum einen zählte seine Anwesenheit als Chef Europas größter Mediengesellschaft zu seinen originären Repräsentationspflichten, zum anderen liebte er gute Filme
und letztlich traf er nirgendwo anders so viele Geschäftspartner, Freunde und Bekannte aus aller Welt.
Elisabeth von Goeben öffnete am PC die Kalenderseite ihres Chefs und las vor: „Sie reisen am kommenden Samstag nach Berlin, besuchen sechs Filmvorführungen und sind zu acht Galas respektive After-Show-Partys eingeladen. Zwischendurch haben Sie vier Interviewtermine und fünf Treffen mit Politikern.“
Wieder schaute Hartmann seine Chefsekretärin verärgert an: „Können Sie anstatt der Wortungeheuer „respektive“ und „After-Show-Party“ nicht einfach die Formulierungen „beziehungsweise“ und „Feier“ wählen?“
Frau von Goeben dachte kurz nach und erwiderte dann: „Bei der Formulierung „beziehungsweise“ gehe ich gern mit, aber das Wort „Feier“ beschreibt nur in ungenügendem Maß das gemeinte Ereignis und „Nachfeier“ klingt irgendwie ebenso missverständlich wie „Anschlussfeier“.
Obgleich Hartmann nicht zum Lachen zumute war, konnte er sich eines kurzen, zustimmenden Schmunzelns nicht entziehen. Der Grund für seine gedrückte Stimmung lag auf der Hand, immer noch bestimmte die eben vernichtete Textprobe Hartmanns Befinden. Zu beängstigend las sich der Inhalt des Papiers, zu offensichtlich die Warnung, ab sofort jeglichen Kontakt zu dem in Berlin beauftragten Detektiv einzustellen. Zu deutlich kam das Signal an, jegliche Suchaktivitäten in Zusammenhang mit Lammroth ab sofort einzustellen, sofern einem das eigene Leben lieb war. Warum überhaupt, fasste Hartmann die Botschaft gedanklich zusammen, wollte sich Ömer Titec dann noch mit ihm auf der Berlinale treffen? Und wie sollte dieses Treffen über die Bühne gehen? Und woher, verdammt nochmal, fragte sich der zwischenzeitlich in sein Büro Zurückgekehrte, weiß dieser Detektiv, dass ich jedes Jahr die Filmfestspiele in Berlin besuche? Und wie hat es dieser Bursche angestellt, den Kontakt zu mir über eine unter hunderten zufällig ausgewählten Leseproben herzustellen? Fragen, die sich dermaßen im Kopf des Konzernchefs festsetzten, dass er nach dem lange seiner Frau versprochenen Theaterbesuch zum anschließenden Nachgespräch nichts Wesentliches beitragen konnte. Während sie, kaum zuhause, müde ins Bett gefallen war und sofort Schlaf gefunden hatte, zog er sich den Morgenmantel über, um noch einige Meter über den Wohnzimmerteppich zu schreiten. Wieder änderte Hartmann im Laufe der feinverwebten Meditation seine Meinung, wieder fasste er einen neuen Entschluss. Die Angelegenheit, entschied er, musste für immer zu den Akten gelegt werden. Endgültig. Und sofort. Was interessierte ihn schließlich der Verbleib dieses Berliner Blödmanns mit seinen wilden Theorien über geheime Politikertreffen zu DDR-Zeiten. Soll der Kerl doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, versuchte Hartmann die Situation abschließend zu klären. Ob in Berlin oder anderswo, ob tot oder lebendig. Und überhaupt, der mit dem Fall beauftragte Detektiv hatte ja nun wirklich mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht, die Finger von diesem Lammroth zu lassen. Und wenn selbst ein Privatdetektiv so viel Angst um das eigene Leben hat, dass er seinem Auftraggeber unmissverständlich aufträgt, jegliche weiteren Kontakte zu ihm einzustellen, dann dampfte die Kacke vermutlich über den Himmel hinaus bis zur Hölle. Warum Ömer Titec noch einmal Kontakt zu ihm haben wollte, nämlich in Berlin, wenn Hartmann die Festspiele besuchen würde, erklärte sich der Teppichwandler mit der noch ausstehenden Bezahlung, die der Privatdetektiv wahrscheinlich zum Eigenschutz in bar sehen wollte - ohne jegliche Belege und Nachweise. Nicht nachweisbar und nicht rückzuverfolgen. Hartmanns Schritte verlangsamten sich plötzlich. Was hatte dieser Lammroth bloß auf dem Kerbholz, dass man ihn unter keinen Umständen aufsuchen, geschweige denn in der Versenkung aufspüren sollte? Gedanken, die Hartmanns Gehirn einfach nicht streichen konnte, die ihn anfielen wie chronischer Kopfschmerz. Nein, nahm er sich selbst ins Gebet, nein, mein Entschluss steht fest: weg mit diesen Gedanken, hinfort für immer, noch bin ich der Herr meiner sieben Sinne! Im Konzern warteten schließlich wichtigere Aufgaben, wie zum Beispiel die Neuausrichtung der Sparte Finanzdienstleitungen, deren Portfolio neben Banken, Versicherungsunternehmen und Energieversorgern im nächsten Schritt auch Tourismuskonzernen schmackhaft gemacht werden sollte. Da ging es nicht um irgendein Manuskript, da hieß es, die Zukunft sichern, für tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da hieß es, Ausschau halten nach wirtschaftlich leistungsfähigen Kooperationspartnern, nach starken Verbündeten, nach lukrativen Geschäftsübernahmen. Sollte der Konzern auch die nächste und mindestens die übernächste Generation verbindlich überdauern, musste zuvorderst sein Vorstandsvorsitzender tagtäglich seine uneingeschränkte, dem Unternehmen verpflichtete Tauglichkeit beweisen. Da war kein Platz mehr für Spinnereien mit selbsternannten Verschwörungstheoretikern wie diesem Lammroth. Zumal der Spinner bisher keinerlei Beweise seines historisch einmaligen Manuskriptes vorgelegt und bislang nur mit heißer Luft gewedelt hatte. Als Hartmann bewusst wurde, dass er gedanklich wieder bei Lammroth angelangt war, überlegte er kurz, einen befreundeten Psychotherapeuten aufzusuchen, um diesen sich offensichtlich zum Dauerproblem auswuchernden Kopfkonflikt mit professioneller Hilfe zu lösen, verwarf das Vorhaben aber sofort wieder, um nicht noch jemanden, schon gar nicht eine nahestehende Person, in die wahrscheinlich mehr als heikle Affäre hineinzuziehen. Das schaffe ich allein, versuchte Hartmann sich Mut zu machen, und begab sich mit schweren Beinen endlich zu Bett.
