Читать книгу Transkription - Christoph Papke - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеAuch diese Nacht verlief für Hartmann nicht geruhsam. Zu sehr beschäftigte ihn das Gespräch mit diesem, ja, was war das für ein Mensch? Ein Weltverbesserer, ein Idealist, ein politischer Aktivist oder einfach nur ein schnöder Gauner, der nach dem Scheitern seines Erstlingswerkes auf billige Art und Weise versuchte, mit einer erfundenen Geschichte doch noch zu Geld, Ruhm und Anerkennung zu gelangen. Gute 200 Runden Fußmarsch auf seinem Teppich hatte Hartmann gebraucht, um schließlich doch noch in den Schlaf zu finden.
Gleich am nächsten Morgen bat er Dr. Schneider in sein Büro, um sich dem treuen Weggefährten anzuvertrauen und unter dem Siegel der unbedingten Verschwiegenheit eine Einschätzung zur Sachstandslage zu erhalten. Natürlich war Hartmann allemal selbst in der Lage, Gespräche wie das mit Lammroth einzuordnen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, doch hatte ihn die Erfahrung gelehrt, bei ganz besonders wichtigen Fragestellungen vorsorglich eine Zweitmeinung einzuholen. Jedenfalls sobald die inneren Alarmglocken bimmelten. Und sie bimmelten gewaltig.
„Ich verstehe“, bezog Dr. Schneider vorerst Stellung zu dem Plagiatsmanuskript, „dieser Lammroth wollte Ihnen das MS als Kompilation verkaufen. Als so etwas wie eine exemplarische Sammlung ausgewählter Sätze, die das gesamte Spektrum der Weltliteratur abbilden. Naja, das geht ja rein lizenzrechtlich schon mal nicht. Wenngleich ich sagen muss, dass diese Kollokation, mit anderen Worten diese sinnmachende, zu einer schlüssigen Erzählung führende Aneinanderreihung einzelner Sätze aus nicht weniger als 5.000 verschiedenen Büchern, sofern ich Sie richtig verstanden habe, eine Heidenarbeit gewesen sein muss.“
Hartmann reagierte etwas ungehalten: „Lieber Freund, ich brauche keine Einschätzung zu dem eingereichten Text. Ich erwartete Ihre Meinung zu dem zweiten Manuskript, von dem dieser Mensch sprach.“
Dr. Schneider zuckte mit den Achseln: „Lassen Sie sich doch dieses zweite Manuskript vorlegen. Vielleicht beherbergt es wenigstens eine gute Geschichte. Und was den Wahrheitsgehalt dieser angeblichen Enthüllungen anbelangt, verfügen unsere IT-Spezialisten, gegebenenfalls auch unsere Rechtsabteilung mit Sicherheit über angemessene Möglichkeiten und Instrumente, zu prüfen, ob es sich vor allem bei den Mitschnitten der angeblichen Interviews und vertraulichen Unterhaltungen um Originale oder um Fälschungen handelt.“
Diese recht kühle Empfehlung zeigte dem Konzernchef, warum gerade er und nicht ein anderer aus einem Unternehmen mittlerer Größe einen Weltkonzern gemacht hatte. Warum verspürte der langjährige Weggefährte nicht auch das Kribbeln, das ihn, Hartmann, seit der Begegnung mit diesem kleinen Mann aus Berlin nicht mehr losließ? Warum funkelten Dr. Schneiders Augen nicht auch angesichts dieser potenziellen Sensation? Warum stattdessen diese mit langatmigen, durch Fachbegriffe untersetzen Erklärungen? Wo war die Begeisterung für eine Geschichte, die möglicherweise - ja nur möglicherweise, aber immerhin - einen riesigen Skandal politischen Machtmissbrauchs aufdeckte? So rasch in Hartmann die Enttäuschung über die eher zurückhaltende Reaktion seines Vorstandskollegen hochgestiegen war, so schnell verflog sie auch wieder. Schließlich gehörte Dr. Schneider seit eh und je zu den Menschen, die ihre Gefühle nicht auf der Zunge trugen, auf die man sich aber insbesondere bei streng vertraulichen Fragestellungen zu hundert Prozent verlassen konnte.
Nachdem sich Hartmann für die Einschätzung bedankt hatte, folgte er Dr. Schneiders Rat und setzte um, was er ohnehin vorhatte: er wies mit besonderem Verschwiegenheitsvermerk seine Chefsekretärin an, sich in seinem Namen nochmals bei Lammroth für das aufschlussreiche Gespräch zu bedanken und abermals um das unter allen Umständen nur an ihn persönlich zu adressierende Manuskript zu bitten. Elisabeth von Goeben wusste, dass jene Briefe des Chefs absolut vertraulich zu behandeln und ausschließlich von ihr zu bearbeiten waren. Und dass dieses Postgut ohne Umweg über die firmeninterne Poststelle zum Postamt zu gelangen hatte. Niemand anderes als sie persönlich würde jene Poststücke jemals beim Postamt einwerfen.
In den nächsten vierzehn Tagen passierte im Leben des Konzernchefs nichts Ungewöhnliches. Die tägliche Arbeit war geprägt von Sitzungen, strategischen Steuerungsaufgaben und einigen, eher unbedeutenden Personalentscheidungen. Dennoch war etwas anders als sonst. Hartmann fand keine rechte Lust mehr an seinen Lesestunden. Die vorgelegten Manuskriptproben waren wenig anregend, geschweige denn unterhaltsam, einfach dröge und nichtssagend. Hartmanns Gedanken kreisten nach wie vor um das in Aussicht stehende Manuskript. Nur traf es nicht ein. Warum nutzt dieser Lammroth nicht die einmalige Chance, sein Manuskript direkt beim Konzernchef eines weltweit bekannten Medienunternehmens einzureichen, fragte er sich. Die meisten Autoren, männliche wie weibliche, hätten sich gefreut, eine derartige Chance zu erhalten. Hatte der Kerl aus Berlin vielleicht zu viel versprochen? Geflunkert oder ihn gar zum Narren gehalten? War das Stück eventuell noch gar nicht geschrieben oder befand es sich erst im Anfangsstadium? Der Kerl hatte doch von einer 360 seitigen Dokumentation gesprochen, also musste das Gesamtmanuskript doch schon fertig sein. Vielleicht noch nicht korrigiert, gewiss noch nicht lektoriert, aber mit Sicherheit fertiggestellt. Hartmann beschloss, weiter zu warten, drei oder vier Wochen. Sollte er dann nichts mehr von Lammroth gehört haben, würde er den Fall vergessen oder vielleicht noch einmal nachbohren – je nach Lust und Laune.
Ein junger Mann, Trainee im Creative Management Programm des Konzerns, brachte den Vorstandsvorsitzenden in den folgenden Tagen auf andere Gedanken. Hartmann erfreute sich an der Person Anselm Fischers und an den frischen Wind, den dieser 30-Jährige mit seiner kessen Berliner Art in die Vorstandsetage brachte. Der selbstbewusste, trotz seiner unbedarften Redegewandtheit im Verhalten jedoch stets korrekte Masterabsolvent der Politikwissenschaften durfte sechs seiner insgesamt achtzehn Monate Förderungszeit in der Führungsetage der Firmenzentrale hospitieren, weil eine vor dem Studium abgeschlossene Buchhändlerlehre sowie ein studienbegleitendes Verlagspraktikum in München nichts anderes als unbedingt dafür sprachen. Nun saß der junge Mann mal im Chefsekretariat des Vorstandsvorsitzenden, mal im Büro des persönlichen Referenten und hin und wieder sogar beim Vorstandsvorsitzenden selbst, um das unternehmerische Know-how eines Medienkonzern unter Echtarbeitsbedingungen kennen zu lernen. Da Hartmann selbst kinderlos geblieben war, erfreute er sich nicht nur an dem frischen Wind, den der junge Mann in die Firmenzentrale gebracht hatte, sondern auch an der Hemdsärmeligkeit, mit der sich dieser junge Bursche in der obersten Chefetage bewegte. Anselm Fischer zeigte weder Berührungsängste noch „Angst vor großen Tieren“. Er antwortete, so es gewünscht war, auf alle Fragen, selbst auf nicht unbedingt mit seiner Tätigkeit verbundene, und schienen sie noch so unzeitgemäß oder altbacken. Derlei Fragen bezogen sich meist auf seine Kleidung, den heutigen Musikgeschmack und die Einstellung junger Leute zu Umwelt, Politik und Partnerschaften.
Am liebsten unterhielt sich der Medienchef mit seinem Trainee aber über Fußball. Anselm Fischer war wie Hartmann leidenschaftlicher Fußballer. Während der Konzernchef schon seit vielen Jahren nicht mehr aktiv spielte, nach wie vor jedoch so etwas wie ein Fußballverrückter war, kickte der junge Mann mit seinen 30 Lenzen immer noch, jedenfalls sofern es die Zeit zuließ, bei Tennis Borussia in Berlin, wo er es als Jugendlicher sogar bis in die Landesauswahl geschafft hatte. Es kam sogar vor, dass Hartmann mit dem jungen Hospitanten so eifrig über den anstehenden Fußball-Bundesligaspieltag debattierte, dass Hartmanns persönlicher Referent oder jemand aus dem Sekretariat dringend an den nächsten Termin erinnern mussten. Auf Hartmanns Frage, ob er nicht lieber Profifußballer geworden wäre als Trainee in einem Medienunternehmen, antwortete Anselm Fischer, dass er zwar eine Sporteliteschule in Berlin besucht habe, andere Schulkameraden wie die Boateng-Brüder, Patrick Ebert, Ashkan Dejagah oder sein bester Freund, Ömer Titec, aber einfach talentierter gewesen seien. Da Hartmann sich wirklich gut im Fußball auskannte, sagten ihm die Namen natürlich etwas - bis auf den letzten.
„Mein Kumpel Ömer war von uns allen mit Sicherheit derjenige mit dem größten Fußballpotenzial. Aber sein Vater stellte eine gute Schulausbildung mit Abi absolut in den Vordergrund. Die Schule und danach ein Studium hatten im Hause Titec Priorität. Fußball spielte nur die zweite Geige.“
„Hat Ihr Freund nie bereut, die Chance auf eine Fußballkarriere vergeben zu haben, nur weil sein Vater dies nicht wollte?“, fragte Hartmann nach, da er selbst, wie fast alle seine Jugendfreunde, am allerliebsten Profi-Fußballer geworden wäre.
„Nö“, antwortete der junge Fischer, „Ömer spielt immer noch Fußball - bei Türkyemspor in der Berlin-Liga, was ja auch nicht so schlecht ist. Außerdem hat er sein Sicherheitsmanagement-Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Recht abgeschlossen, nebenbei noch eine Ausbildung zum geprüften Detektiv gemacht und eine eigene Detektei eröffnet. Dem Jungen geht’s gut, er ist zufrieden. Und was seinen Vater anbelangt, hat der doch alles richtig gemacht. Ich hatte einige Fußballkumpels, die alles auf die Karte Fußball-Profi setzten und dann wegen einer Verletzung oder irgendeinem anderen Grund auf der Strecke geblieben sind. Die fristen jetzt ein richtig erbärmliches Dasein, weil sie die Schule nie interessiert hat, geschweige denn eine Ausbildung. Die haben echt abgelost. Außerdem, wenn Ömer Fußball-Profi geworden wäre, würde er jetzt wahrscheinlich in München, Barcelona oder bei Fenerbahçe Istanbul spielen und wir könnten uns kaum noch sehen.“
„Sie leben zurzeit in Gütersloh, wie ich gehört habe, da sind Sie auch weit weg von zu Hause“, sagte Hartmann.
„Ich fahre aber mindestens alle 14 Tagen nach Berlin“, stellte Fischer klar, „schließlich wartet dort meine Freundin. Und Familie habe ich ja auch noch.“
Hartmann war von der Offenheit des Trainees so beeindruckt, dass er ihm spontan anbot, einer der nächsten Vorstandssitzungen als Gast beizuwohnen. Hätte der Medienmogul selbst einen Sohn gehabt und dieser ein Interesse gezeigt, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, hätte er ihm dieses Angebot ebenso unterbreitet. Einmal selbst an einer Vorstandssitzung teilzunehmen, wusste Hartmann, und mitzuerleben wie die wichtigen Entscheidungen gefällt werden, gehörte zu den größten Träumen seiner Mitarbeiter, vor allem seiner Nachwuchskräfte. Auch der junge Fischer freute sich über diese unverhoffte Einladung. Er entdeckte in dem „Alten“, wie der Konzernleiter respektvoll hinter vorgehaltener Hand gerufen wurde, beinahe so etwas wie einen - wenn auch wesentlich älteren - Kumpel. Keinen „Großkopferten“ oder Patriarch, den man niemals von sich aus ansprechen durfte und der schaltete und waltete wie ein Diktator. Anselm Fischer entdeckte in diesem obersten Vorgesetzten einen Menschen mit guten Führungseigenschaften und überhaupt keinen Allüren.