„Gott, siehst du aus, hast du überhaupt geschlafen?“, fragte Hartmanns Frau nach dem Weckerläuten. Hatte er oder hatte er nicht? Vermutlich ja, überlegte er, vielleicht auch nicht. Der Badezimmerspiegel präsentierte dem Manager ein fahles, in kürzester Zeit um Jahre gealtertes Gesicht. Im Dienst angekommen, ließ er bei dem jungen Fischer anfragen, ob nach dem Mittagsessen ein gemeinsamer Verdauungsspaziergang infrage käme. Ja, meldete dieser zurück, sehr gern sogar. Als die beiden am vereinbarten Treffpunkt erschienen, lächelte ihn der junge Trainee an. „Meine Trainee-Kollegen und andere aus Ihrem Mitarbeiterstab fragen sich schon, ob Sie mich adoptieren wollen oder ob wir eine Affaire hätten.“ Hartmann wusste, dass ein sensibles Organ wie die Zentrale eines Großkonzerns jede Bewegung ihres Führungsstabes, erst recht jede des obersten Stabschefs registrierte und zu deuten versuchte. Das brauchte ihm ein junger Dachs wie dieser Anselm Fischer nicht erst frech unter die Nase zu reiben. Hartmann nahm diesbezüglich die Gerüchteküche gern in Kauf, schließlich wollte er dem jungen Mitarbeiter unauffällig über den ihn leider nach wie vor beschäftigenden Vorgang auf den Zahn fühlen. „Junger Mann“, antwortete er, „richten Sie Ihren Kollegen und allen anderen aus, dass Fußballanhänger im Allgemeinen stellen- und altersübergreifend fachsimpeln!“ Dann verwickelte er Fischer in fußballspezifische und Fragen zu den Begegnungen des kommenden Bundesligaspieltages. Wie durch Zufall führte das Gespräch des Managers mit dem jungen Spund in das aktuelle Berliner Fußballgeschehen und zu Ömer Titec. „Ach“, fiel Hartmann laut ein, „ich wollte mich bei Ihnen ja noch für die Kontaktvermittlung zu Ömer Titec bedanken.“
„Keine Ursache“, antwortete Anselm Fischer, „schließlich freut sich Ömer über jeden Auftrag. Hat denn alles geklappt?“
„Ja, ja. Hat Ihr Kumpel denn nichts erzählt?“
„Nee, Schnaps is Schnaps und Bier is Bier.“
„Naja, aber Freunde untereinander? Sie berichten bestimmt doch auch über das, was Sie hier in der Firmenzentrale erleben.“
Fischer blieb stehen. „…und haben im Vertrag keine Schweigepflichtserklärung unterschrieben! Kommen Sie, Sie wollen mich locken, Herr Hartmann!“
Hartmann hielt ebenfalls an.
Fischer lächelte: „Außerdem haben Sie mich um Vertraulichkeit gebeten. Ist das hier so etwas wie eine Prüfung?“
„Na gut“, sagte Hartmann, „Sie haben mich durchschaut. Aber wie geht’s Ömer, hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu ihm oder überhaupt nach Berlin?“
„Nö“, schlenderte der Trainee weiter, „nächstes Wochenende bin ich erst wieder Berlin, soviel verdient ein Trainee nicht, dass er sich jede Woche eine Heimfahrt leisten kann.“
Hartmann schlenderte mit. „Glauben Sie jetzt aber nur nicht, dass ich Ihnen aufgrund Ihrer Wehklagen die Vergütung erhöhen lasse.“
Fischer lachte: „Mit Verlaub, dann wären Sie auch ein Scheißchef! Mindestens ein miserabler Vorstandsvorsitzender.“
Hartmann hatte genug gehört, der Junge wusste nichts von der mit dem Fall in Rede stehenden Problematik. Während Hartmann die Sprache unauffällig wieder zurück auf den Fußball führte, konnte er den Trainee von der Liste möglicher Mitwisser streichen.
Der Konzernchef war entsetzt. Sein Zimmer verfügte zwar über einen Teppich, allerdings über einen ohne Randmuster. Hartmann hatte wie üblich Unterkunft in seinem Stammhotel erhalten, jedoch eine andere als die gewohnte. Einfach zu spät reserviert. Wunschgemäß und nur seinetwegen hatte die Hoteldirektion extra einen Teppich organisiert und auslegen lassen, aber einen musterlosen grauen. Freilich passte das gute Stück zum Interieur, adelte die ohnehin hochwertige Unterkunft um Einiges, jedoch fehlte die für Hartmann so wichtige Orientierungshilfe. Sobald er allein im Zimmer war, zog er seine Schuhe aus und startete erste Gehversuche nah am Rand des Knüpfwerkes, das wahrscheinlich gar keines war, sondern eine maschinell hergestellte Webware. Es klappte, Hartmann konnte geradeaus laufen und um die Ecke, ohne Gleichgewichtsstörungen, ohne allzu schiefe Bahnen, die das Denken störten. Während er so dahinlief, fiel ihm ein, dass sich der Detektiv bislang nicht hatte blicken lassen. Bevor Hartmann nach Berlin gefahren war, hatte er alle möglichen Varianten der Kontaktaufnahme durchgespielt. Dieser Herr Titec hätte ihn als Fahrer verkleidet beim Transfer vom Flughafen zum Hotel ansprechen können oder als Page, Hotelportier oder Servicemitarbeiter. Ein zufälliger Rempler auf der Straße hätte sich zur Kontaktaufnahme ebenso angeboten wie eine harmlose Frage nach dem Weg. Vielleicht tarnte Titec sich als Journalist, der auf ein Interview aus war, als Zimmernachbar im Hotel oder als Gast an der Bar. Hartmann beschloss, bevor der erste Filmbesuch am Nachmittag anstand, die Hotellobby aufzusuchen, dort ein wenig Zeitung zu lesen, gegebenenfalls einen Kaffee oder besser einen Tee an der Hotelbar einzunehmen. Außer dem freundlichen Kopfnicken einiger Menschen, die ihn als VIP erkannten, und zwei Händeschüttler, die er irgendwoher kannte, nichts. Kein Titec. Ein gut ausgebildeter Detektiv, war Hartmann klar, würde wissen, wie und wann er seinen Klienten unauffällig anzusprechen hatte. Zugegebenermaßen bereitete es dem Konzernchef sogar ein kleinwenig Freude, Teil dieses Detektivspiels zu sein. Vorsichtshalber hatte er sich schon mal 2.000 Euro in Hunderterscheinen eingesteckt, Geld, um den Freund seines Trainees, für die geleistete Arbeit, wie gewünscht, in bar zu entlohnen. Erst wenn dies geschehen, wusste Hartmann, würden die Berliner Filmfestspiele wieder in den Vordergrund rücken können. Hoffentlich fand also das Treffen so bald wie möglich statt. Der erste Kinobesuch stand an, die Premiere eines Streifens, der in 3-D aufwendig produziert die dramatische Geschichte eines gutsituierten Familienvaters mit einer harmlosen dissoziativen Störung erzählte, die sich fälschlicherweise in den Augen der behandelnden Ärzte zu einer Schizophrenie mit optischen und akustischen Halluzinationen entwickelte. Im Laufe des Films, der mit herausragenden Leistungen der Darsteller, phantastischen Traumbildern sowie hervorragender Musik aufwartete, verlor der Hauptprotagonist zuerst seine Arbeit, dann sein Haus, schließlich als Patient einer geschlossenen Nervenklinik Frau und Kinder, letztlich sein Leben. Der Film trug den Titel „IRR-TUM“, Hartmann hatte sich schon seit Wochen auf den Besuch dieses Streifens gefreut.
Wachen Auges, aber um offensichtliche Gelassenheit bemüht, betrat Hartmann das Lichtspielhaus. Er fragte sich, ob ihm der Kartenabreißer vielleicht eine geheime Botschaft zustecken würde, eventuell in Form eines aufgeschwatzten Programmheftes oder einer Eintrittskarte, die aus irgendwelchen Gründen gegen seine getauscht werden musste. Was war mit der Frau, die allen Kinobesuchern die 3-D-Brillen ausreichte? Nein, die freundliche Dame übergab Hartmann zwar lächelnd die Brille, wünschte aber außer guter Unterhaltung keine weitere Ansprache, sondern wandte sich den nächsten Besuchern zu. Vielleicht nahm Titec auch als harmloser Besucher der Veranstaltung verkleidet neben oder hinter ihm Platz. Nein, schloss Hartmann diese Möglichkeit aus, neben ihm würde das nicht klappen, die unmittelbaren Nachbarplätze waren an ebenso wie er in der Öffentlichkeit stehende Personen vergeben - Presse- und Filmleute sowie Politiker. Böte sich noch eine Chance in der Reihe direkt hinter ihm. Oder auf der Toilette. Hartmann begab sich, bevor er seinen Platz einnahm, vorsichtshalber zum stillen Örtchen. Außer einem „Ach, Sie auch hier, wie geht’s?“ auf der einen Seite der Urinale und einem zuversichtlichen Nicken auf der anderen konnte er keinerlei Kontaktanbahnung erkennen. Beim folgenden Händewaschen ließ er sich unverhältnismäßig viel Zeit, riskierte dabei sogar einen Blick in Richtung Kabinen. Würde sich eine Tür öffnen, könnte er den Detektiv vermutlich auf Anhieb identifizieren. Obgleich man nur einmal miteinander telefoniert hatte, wusste Hartmann, wie der Privatermittler aussah. Auf dem vom Verein ins Internet gestellten Mannschaftsfoto sowie in einem Portal, das neben dem sportlichen Werdegang auch Gewicht und Größe höherklassig spielender Fußballer veröffentlichte, war der Privatdetektiv abgelichtet. Titecs Körpergröße war mit 1,84 Meter angegeben, sein Gewicht mit 80 Kilo, stattliche Maße, nicht nur für einen Fußballspieler. Hartmann musste den Toilettentrakt allmählich verlassen, wollte er nicht auffallen. Außerdem begann der Film in Kürze. Auf dem Weg zu seinem Platz überschlug er rasch die nächsten Chancen einer Kontaktaufnahme. Während der sich an die Vorführung anschließenden Pressekonferenz würden Massen von Fans, Reportern, Schauspielern und anderen Filmleuten eine ziemlich perfekte Kulisse für mehr oder minder zufällig zustande gekommene Plaudereien bilden. Titec könnte sich dort völlig unauffällig anschleichen, in kürzen Zügen das sagen, was es zu sagen gab, und die ihm zugedachte Kohle einstecken. Bei dem Gedanken an ein mögliches Treffen lief es Hartmann heiß und kalt den Rücken herunter. Angst mischte sich erneut mit einem eigenartigen Gefühl von schauriger Abenteuerlust. Als sich nach den einführenden Worten der Filmschaffenden endlich der Vorhang öffnete, setzte Hartmann die Kinobrille vor seine eigene und war innerhalb weniger Minuten Gefangener einer großartigen Aufführung.