Nicht weniger als weitere vier Wochen waren vergangen und noch immer hatte Lammroths zweites Manuskript nicht den Weg in Hartmanns Büro gefunden. Alle Nachforschungen in seinem Chefsekretariat sowie in der firmeneigenen Poststelle blieben ergebnislos. Hartmann war ratlos. Warum, fragte er sich, macht mich der Kerl erst heiß, um dann nichts mehr von sich hören zu lassen? Und warum, fragte er sich weiter, geht mir bloß dieses vermaledeite Manuskript mit dem angeblichen Polit-Skandal nicht mehr aus Kopf? Wenn es sich überhaupt um ein Manuskript handelte? Nichts, außer Lammroths effekthaschende Ankündigung, deutete schließlich darauf hin, dass dieses Schriftstück überhaupt in irgendeiner Form existierte. Nicht mal ein Exposé oder eine Gliederung oder eine Textprobe hatte Hartmann je erreicht. Und trotzdem, sollte nur ein Fünkchen Wahrheit in Lammroths Pitch glimmen, könnte daraus ein Sechser im Lotto entflammen, ein Bestseller, vielleicht sogar ein Weltbestseller.
„Versuchen Sie nochmal Kontakt zu Herrn Lammroth aufzunehmen“, wies der Medienmogul seine Chefsekretärin an, „Per E-Mail, telefonisch oder sonst wie. Von mir aus schicken Sie jemanden aus der Berliner Filiale bei dem Mann vorbei. Hauptsache, ich erhalte endlich ein Zeichen.“
Elisabeth von Goeben kümmerte sich darum. Täglich erstatte sie ihrem Chef Bericht über den Stand ihrer Nachforschungen. Nichts. Nachdem sie weder telefonischen Kontakt noch per E-Mail zu diesem Herrn aufbauen konnte, hatte die Chefsekretärin das Berliner Büro angewiesen, jemanden zu Lammroths Wohnung zu schicken. Tatsächlich hätten die Mitarbeiter unter der angegebenen Adresse ein Klingelschild mit dem Namen Lammroth gefunden, nur hätte niemand geöffnet.
„Wie oft war jemand da?“, bat Hartmann um mehr Details. Elisabeth von Goeben las von ihrem Notizzettel ab: „Insgesamt haben unsere Mitarbeiter 7 Mal bei diesem Herrn Lammroth geklingelt – 2 Mal vormittags, 2 Mal nachmittags, 2 Mal abends und 1 Mal nachts kurz vor 12 Uhr.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Vielleicht ist der Mann verreist oder im Krankenhaus.“
„Danke“, entgegnete Hartmann kurz und entließ damit seine Chefsekretärin aus seinem Büro - um sie gleich wieder zurück zu bitten. „Haben Sie die Berliner Kollegen über den Grund des Anliegens in Kenntnis gesetzt?“
„Selbstverständlich nicht“, antwortete Frau von Goeben, „Ich habe lediglich in Ihrem Namen darum gebeten, jemanden vorbeizuschicken, um Herrn Lammroth daran zu erinnern, umgehend mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Das war alles.“
Hartmann äußerte ein zweites Anliegen: „Und den Notizzettel vernichten Sie!“
Elisabeth von Goeben schaute ihren Chef vorwurfsvoll an. Es hätte ihm klar sein müssen, dass dies auch ohne seine eindringliche Bitte geschehen wäre. Sobald die treue Seele das Büro verlassen hatte, begann Hartmann in winzigen Schritten die Ränder seines Teppichs abzulaufen. Warum sollte dieser Lammroth verreisen, fragte er sich, ohne vorher das Manuskript einzureichen? Oder wenigstens eine kurze Nachricht abzusetzen, dass dieses zu einem späteren Zeitpunkt geschickt würde. Autoren, wusste der clevere Verlagsprofi, waren so gut wie immer um eine möglichst zeitnahe Veröffentlichung ihrer Werke bemüht. Je eher ein Manuskript als fertiges Buch auf den Markt gelangte, desto schneller winkte dem Verfasser schließlich eine Vergütung. Darüber hinaus litten viele Schriftsteller an der Urangst, zu versterben, noch bevor sie ihr Werk als potenziellen Bestseller in der Buchhandlung bewundern konnten.
Und noch etwas irritierte den Teppichgänger: Selbst wenn Lammroth Kontakt zu einem anderen Verlag aufgenommen hätte, um dort sein Werk zu veröffentlichen, so gäbe es doch keinen Grund, auf ein Klingeln an der Haustür nicht zu reagieren. Und dass der gute Mann siebenmal gerade außer Haus war, als Hartmanns Mitarbeiter ihn aufgesucht hatten, schien auch ziemlich abwegig. Und letztlich hatte der Kerl auch nicht auf die an ihn gerichteten Telefonanrufe und E-Mails reagiert.
Nach vielleicht 20 Minuten meditativen Laufens auf dem Teppich beschloss Hartmann gemäß dem Motto „Wer nicht will, der hat schon“ zu verfahren und nunmehr den Fall auf sich beruhen zu lassen. Das Unternehmen, die Hartmann-Mediengruppe, stellte schließlich andere Forderungen an seinen Vorstandsvorsitzenden als Hirngespinsten hinterher zu jagen. Was soll’s, dachte er sich, im Grunde war dieser Lammroth ohnehin ein Scharlatan und Betrüger. Ein Dieb geistigen Eigentums, der vorgab, die gesamte Literatur für die Welt zu retten, sie stattdessen aber auf ganz billige Weise und dazu noch unverhohlen beraubte, wo er nur konnte.
Es vergingen weitere vier Wochen, ohne dass Hartmann an diesen Lammroth denken musste. Der Alltag mit seinen ordinären Aufgaben und Pflichten hatte mitgeholfen, das zur Schlaflosigkeit führende Grübeln über den Mann zu verdrängen. Dessen Missetat und das angebliche Sensationsmanuskript zu vergessen. Sogar etwas Schönes konnte der Medienchef in dieser Zeit verbuchen. Ein Kleinod satirischer Kunst hatte den Weg in seine Lesestunde gefunden. Das Manuskript eines bislang unbekannten Autors erzählte die Geschichte einer verrückten Wohngemeinschaft, deren durchgeknallte Mitglieder mit den absurdesten Geschäftsideen zu ungeahntem Reichtum und weltweiter Anerkennung gelangten, sich im Gegensatz dazu aber immer weiter weg von konsumorientierten Neureichen und hin zu politisch überzeugten Anhängern des Minimalismus entwickelten.
Endlich fand Hartmann auch Zeit, sich um Minister Hunschas Anliegen zu kümmern. Dazu besuchte der Medienmacher eine der vielen Redaktionssitzungen seines politischsten Fernsehmagazins, das unter dem Namen DURCHBLICK in den konzerneigenen Fernsehstudios nahe München produziert wurde. Gelassen, aber aufmerksam wartete er ab, bis die wesentlichen Punkte der Tagesordnung besprochen waren. Als im Ablaufplan nur noch der Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ auftauchte, meldete er sich und fragte nach der mittel- und langfristigen Planung weiterer, die DDR - speziell die Wendezeit - betreffende Themen.
In absehbarer Zeit, wurde geantwortet, stünden aufgrund anderer, aktuell brisanterer Stoffe keine Beiträge mit den genannten Inhalten zur Disposition. Grundsätzlich bliebe aber die Berichtserstattung zu relevanten Ereignissen aus der Trennungszeit beider deutschen Staaten aufgrund vieler, historisch noch nicht abschließend aufgearbeiteter Geschehnisse ein Dauerschleifenthema der Redaktion. Ob die kurze Antwort ausreiche, wurde höflich nachgefragt. Hartmann war ein Verfechter nicht unnötig in die Länge gezogener Dienstbesprechungen und eigentlich geneigt, sich mit der Auskunft zu begnügen. Er hatte gehört, was er hören wollte, und hätte den Sitzungsraum vorzeitig verlassen oder der kollegialen Höflichkeit wegen als stiller Zuhörer bis zum nahen Ende bleiben können. Ein kurzer, man könnte sogar sagen unkontrollierter, Impuls veranlasste ihn jedoch, eine nächste, lediglich auf pure Neugier beruhende Frage in den Raum zu stellen: „Kennt sich zufälligerweise jemand von Ihnen, vielleicht eine Kollegin oder ein Kollege aus dem Team der DDR-Berichterstattungen, mit den Möglichkeiten der Stasi aus, Protokolle und Gesprächsmitschnitte linguistisch unter Zuhilfenahme irgendwelcher Computerprogramme auszuwerten? Würden Sie der DDR beziehungsweise dem Ministerium für Staatssicherheit so etwas technisch überhaupt zutrauen?“
Der oberste Boss hatte gefragt, für das gesamte Redaktionsteam eine gute Gelegenheit, das vorhandene Fachwissen und die eigene Kompetenz eindrücklich darzustellen. Durchaus bekannt sei, erfuhr Hartmann, dass die Mitarbeiter der Abteilung 32 des Ministeriums für Staatssicherheit mit Sprachanalysen heimlich aufgenommener Telefongespräche betraut waren, beispielsweise zum Zweck der Stimmenidentifikation. Die DDR, wurde Hartmann mitgeteilt, verfügte über mindestens 73 Abhörstationen, von denen aus operative Ziele selektiv überwacht und deren sprachliche Signale dekodiert wurden. „Meinen Sie“, drang Hartmann weiter vor, „dass die Stasi in der Lage war, mitgeschnittene Gespräche durch den Einsatz spezieller Computerprogramme auf den Wahrheitsgehalt der Sprechenden hin zu untersuchen oder auf geheime Botschaften und beabsichtigte beziehungsweise unbeabsichtigte Signale?“
In erster Linie, erfuhr der Fragesteller, seien Text- und Sprachanalysen beim MfS händisch mit Karteikartensystemen durchgeführt worden, für computergestützte Spracherkennungen und Inhaltsanalysen fehlte vermutlich das Know-how, immerhin hinkte die IT-Technik des Ostens rund 15 Jahre hinter der des Westens her. Andererseits seien allein im Operativen Technischen Sektor des Ministeriums für Staatssicherheit mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigt gewesen. Und eine vorrangige Aufgabe der zur Hauptabteilung A gehörenden Spezialabteilung SWT, die Abkürzung stehe für Sektor Wissenschaft und Technik, habe darin bestanden, westliche Technik zu beschaffen und der Abteilung S, welche für die Technologie verantwortlich war, zuzuleiten. Die Abteilung „Abwehr Mikroelektronik“ habe zudem im Aufgabenfeld „Wirtschaftsspionage“ erhebliche Erfolge bei der Beschaffung westlicher Computertechnologie verbuchen können, unter anderem – und dies sei gesichert - durch Kontakte zu vor allem amerikanischen, westdeutschen und österreichischen Quellen.
Ob es zu diesen Quellen Namen gäbe, fragte Hartmann nach. Ja, aber keine prominenten, nur unbedeutende, wie leitende Angestellte von Unternehmen der Informations- und Telekommunikationstechnik und Beschäftigte in der Anwendungsentwicklung. Darüber hinaus seien einige Sekretärinnen mit Zugang zu gesicherten Bereichen und bestochene Nachtpförtner als konspirative Quellen enttarnt worden.
Eine letzte Frage brannte Hartmann noch unter den Nägeln: „Hat man nach der Wende wirklich keinerlei elektronische Datenträger oder anderes Material des MFS mit sprachanalytischen Inhalten sicherstellen können?“
Nein, wurde geantwortet, habe man nicht. Den DDR-Bürgern wären bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale weder elektronische Datenträger noch Tonbandaufnahmen in die Hände gefallen, dafür aber viele Handakten und Printordner mit Textpassagen, die im späteren Verlauf der Stasi-Aufarbeitung speziell auch im Hinblick auf Inhaltsanalysen, Deutungssicherheit, Metaphern, Symbole, versteckte Botschaften und Wahrheitsgehalt analysiert worden waren.
„Wie“, fragte Hartmann, „Es wurde damals wirklich nur Papiermaterial gefunden? Keine Disketten, keine Festplatten oder andere elektronische Datenträger?“
Schön wär‘s, war die Antwort, aber sämtliche Tonaufzeichnungsgeräte und Computer seien kurz vor der Besetzung der Stasi-Zentrale durch das Volk im Januar 1990 von Stasi-Kräften plattgemacht und sämtliche Daten daraus vernichtet worden. In diesem Fall wären die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit wirklich routiniert und professionell vorgegangen.