Mitten im Filmgeschehen, es mochten 45 Minuten vergangen sein, nahm Hartmann eine den Ton im Saal überlagernde Stimme wahr. „Wie gefällt Ihnen der Film?“
Hartmann schreckte auf. „Drehen Sie sich nicht um“, wurde er aufgefordert, „bleiben Sie ganz ruhig, ich bin in Ihrem Ohr!“
Ein kurzer Blick nach rechts und links verriet, dass Hartmanns Nachbarn von der Stimme in seinem Ohr nichts mitbekamen. „Die 3-D-Brille, die Sie tragen, ist technisch manipuliert. An den Bügeln befinden sich kleine Lautsprecher, das Prinzip kennen Sie von Hörgeräten, sie sorgen dafür, dass Sie mich hören.“
Die Stimme gehörte definitiv Ömer Titec, Hartmann kannte sie vom Telefonat. „Wenn die Verbindung korrekt ist und meine Signale bei Ihnen einwandfrei ankommen, husten Sie kurz einmal!“
Hartmann führte seine geballte Faust zum Mund und räusperte sich kurz und laut. „Ich danke Ihnen“, hörte er weiter, „Kommen wir zu Ihrem Auftrag. Ihr Autor, dieser Gernot Lammroth, ist ein wirkliches Früchtchen. Tatsächlich hat er bei der Stasi gearbeitet. Klein angefangen, schnell aufgestiegen und Karriere gemacht. Er war ein absoluter Abhörspezialist und im Ministerium für Staatssicherheit die Koryphäe für computergestützte Textanalysen. Wo er sich jetzt aufhält, war nicht herauszubekommen.“
Hartmann hob fragend die Arme.
„Unterlassen Sie solche Gesten“, vernahm er einen Befehl, „und hören Sie weiter zu! Allem Anschein nach interessieren sich außer Ihnen noch andere Menschen für Lammroth, böse Menschen, böse und gefährlich. Böse deshalb, weil diese Menschen nicht Gutes im Schilde führen. Und gefährlich, weil sie allem Anschein nach vom Staat gedeckt werden. Jetzt schauen Sie nicht so bedröppelt, so deprimierend ist der Film nun auch nicht! Ob Ihr Autor noch lebt und wenn wo, habe ich bisher leider nicht herausbekommen können. Nur, dass jeder, der sich momentan für ihn interessiert, Gefahr läuft, sein Interesse mit dem Leben zu bezahlen. Die Burschen, diese bösen Menschen, von denen ich spreche, schrecken vor nichts zurück, auch nicht vor Mord.“
Hartmann war es nicht möglich, seinen Blick auch nur einen Zentimeter von der Leinwand weg zu bewegen. Wie gebannt starrte er nach vorn. Nach einer kleinen Pause vernahm er die Stimme erneut in den Ohren: „Wenn die Geschichte damit für Sie beendet ist, übergeben Sie meinem Homie Anselm 1.880 Euro, er wird mir den Auslagenersatz aushändigen. Eine Rechnung möchte ich aus Gründen des Eigenschutzes nicht stellen, sorry! Falls Sie wünschen, dass ich mich weiter um die Angelegenheit kümmere, händigen Sie die Brille bitte beschädigt an die junge Kinoangestellte aus, von der Sie das gute Stück erhalten haben, ein Bügel kann immer mal abbrechen. Die junge Frau sammelt die 3-D-Brillen der Kinobesucher am Ausgang wieder ein. Sollten Sie das letztere tun, bedenken Sie jedoch, dass die Angelegenheit auch für Sie ungemütlich, vielleicht sogar tödlich ausgehen kann! Sie haben jetzt ungefähr noch eine Stunde Zeit zum Überlegen, das müsste reichen. Der Hauptdarsteller des Films spielt übrigens klasse, finden Sie nicht auch?“
Die Stimme im Ohr war verschwunden. Hartmann versuchte sich zu konzentrieren. Prozesse der Risikoabwägung waren ihm vertraut, Kalkulationen von Gewinn- und Verlustrechnungen auch. Sollte er Anselm Fischer das Geld in die Hand drücken mit einem schönen Gruß an dessen Kumpel? Dann wäre die Angelegenheit vermutlich vom Tisch. Für immer und ewig. Eine Option, die er bereits zur genüge durchkalkuliert hatte. Oder sollte er seinem journalistischen Instinkt folgen, der mehr denn je eine Sensation witterte. Hartmann wägte weiter ab. Was gab es auf der Grundlage der vorliegenden Fakten zu gewinnen, was zu verlieren? Verlieren konnte er mit der einmaligen Abfindung des Detektivs seine eigene Glaubwürdigkeit als Förderer und Verfechter des investigativen Journalismus, seine Vorbildfunktion als Wächter der Meinungs- und Pressefreiheit. Verlieren konnte er allem Anschein nach aber auch sein Leben. Hartmann stand vor einem Dilemma, das mit den gewohnten Rechenoperationen nicht aufzulösen war. Gewinnen konnte er – eigentlich gar nichts. Außer der konsequenten Einhaltung berufsethischer Grundsätze, die eine kritische Haltung allen staatlichen Aktivitäten gegenüber einschloss. Und der Verpflichtung, Unrecht nicht zu dulden, es ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, sofern überhaupt Unrecht an Gernot Lammroth verübt worden war. Das mögliche Sensationsskript ließ sich auch nicht auf der Habenseite verbuchen, schließlich wusste man ja nicht, ob es überhaupt existierte. In Hartmanns Kopf ging es hin und her.