Hätte sich Hartmann lediglich auf die Frage zur Planung weiterer Reportagen mit Bezug zur DDR oder zur Wendezeit beschränkt, wären ihm viele schlaflose Stunden der folgenden Nächte erspart geblieben. Die Antworten seiner Fernsehmitarbeiter auf die Anschlussfragen jedoch, vor allem die zum Verbleib jeglicher elektronisch gespeicherten Dokumente, ließen ihn in der Folgezeit zum zwanghaften Marathongeher auf den abgewetzten Rändern seines Wohnzimmerteppichs werden. Der Name Lammroth und sein angebliches Manuskript zu den angeblich dubiösen Besuchen bundesdeutscher Politiker in der DDR hatten es sich in Hartmanns Gedächtnis gemütlich gemacht – zuerst noch ein wenig eingeengt hinter den dunklen Büschen der Verdrängung, dann - lärmend freigelassen - auf den großen Wiesen der professionellen Neugier. Sollte im Endeffekt doch etwas dran sein an den immerhin ziemlich konkreten Andeutungen dieses einerseits unscheinbaren, andererseits hochkriminellen Mannes aus Berlin? Sicher, Namen wurden nicht genannt, aber immerhin hatte Lammroth rausgelassen, dass hochrangige, zum Teil noch ihre Ämter ausführende bundesdeutsche Politiker, darunter sogar Regierungsmitglieder, ihre Stellung offensichtlich missbraucht hatten, um, aus welchen Gründen auch immer, Staatsgeheimnisse an die DDR weiterzuleiten – und dies zum Schaden der Bundesrepublik Deutschland, womöglich sogar zum schweren Nachteil für die äußere Sicherheit. Nur einmal ganz kurz angenommen und rein hypothetisch, hämmerte es immer und immer wieder in Hartmanns Kopf, der Kerl hätte wenigstens bezüglich seiner früheren Tätigkeit beim MfS die Wahrheit gesagt, so verfügte allein dieser Umstand über Bestsellerpotenzial, jedenfalls, wenn man es einigermaßen geschickt anstellte und auf diesem Hintergrund eine gute Geschichte entwickelte. Und weiter angenommen, es existierte sogar ein Manuskript, egal ob auf Wahrheiten oder auf Lügen beruhend, so würde eine Kombination aus hauptamtlicher Stasi-Mitarbeit und politischer Enthüllung mit Sicherheit eine spannende Geschichte tragen. Bliebe noch die Frage, warum Lammroth sich nicht mehr gemeldet hatte. Als verschlagener Fuchs, vielleicht sogar wirklich ehemaliger MfS-Mann, wäre es dem Kerl durchaus zuzutrauen, so reimte es sich Hartmann zusammen, ein kleines Versteckspiel zu treiben, um den Angefütterten noch neugieriger auf das ausstehende Manuskript zu machen. Nach dem Motto: Einfach mal untertauchen und warten, wie der Medienmogul auf eine unschlagbare Offerte reagiert. Auf einen potenziellen Bestseller. Einen Enthüllungsroman der Marke Pulitzer.
Also gut, fasste Hartmann resümierend die Fakten zusammen, dann spielen wir das Spiel. Ich werde dich Bürschchen schon finden. Und herausbekommen, was hinter dir und deinem zweiten Manuskript steckt. Du hast mir also den Fehdehandschuh hingeworfen - und ich habe ihn jetzt aufgenommen, mein lieber Lammroth. Ab jetzt gilt: meine Spürnase für Bestseller gegen deine freche Überheblichkeit, das Buch mit Sicherheit auch anderen Verlagen anzubieten, wahrscheinlich, um die besten Verkaufsmöglichkeiten auszuloten. Gut, die erste Runde mag an dich gegangen sein. Du hast mich angelockt, mich auf den Topf gesetzt. Jetzt aber suche ich dich, spür dich auf und lass dich nicht mehr aus meinen Fängen. Du und dein Manuskript, falls es eins gibt, gehören mir.
Hartmann gefiel sich in dieser neuen Rolle des aggressiven Angreifers. Sie stand ihm wesentlich besser als die eines zaghaft-zögerlichen Bedenkenträgers. Da es ihm nachweislich nicht gelungen war, diesen verrückten Berliner und dessen Manuskript zu vergessen, schien es besser herauszufinden, was wirklich hinter der Geschichte steckte, anstatt sich weiter zu quälen.
Sobald der enge Terminkalender des nächsten Tages es zuließ, bat Hartmann folglich seine Chefsekretärin, Fridjof Pohl, den Leiter der konzerneigenen Rechtsabteilung, zu rufen. Im Allgemeinen lagen in Pohls Verantwortungsbereich Aufgaben wie die Klärung und Abwicklung nationaler und internationaler Verwertungsrechte, die Vertragsgestaltung mit besonders erfolgreichen Autoren, die personalrechtlichen Angelegenheiten der Konzernmitarbeiter sowie alle gerichtlichen Verfahren, die in einem Medienbetrieb anfallen. Der gewiefte Justiziar brachte in Hartmanns Augen daraus so viel Erfahrung mit, dass man ihm zutrauen konnte, die nun an ihn gerichtete Sonderaufgabe problemlos zu lösen.
„Lieber Herr Pohl“, ersuchte der Konzernleiter seinen Führungsmitarbeiter, „ich habe da einen vielleicht nicht ganz gewöhnlichen Auftrag.“
Fridjof Pohl hörte seinem Chef konzentriert zu. Hartmann fuhr fort: „Mir ist in meiner Lesestunde zufällig ein ebenso seltsames wie ungewöhnliches Manuskript in die Hände gefallen. Ein, wie soll ich sagen, überdrehter Autor aus Berlin hat mir ein aus mehreren tausend Werken zusammengeklautes Manuskript vorgelegt, das er als eine Art universelle Kompilation, wie man in Fachkreisen sagt, verkaufen möchte. Mir geht es weniger um dieses Manuskript als vielmehr um den Mann, der unerlaubt aus Büchern zitierte und damit in beträchtlichem Umfang Urheberrechte beziehungsweise Verwertungsrechte verletzt hat, die unter anderem auch unsere Verlage betreffen. Ich möchte den Täter persönlich zur Rechenschaft ziehen, kann ihn aber nicht mehr auffinden.“
Hartmann hatte seinem Justiziar mit Bedacht nicht alles erzählt, erst recht nicht den wahren Grund der Suche nach Lammroth. Das Leben hatte den erfahrenen Medienmacher gelehrt, in bestimmten Situationen lediglich das Notwendigste preiszugeben - nicht nur, wenn es um potenzielle Bestsellermanuskripte ging, sondern auch, wenn Personen in skandalträchtige Vorfälle involviert waren. Wirklich vertrauen, hatte darüber hinaus die jahrelange Berufspraxis ihn lernen lassen, konnte er nur seiner Ehefrau und mit Abstrichen neben seinem langjährigen Weggefährten Dr. Schneider eventuell noch seiner Chefsekretärin Elisabeth von Goeben.