Die Zeit verging zu schnell, der Film näherte sich dem Ende. Einstein, so schien es Hartmann, hatte recht mit seiner Theorie von der Relativität der Zeit. Hartmann verspürte immensen Zeitdruck. Was, wenn dieser Ermittler, dieser Titec sich nur wichtigmachen und einfach noch mehr Kohle abgreifen wollte? Wenn der Kerl eine gewinnbringende Legende um die Person Lammroth gesponnen, alles nur erfunden hätte? Hartmann wusste aus seiner jahrelangen Erfahrung, dass vor allem Entscheidungsfreude gute Manager von schlechten unterschied, dass selbst eine verkehrte Entscheidung einer verpassten vorzuziehen war, wollte man Erfolg haben. Also riss er den linken Bügel der Kinobrille vom Gestell, noch ehe der Abspann abgelaufen war. Aber war seine Entscheidung richtig? Hatte er richtig abgewägt?
Während er sich zum Ausgang begab, überlegte er einen Augenblick, die Brille doch noch in die Tasche zu stecken, sie einfach nicht abzugeben. Keine Brille, kein eindeutiges Zeichen. Zeitaufschub, um nachts im Hotel ein paar Runden auf dem grauen Teil zu drehen. So ein Quatsch, entschied er letztlich, als die junge Frau in Sichtweite kam. Mit einem freundlichen Lächeln reichte er Gestell und Bügel zurück, da für ihn feststand, wo er sich am nächsten Tag außer der Reihe aufhalten würde.
Hartmann befand sich noch im hoteleigenen Bademantel, als es an der Tür klopfte. Der junge Hotelangestellte reichte ihm ein Morgenblatt zu.
„Danke, aber ich habe meine Zeitungen bereits erhalten“, wehrte Hartmann das Angebot ab und wollte die Tür wieder schließen. Jeden Tag, auch in Berlin, erhielt er automatisch zum Frühstück ein Exemplar der vier auflagenstärksten Tageszeitungen seines Verlagshauses. So hatte er auch diesmal gleich nach dem Aufstehen die Lektüre an der Tür seiner Suite vorgefunden und zum Tisch gebracht. „Extraservice des Hauses!“, lächelte der Jüngling und drückte Hartmann die Zeitung in die Hand. Dann drehte sich der Überbringer um und lief gemessenen Schrittes in Richtung Fahrstuhl, ohne ein Trinkgeld abzuwarten. Hartmann blickte auf die Titelseite, ein Konkurrenzprodukt. Die Erzeugnisse seiner Mitbewerber pflegte Hartmann gewöhnlich nur sonntags zu studieren. Da hatte er Zeit und Muße zu vergleichen. Heute war aber nicht Sonntag. Wenn er in Gottes Namen die Zeitung schon hatte, dachte sich der Beschenkte, konnte er auch rasch einen Blick hineinwerfen, schließlich war er ein neugieriger Mensch. Hartmann blätterte kurz durch und stutzte, die Zeitung war vom vergangenen Tag. Beinahe schon auf dem Weg in den Papierkorb, fiel ihm auf der vorletzten Seite ein Artikel mit der Überschrift Das neue Schafgrauh auf. War es zunächst der Schreibfehler, der seine professionelle Aufmerksamkeit erregte, signalisierten seine Synapsen ihm eine Millisekunde später, dass es sich bei dem Artikel um eine Botschaft handelte, geschickt eingefügt an der Stelle, wo vorher ein anderer Text stand, in Schriftart und Schriftgröße sowie im Umfang völlig identisch. Inhaltlich ging es um die nach der Wende durchgeführte Umschulung eines ehemaligen Mitarbeiters des Ministeriums für Staatssicherheit zum Schafhirten, eine Saulus-Paulus-Geschichte. Der Mann war schon zu Zeiten seines Informatikstudiums an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena von der Stasi angeworben worden und machte anschließend beim MfS Karriere. In den Abteilungen S und 32 des operativen technischen Sektors übertrug er zunächst im Kollektiv mit anderen Kollegen Sprachaufnahmen aus Interviews, Verhören und heimlich abgehörten Telefongesprächen auf Karteikarten, um diese anschließend auf der Basis damals noch einfachster elektronischer Datenverarbeitung inhaltlich auszuwerten. Mit den zunehmenden Einflussmöglichkeiten der Informations- und Telekommunikationstechnik auf die Analyse von Dokumenten und verbaler Kommunikation brachte es der Mann aufgrund seiner ausgeprägten Führungsstärke sowie weit überdurchschnittlicher Fähigkeiten auf den Gebieten Fachinformatik, IT-Systemelektronik und IT-Systemtechnik bis zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Wissenschaft und Technik der Hauptverwaltung A des Ministerium für Staatssicherheit. Insbesondere zeichnete sich der Spezialist für Computerlinguistik durch das Klonen neuester, streng geheimer und selbstverständlich illegal beschaffter Software des Westens aus. Frustriert durch den Fall der Mauer und arbeitslos wegen des Wegfalls seines Arbeitsplatzes, hatte sich der im Artikel beschriebene Mann - kein Zweifel, es handelte sich um Lammroth – nach dem Zusammenbruch der DDR zum Schafhirt ausbilden lassen, um fortan an ein anonymes Leben im schönen Land Utopia zu leben, was nichts anders heißen konnte, als das der Beschriebene unauffindbar war. Der Text endete mit den Worten: Danke für Ihren Auftrag! Reißen Sie den Artikeln aus der Zeitung und zerkleinern Sie ihn zu möglichst kleinen Schnipseln, die Sie in vier etwa gleiche Häufchen in Ihren Hosen- und Jackentaschen verstauen! Wenn Sie das Hotel verlassen, kaufen Sie eine Packung Kaugummis! Sofern Sie auf der Straße einen öffentlichen Papierkorb sehen, wickeln Sie einen Kaugummi aus, stecken ihn in den Mund und werfen das Kaugummipapier zusammen mit einem der Häufchen in den Papierkorb! Verfahren Sie weiter, bis das letzte Häuflein entsorgt ist! Ich melde mich bei Ihnen.
Habe ich ja Glück, dass ich kein Gebissträger bin, fiel Hartmann bei der Anweisung ein, Kaugummis zu kauen, na gut, im anderen Fall würde man vermutlich Bonbonpapier nutzen, natürlich von Lutschbonbons und nicht von Kaubonbons. Kaum diese überflüssige Überlegung angestellt, fokussierte sich Hartmanns Gehirn wieder auf den Artikel. Die aufgeführten Fakten deckten sich mit den Informationen, die er seinerzeit in der Redaktionssitzung seines Fernsehmagazins erhalten hatte. An Lammroths Geschichte könnte also wirklich etwas dran sein. Oder wollte ihn dieser junge Privatermittler abziehen? Wieder die bohrenden Fragen des Misstrauens gegenüber anderen Menschen. Wieder suchten die nervenden Fragen den notorischen Zweifler heim: Titec könnte geschickt eine Legende zu Lammroth erfunden und dazu diesen Artikel verfasst haben, unterfüttert mit hinlänglich bekanntem Faktenwissen aus dem MfS, um das eigene Start-up mit einem umfangreichen Auftrag, einem geheimnisumwitterten Großauftrag, über zu Wasser zu halten. Hartmann wusste, dass er sich persönlich zu Lammroths Wohnung aufmachen musste, um zu schauen, was wirklich los war. Bevor er losging, riss er rasch noch den Artikel aus der Zeitung und zerfetze ihn, um jede seiner Hosen- und Manteltaschen mit einer kleinen Fuhre Schnipsel zu befüllen. Dann warf er sämtliche Zeitungen gebündelt in den Papierkorb und suchte umgehend auf der Straße einen Laden auf, der Kaugummis führte.
Entsetzt war Hartmann nicht, als er vor dem Haus stand. Verwahrloste Gebäude, die zwei Jahrhundertwenden und zwei Weltkriege überstanden hatten, gehörten zum Stadtbild eines alt-berliner Bezirks wie Lichtenberg. Die graue, morsche Fassade hatte schon bessere Tage gesehen. An vielen Stellen wies sie kleinere und größere Löcher auf, weil die Farbe vermutlich bereits vor vielen Jahrzehnten abzuplatzen begonnen hatte. Würde jemand mit den Fingernägeln oder gar mit einem Spachtel an den weiß-kahlen Stellen ansetzen, könnte weiterer Putz, vielleicht sogar großflächig von der Wand bröckeln, vermischt mit rieselndem, durch Erosion entstandenem Sand. Der Hausnummer waren zwei Aufgänge zugewiesen. Ein kleinerer mit Namensschildern für das Vorderhaus, daneben der breitere mit den Namen der Bewohner des linken und rechten Seitenflügels. Hartmann entdeckte Lammroths Namen ganz unten auf dem Klingelschild des linken Seitenflügels. Der Gesuchte wohnte also im Erdgeschoss. Hartmann klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nichts rührte sich. Nun ja, dachte sich Hartmann, wenigstens stimmt die auf dem Manuskript angegebene Adresse. Oder sollte sich Lammroth jemanden gleichen Namens gesucht und dessen Anschrift zur Tarnung verwendet haben? Aber warum? Und gab es überhaupt so viele Berliner mit dem Namen Lammroth? Hätte ich recherchieren können, war der Medienmacher ein wenig unzufrieden mit sich selbst. Da sich auch auf weiteres Klingeln niemand meldete, die Haustür also weiterhin für Unbefugte verschlossen blieb, beschloss Hartmann bei Lammroths Nachbarn zu klingeln. Er hatte Auswahl, zehn Parteien bewohnten allein den linken Seitenflügel. Wie beim Lotto wählte er nach dem Zufallsprinzip aus. Das dritte Läuten erhielt eine Reaktion: „Ja, bitte?!“
„Ich bin ein alter Schulkamerad Ihres Mitmieters Lammroth“, log Hartmann, „und auf der Durchreise. Anscheinend ist Herr Lammroth nicht daheim. Würden Sie mich bitte kurz hereinlassen, damit ich ihm eine Nachricht in den Briefkasten werfen kann?“
Der Summer signalisierte ohne Kommentar das Zutrittsrecht zum Seitenflügel. Ein dunkler, ungemütlicher Durchgang wies Hartmann den Blick in einen großen Hof, der sich im hinteren Teil zu einer parkähnlichen Oase erstreckte, nicht groß, aber liebevoll hergerichtet unter ein paar Bäumen mit Sträuchern, zwei, drei Beeten, einem kleinen Spielplatz und einer rustikalen, aus ausrangierten Stühlen zusammengewürfelten Sitzecke und einem uralten Grill. Die das kleine Refugium säumenden Seitenflügel wiesen das gleiche hässliche Grau auf wie das Mauerwerk der Straßenfront. Im dunklen, muffig riechenden Erdgeschoss des linken Flügels fand Hartmann ohne Probleme Namensschild und Klingel des Gesuchten. Der Medienmacher schellte, erst kurz, dann lang. Nichts. Er legte vorsichtig das Ohr an die Wohnungstür. Nichts. Kein Geräusch. Vielleicht könnte Klopfen helfen, dachte er sich, und donnerte gegen die Tür. Nein, auch da tat sich