„Wie kann ich helfen?“, bemühte sich Pohl, eine genauere Anweisung zu erhalten.
„Nun ja, fürs erste würde es mir reichen, wenn Sie den Mann ausfindig machten und dafür sorgten, mit mir persönlich in Kontakt zu treten. Das ist unseren Mitarbeitern in Berlin nämlich bisher nicht gelungen.“
„Das dürfte so schwierig nicht sein“, antwortete Fridjof Pohl, „Wo erhalte ich die Kontaktdaten?“
„Frau von Goeben reicht Ihnen Anschrift, Vita und so weiter her. Der Kerl wohnt in Berlin.“
Pohl wusste, dass damit der Auftrag ausgelöst war ohne weitere Erläuterungen. Er stand auf, begab sich zur Tür und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Hartmann ihn noch einmal ansprach: „Ach ja, mir ist im Lebenslauf des Mannes eine berufliche Ungereimtheit aufgefallen. Angeblich hat er Informationsverarbeitung studiert und soll damit als EDV-Dozent sein Geld verdienen. Mich würde schon interessieren, ob das stimmt und ob der Kerl das schon sein ganzes Leben lang macht.“
„Kriegen wir raus“, antwortete Pohl mit einem freundlichen Kopfnicken, bevor er in sein Büro zurückkehrte.
Hartmann fühlte sich nun besser. Wenn er jetzt rasch noch den Brief an Minister Hunscha diktierte, in dem er den Kanzleramtsminister – und damit auch als eigentliche Adressatin die Kanzlerin - darüber informierte, dass die Fernsehredaktion seines Politmagazins gegenwärtig und in absehbarer Zeit keine Sendebeiträge mit DDR-Inhalten plane, im Rahmen des journalistischen Auftrages selbstverständlich aber jederzeit anlassbezogen zu Themen mit gesellschaftspolitischer Bedeutung, auch die Deutsche Demokratische Republik betreffend, zurückkehren werde, wäre er der an ihn gerichteten Ministerbitte nachgekommen, ohne dabei sein dem kritischen Journalismus verpflichtetes Gesicht zu verlieren. Am Abend dieses Arbeitstages, wusste Hartmann, stand dann zwar noch eine Spendengala in Bielefeld auf dem Programm, zu der er und seine Frau eingeladen waren, anschließend würde er aber endlich wieder ohne Teppichläufe und quälende Grübelei in den Schlaf finden.
So kam es auch - bis ein Albtraum den Medienmacher um 3 Uhr nachts aus dem Schlaf riss. Schweißgebadet erinnerte er sich schemenhaft an eine Gernot Lammroth ähnliche Figur, die knietief im Wasser einer Justizvollzugsanstalt, wahrscheinlich der in Bautzen, vielleicht handelte es sich aber auch um die zentrale Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen, stand, bekleidet mit einer DDR-Armee-Uniform und einer entsicherten Maschinenpistole im Anschlag. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Hartmann streifte sich den Morgenmantel über, ging leise in die Küche und trank in einem Zug ein großes Glas Wasser herunter. Dann begab er sich auf Strecke – Teppich! Vor sich hin trottend, malte er sich alle Trauminterpretationen aus, die ihm einfielen. Es waren zu viele, um eine sichere Auswahl zu treffen. Gegen 4 Uhr war er vom Denken und Gehen so erschöpft, dass er in sein Bett fiel und sofort, diesmal traumlos, bis zum Weckruf durchschlief.
Sicher mit zu wenig Schlaf, dafür aber mit einer gewissen Vorfreude auf die anstehende Vorstandssitzung betrat Hartmann am nächsten Morgen sein Büro. Generell empfand er für diese zum operativen Geschäft gehörenden Besprechungen weder Freud‘ noch Leid, die Routine hatte die Gefühle in vielen Jahren abgeschliffen. Auf der Tagesordnung stand die Beschlussfassung zur Vorlage der Übernahme eines Independent-Verlags, der von sich aus angeboten hatte, in die Verlagsgruppe des Konzerns aufgenommen zu werden. Mit einem Markanteil von 0,3 Prozent im deutschen Buchhandel brachte der angebotene Verlag durchaus attraktive Umsatzzahlen mit, um aussichtsreich eine Integration in Hartmanns Verlagsgruppe zu verhandeln. Was jedoch Hartmanns gute Laune in Wahrheit anbelangte, war es die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit seinem jungen Trainee, der zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal als Gast an einer Vorstandssitzung des Hartmann-Konzerns teilnehmen durfte. Und als hätte er den jungen Frechdachs richtig eingeschätzt, stellte dieser irgendwann mitten in der Sitzung eine Frage. Das hatte sich noch niemand getraut, der ohne eingeräumtes Rederecht einer Konzernvorstandssitzung als Gast beiwohnen durfte. So viel Mut musste und wollte mit einer Einladung zum Mittagsessen belohnt werden. In der konzerneigenen Personalkantine debattierten nach Sitzungsschluss zwei an Lebensjahren unterschiedliche Männer über die Vorzüge, ein Schalke 04-Fan oder ein Borussia Dortmund-Anhänger zu sein. Die Kontrahenten sparten dabei nicht mit stichhaltigen Argumenten, gegenseitiger Verhöhnung und mehrfacher Bezeugung, trotz dieser gravierenden Unterschiede einander sympathisch zu finden.
„Warum sind Sie eigentlich ein so glühender Anhänger der Borussia?“, wollte Hartmann wissen.
Anselm Fischer lachte. „Weil mein Kumpel Ömer, Sie wissen schon, der Fußballer, mit dem ich bei Tennis Borussia in der A-Junioren-Bundesliga spielte, seinerzeit ein Angebot aus Dortmund für die zweite Mannschaft bekam. Das hätte sein Sprungbrett in die Bundesliga sein können. Aber nach langem hin und her haben sich sein Vater und er dazu entschieden, die Schule in Berlin zu Ende zu bringen und Abi zu machen. Ich glaube, er hat mit seinem Studium auf eine sichere Zukunft setzen wollen.“ Der junge Trainee hielt kurz inne und verfiel ins Grübeln. „Obwohl, in die Bundesliga hätte er es dicke geschafft. Und sich mit einer Detektei selbstständig zu machen, ist heutzutage auch nicht gerade zukunftssicher.“
Hartmann nickte: „Nun wollen Sie sicher wissen, warum ausgerechnet ich Schalke-Fan bin.“
Fischer antwortete mit vollem Mund: „Ist schon klar. Sie wohnen gleich um die Ecke von Rheda-Wiedenbrück und jeder weiß, dass dort Schalkes Aufsichtsratsvorsitzender residiert. Und seine Wurstfabrik hat.“ Der junge Mann schaute auf seinen Teller: „Ist das Fleisch hier auch von ihm?“
Hartmann lächelte. Fischer hatte seinen Bissen heruntergeschluckt und redete weiter: „Die ganze Umgebung hier steht auf Schalke. Ich muss schon froh sein, nicht mit Tomaten oder anderen Sachen beworfen zu werden, wenn ich mich als Dortmund-Fan oute. Außerdem sind Sie bestimmt in den gleichen Communities wie der Fleischgroßhändler aus Wiedenbrück. Geben Sie es zu!“
Hartmann gab keine Auskunft, freute sich aber, dass es dem jungen Mann wieder einmal gelungen war, das Geschäft für einige Zeit in den Hintergrund rücken zu lassen.
Es dauerte eine gute Woche, bis Fridjof Pohl wegen des an ihn gerichteten Auftrags seinen obersten Chef wieder aufsuchte. Leider nicht mit befriedigenden Ergebnissen. Gernot Lammroth war nicht aufzuspüren. Verschiedene Mitarbeiter einer mit der Rechtsabteilung kooperierenden Kanzlei in Berlin hätten Lammroths Wohnung mehrmals aufgesucht, den Herrn aber nicht angetroffen. Angestellte Recherchen hätten weder Krankenhausaufenthalte noch Aufenthalte in Haftanstalten oder irgendwelche Reiseabwesenheit zutage gefördert. Befragungen des wohnnahen Umfeldes legten die leise Vermutung nahe, dass der Gesuchte Deutschland verlassen habe, um sich eventuell für längere Zeit irgendwo in Südamerika oder Kanada niederzulassen.
„Wie kommen Sie darauf?“, hakte Hartmann nach.
„Das mutmaßten einige Nachbarn, die ihr Ohr offenbar dicht an der Gerüchteküche haben. Die Aussagen sind aus diesem Grund allerdings nur mit größter Vorsicht zu genießen. Andere Menschen aus Lammroths Wohnumfeld vermuteten übrigens, dass Lammroth eine Zweitwohnung unterhalte und sich die Post dorthin nachsenden lasse, da sein Hausbriefkasten trotz der nun schon länger anhaltenden Abwesenheit einfach nicht überquellt.“
Hartmann überlegte und schob auf der Nase seine Brille zurecht. „Wenn dieser Lammroth einen Nachsendeantrag gestellt hat, ließe sich der neue Wohnort doch mit Sicherheit über die Post ermitteln.“
„Leider nein,“ antwortete Pohl, „das Postgeheimnis ist nach
Artikel 10, Absatz 1 des Grundgesetzes geschützt. Eine Zuwiderhandlung sieht wegen des Verstoßes des Post- und Fernmeldegeheimnisses eine strafrechtliche Verfolgung gemäß Paragraf 206 des Strafgesetzbuches mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, mindestens aber eine saftige Geldstrafe vor.“
„Dann ist der Kerl also verschwunden“, fasste Hartmann zusammen, „und niemand weiß wohin.“
„Richtig“, stimmte der Leiter der Rechtsabteilung zu, „das scheint leider so zu sein.“
„Hat denn der Kerl keine Verwandten oder Bekannte, die etwas zu seinem Verbleib beitragen können, Freunde, Kumpel, Kollegen, eine Beziehung?“
„Auch da wurde gründlich, aber ergebnislos nachgeforscht. Allem Anschein nach handelt es sich bei Ihrem Plagiatsautor um einen Einzelgänger, der weder Freunde noch Bekannte oder Familienangehörige hat. Auch keine Beziehung. Tut mir leid.“
„Und sein beruflicher Werdegang“, begehrte Hartmann weitere Auskünfte, „ließ sich dahingehend etwas herausbekommen?“
„Wir hatten Kontakt mit dem Weiterbildungsträger, bei dem Gernot Lammroth beschäftigt war oder ist, erhielten aber keine brauchbaren Auskünfte über sein derzeitiges Aufgabengebiet oder frühere Aufträge, außer dass Lammroths dortige Beschäftigung offensichtlich freiberuflicher Natur ist oder war.“
„Und Lammroths Ausbildungen? Konnten Sie diesbezüglich wenigstens etwas in Erfahrung bringen?“
„Auch hier muss ich sagen“, antwortete Pohl, „dass strenge rechtliche Regelungen die Herausgabe derartiger Informationen verbieten. Das Bundesdatenschutzgesetz untersagt Arbeitgebern, eingeschlossen Auftraggebern von Weiterbildungsmaßnahmen – wie in Lammroths Fall – strengstens und unter Strafe die Weitergabe personenbezogener Daten.“
Fridjof Pohl zuckte mit den Schultern und fuhr fort: „Wenn Sie mich fragen, würde ich diesen Herrn vorläufig vergessen und den Fall solange ad acta legen, bis sich tatsächlich eine unseren Konzern betreffende Urheber- oder Lizenzrechtsverletzung offenbart. Dieser Lammroth ist mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach abgetaucht, warum auch immer, und will anscheinend nicht mehr auffindbar sein - für uns nicht und für keinen anderen.“
„Sie meinen also“, bat Hartmann seinen Justiziar um dessen abschließende Einschätzung, „ich sollte diesen Kerl einfach vergessen und nicht mehr nach ihm suchen?“
„Würde ich raten“, antwortete dieser, „Dazu ist dieser Kerl mitsamt seiner Geschichte doch wirklich zu unbedeutend. Schließlich, glaube ich, haben Sie Wichtigeres und vor allem Besseres zu tun als einem kleinen Plagiatsverbrecher hinterherzulaufen.“
Da Hartmann offensichtlich keine weiteren Fragen mehr zu stellen beabsichtigte, nutzte Fridjof Pohl sogleich die Gelegenheit, andere wichtige Vorgänge, wie die Vertragsgestaltung zum Übernahmeangebot des Independent-Verlags, anzusprechen. Hartmann schaute auf seine Uhr und zeigte sich einverstanden, da er bis zum nächsten Termin noch Zeit hatte.