nichts. Langes Warten war für Hartmann keine Option, schließlich hatte er bereits eine Filmvorführung geschwänzt und in einer guten Stunde stand ein lang verabredetes Interview auf der Agenda, das er keinesfalls versäumen durfte. Blieb noch ein kurzer Blick in Lammroths Hausbriefkasten, der sich vorn im Durchgang befand. Der Kasten war leer. Tatsächlich, fiel dem Suchenden die gerade verwendete Notlüge ein, hätte man in Lammroths Briefkasten wenigstens eine Nachricht hinterlassen können, damit dieser sich des weiteren Interesses an seiner Person und seiner Arbeit sicher sein könnte. Auf der anderen Seite hatte Titec ihn mehrmals eindringlich vor Kontakten zu Lammroth gewarnt und der sensationsgeile Medienmacher war mit dem Besuch schon ziemlich weit gegangen. Da könnte eine persönliche Nachricht, die in die verkehrten Hände fiele, schlafende Hunde wecken, die mehr als nur bissen. Zeit zum Warten blieb nicht, die Befragung Lammroths Nachbarn schien zu gefährlich, also beschloss Hartmann, zurück zum Hotel zu fahren. Glücklicherweise entstieg gerade in dem Moment, als Hartmann das Haus verließ, eine junge Frau einem Taxi, und verschwand im gegenüberliegenden Hauseingang.
„Sie möchten gewiss zu Ihrem Hotel“, hörte Hartmann den Taxifahrer fragen. Hartmann stieg ein, blickte nach vorn - und erkannte Ömer Titec auf dem Fahrersitz. Der Medienmogul hatte unmittelbar nach der Beauftragung auch das Portrait des Privatermittlers auf jenem Transfermarktportal für Fußballspieler gefunden und sich das Gesicht gut eingeprägt.
„Oh“, fuhr Titec fort, „die Frau gehört zu mir. Sie wird sich exakt 10 Minuten im Hausflur aufhalten und dann mit den Öffentlichen Nahverkehrsmitteln unauffällig absetzen.“
Hartmann war verdutzt. Ihm fiel nicht anderes sein als zu fragen: „Sind Sie nebenbei Taxifahrer?“
„Nein“, antwortete Titec, „die Taxe habe ich mir geliehen. Ich kenne da jemanden. Nachdem ich Sie an Ihrem Hotel abgesetzt habe, übergebe ich das Gefährt wieder an der Taxihalte am Fehrbelliner Platz.“ Titec fuhr los.
„Warum verfolgen Sie mich?“, wollte Hartmann wissen.
„Weil Sie selbst verfolgt werden. Und das schon während Ihres gesamten Aufenthaltes in Berlin. Zwei Männer. Ob Polizei, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst oder eine andere Behörde konnte ich noch nicht ermitteln. Übrigens schönen Dank für Ihren Auftrag!“
Ömer Titec reichte seine Hand nach hinten. Hartmann drückte sie kurz.
„Übrigens“, fuhr Titec fort, „habe ich Ihnen ausdrücklich geraten, nichts zu unternehmen, sich aus allem rauszuhalten, wenn Sie nicht Gefahr laufen wollen, Ihre Neugier mit dem eigenen Leben zu bezahlen.“
Hartmann wurde mehr und mehr klar, in welche Gefahr er sich anscheinend begeben hatte.
„Nun schauen Sie nicht so bedröppelt“, sagte Titec, „wenigstens haben Sie die Zeitungsschnipsel vorbildlich entsorgt.“
„Wie kommen Sie auf die Idee“, wollte Hartmann endlich eine verbindliche Auskunft, „dass alles, was mit diesem Lammroth zu tun hat, lebensgefährlich sein könnte? Und wo steckt dieser Kerl?“
„Dass sich hinter dem Namen Lammroth und seiner Stasi-Vergangenheit eine ziemlich brisante Geschichte verbirgt,
haben meine Recherchen eindeutig gezeigt. Ich habe mich mal umgehört, ich kenne da ein paar Leute.“
„Wo haben Sie sich umgehört?“
„In Behördenkreisen. Das muss reichen, die Journalisten Ihres Unternehmens geben ihre Quellen ja auch nicht bekannt. Möglicherweise gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der früheren geheimdienstlichen Tätigkeit Ihres Autors und seinem angeblichen Manuskript. Jedenfalls hat man mir, wo auch immer ich meine Fühler ausgestreckt habe, deutlich von weiteren Nachfragen, geschweige denn Nachforschungen abgeraten, oft mit dem Hinweis auf ein „schwarzes Wespennest“, was so viel bedeutet wie: wer darin herumstochert, wird als „potenzieller Maximal-Gefährder des Staates mit Prioritätsstufe 1 eingestuft und ist zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung sowie zum Schutze der Bundesrepublik Deutschland unter allen Umständen von jeglichen, den Staat bedrohenden Aktivitäten abzubringen, gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen zu neutralisieren.“
„Sie binden mir einen Bären auf“, entrüstete sich Hartmann, „schließlich leben wir in einem Staat mit einer rechtsverbindlichen Grundordnung!“
Titec suchte über seinen Innenspiegel Blickkontakt zu Hartmann und schaute ihn milde an.
„Träumen Sie weiter! Kommen wir zum zweiten Punkt. Wo der von Ihnen Gesuchte abgeblieben ist, konnte ich bislang aus nachvollziehbaren Gründen nicht klären. Fest steht nur, dass er sich weder in irgendeinem Krankenhaus, Gefängnis oder Hotel in Deutschland aufhält noch bei Freunden, Familienangehörigen oder Bekannten. Die Reise in einen anderen Staat ist ebenfalls unwahrscheinlich, das habe ich abgeprüft.“
„Wie haben Sie das geprüft?“, fragte Hartmann.
Titec suchte über den Innenspiegel der Taxe kurz Sichtkontakt zu Hartmann: „Ich kenne da ein paar Leute.“
Der Mann auf dem Rücksitz hatte verstanden. „Soll ich hinsichtlich dieses Lammroths vielleicht einmal meine Kontakte spielen lassen? Ich kenne da ein paar einflussreiche Leute bei der Polizei und in der Politik.“
„Nein“, riet Titec, „das können Sie vergessen. Sie werden dort nichts erfahren. Auch keine Hilfe oder Schutz erhalten. Dazu ist die Angelegenheit zu brisant, zu explosiv.“ Nach einer kurzen Pause fuhr Titec fort: „Herr Hartmann, Sie sind zwar mein Auftraggeber, aber Sie sollten sich langsam angewöhnen, auf mich zu hören. Unterlassen Sie alles, was Sie gefährden kann! Ich meine es ernst!“
Dem Medienmogul gefiel nicht, was er hörte, schon gar nicht, dass ihn jemand maßregelte.
„Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte er genervt.
„Sie sollten sich, sofern Sie wirklich den Auftrag an mich weiter aufrechterhalten, möglichst unauffällig verhalten. Machen Sie in Berlin und wenn Sie zurück in Gütersloh sind, alles wie üblich! Unternehmen Sie in dieser Angelegenheit nichts mehr auf eigene Faust! Bedenken Sie, dass Sie beschattet werden.“
„In Ordnung“, folgte ein sichtlich genervter Top-Manager
dem Vorschlag, „darauf muss ich mich wohl einlassen. Aber was unternehmen Sie inzwischen?“
„In zwei Richtungen ermitteln. Erstens begehren Sie ja Erkenntnisse über den Aufenthalt und wahrscheinlich auch den Gesundheitszustand des Gesuchten, zweitens gilt es herauszufinden, welche so staatstragenden Geheimnisse sich um diesen Gernot Lammroth ranken und ob er tatsächlich im Besitz eines wie von Ihnen beschriebenen Manuskripts ist. Sollte letzteres der Fall sein und der Gesuchte lebend aufgefunden werden, bliebe noch die Klärung, ob er Ihnen besagtes Manuskript überhaupt überlassen würde.“
„Wenn Sie schon von klären sprechen“, schloss Hartmann an das Gesagte an, „gestatten Sie mir zwei Fragen. Erstens: was bin ich Ihnen für Ihre Dienste schuldig? Und zweitens: Wenn die Sache so gefährlich ist, warum lassen Sie sich darauf ein?“
„Kommen wir zur ersten Frage“, gab Titec Auskunft, „Neben den bisher angefallenen 1.880 Euro würde ich mich über eine Pauschale von zunächst 5.000 Euro freuen. Geben Sie die eins acht Anselm mit, wie das Andere verrechnet wird, kläre ich noch.“
„Ich habe gerade 2.000 in Hunderten bei“, sagte Hartmann, „Falls Sie ‘rausgeben können.“
„Hört sich gut an“, lächelte Titec. „Nun zu Ihrer zweiten Frage: ich habe zurzeit keinen anderen Auftrag und bin wohl ein ebenso neugieriger Mensch wie Sie.“
Dann reichte er seinem Fahrgast eine Visitenkarte nach hinten. „Übrigens, gönnen Sie sich mal wieder einen guten, maßgeschneiderten Anzug. Ich kenne da einen super Schneider gleich um die Ecke bei Ihnen in Bielefeld. Türke. Verkauft die feinsten Zwirne. Eins A Qualität im Sitzkomfort.“ Hartmann verstand.
Am Hotel angekommen, überreichte der Medienzar seinem Taxichauffeur 1.900 Euro in Hundertern. Ömer Titec blickte zum Taxameter, schrieb eine Quittung über 26,70 Euro aus und händigte dem verdutzten Kunden die Rechnung mit den Worten aus: „Da fehlen noch 6,70. Die Taxifahrt muss fairerweise bezahlt werden, das bin ich meinem Kumpel schuldig.“
„Selbstverständlich“, murmelte Hartmann und zückte einen weiteren Hunderter. „Geben Sie bitte auf 10 Euro raus!“
Das Wechselgeld erhalten, entstieg er dem Auto mit den Worten: „Wann hören wir voneinander?“
„Besuchen Sie Ende kommender Woche den Maßschneider, falls Sie in der Gegend sind!“