Nein, entschied Hartmann nach dem Weglegen der Bettlektüre noch am Abend desselben Tages, ich werde mir diese Nacht nicht wieder versauen und nicht auf dem Wohnzimmerteppich Spazieren gehen, ich weiß, was zu tun ist. Sein Entschluss stand fest: das Spiel mit Lammroth war doch noch nicht und vor allem lange noch nicht beendet. Die Argumentationskette hatte sich auch nach der Einschaltung Fridjof Pohls - wie sich herausgestellt hatte, eine nutzlose und völlig überflüssige Zeitverschwendung - um keinen Deut geändert. Es blieb dabei: Warum sollte ein Autor erst ein Manuskript entwerfen und einem Verlag anbieten, um sich dann vom Acker zu machen? Und Lammroth hatte zwei Manuskripte im Rohr - erst das Quatschige zur weltweiten Bündelung der Hochliteratur, dann aber vor allem das, was unbestritten Erfolg versprach. Und welcher Autor machte sich die Mühe der langen Anreise zu einem Verleger, um nach einem schließlich doch aussichtsreichen Anbahnungsgespräch die Segel zu streichen und, wo auch immer hin, zu verschwinden? Hartmanns Gedankenkarussell drehte sich schneller und schneller. Hatte er vielleicht selbst zu wenig Interesse an dem zweiten Manuskript signalisiert? Zu wenig, um den wie vom Erdboden Verschluckten von einem lohnenden Zweitkontakt zu überzeugen? Wohl kaum, versuchte sich der Grübler zu beruhigen, jeder Autor, ob Mann oder Frau, würde sich solch eine Chance nicht entgehen lassen. Hartmanns mitternächtliche Überlegungen ließen, während er weiter und weiter nachdachte, schließlich genügenden Platz, um zu erkennen, dass sich seine Gedanken im Kreis bewegten, immer wieder dieselben Fragen, immer wieder dieselben Antworten – und das, seitdem der seltsame Kerl aus Berlin in sein Leben getreten war. Wollte Hartmann der nächtlichen Teppichfolter entgehen, musste er endlich eine definitive Entscheidung treffen. Ein Blick zur anderen Betthälfte zeigte, dass seine Ehefrau eingeschlafen war. Sie hatte sich umgedreht und längst mit schlafwandlerischer Sicherheit das gefunden, was Hartmann so oft vergeblich suchte: entspannte Ruhe. Wollte er an diesem Tag wenigstens ein bisschen davon abbekommen, musste er ihn mit einer konstruktiven Aufarbeitung der Geschehnisse beenden. Folglich griff Hartmann zu einem stets auf seinem Nachttisch liegenden Block, nahm den Bleistift daneben und notierte stichpunktartig erstens, was im Falle Lammroth seltsam erschien, zweitens die möglichen Schlussfolgerungen daraus und drittens, was demnach zu tun war. Anderthalb Stunden später war der Top-Manager fertig und schlief bis zum Weckerklingeln durch.
Nach dem Mittagessen des nächsten Tages beauftragte Hartmann eine seiner Sekretärinnen, den kessen Anselm Fischer zu rufen.
„Hätten Sie Lust auf einen kleinen Verdauungsspaziergang?“, fragte der Medienmacher den jungen Trainee. Anselm Fischer fühlte sich geschmeichelt. Wenn der Alte schon fragte, würde jeder aus dem Konzern es als Auszeichnung betrachten, mit ihm eine Runde drehen zu dürfen. Also willigte Fischer bereitwillig ein. Während sie gemächlich losmarschierten, erkundigte sich Hartmann zunächst unverbindlich nach dem aktuellen Stand des Trainee-Programms. Er fragte, was an Ausbildungsinhalten noch anstehe, ob der junge Mann sich immer noch gut in der Firmenzentrale aufgehoben fühle und an welchen Aufgaben er gerade arbeite. Fischer gab höflich Auskunft, obgleich er nicht recht verstand, worauf Hartmanns Fragen eigentlich hinauswollten. Ihm schwante, dass der Vorstandsvorsitzende bestimmt kein Auswertungsgespräch über das bisher im Programm Erlebte führen wollte. Die von Hartmann erbetenen Auskünfte erteilt, ließ der Trainee seiner Neugier freien Lauf und stellte seinerseits die Frage: „Herr Hartmann, Sie als oberster Chef haben doch bestimmt anderes zu tun als mich nach dem Stand meiner Entwicklung zu fragen. Was ist der wirkliche Grund Ihrer Einladung zum Spaziergang?“
Hartmann lief gemessenen Schrittes weiter. Er atmete tief und bewusst die sauerstoffreiche Luft des Parks ein, den er mit dem jungen Mann durchschritt, und überlegte, ob er im Alter dieses jungen Mannes auch den Mut gehabt hätte, seinem obersten Chef solch eine direkte Frage zu stellen. Schwer zu beantworten, wurde ihm bewusst, sein oberster Chef war zu dieser Zeit sein Vater. Ein paar Schritte weiter, führte er die Kommunikation fort: „Sie erwähnten doch öfter, dass Ihr Freund, dieser Ömer Titec, Inhaber eine Detektei sei.“
„Ja“, stimmte Fischer zu.
„Nun ja, ich habe da vielleicht einen kleinen Auftrag für Ihren… Kumpel.“
„Okay. Worum handelt es sich – wenn ich fragen darf?“
Hartmann gab sich betont lässig: „Ihr Freund könnte mir einen Autor aufspüren, der menschenscheu ist und sich hin und wieder aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Sich verkriecht.“
„Klingt spannend“, sagte Fischer, „Kennt man den Autor, ist er berühmt?“
Hartmann blieb kurz stehen. „Würden Sie wollen, dass alle Welt von Ihrer Menschenangst erfährt?“
„Nee, bestimmt nicht“, antwortete Fischer im Bewusstsein, eine verkehrte Fragte gestellt zu haben. „Wollen Sie Ömers Telefonnummer haben oder soll ich ihn bitten, sich bei Ihnen zu melden?“
„Wissen Sie was“, antwortete Hartmann, „Ihr Ömer wird sich bestimmt freuen, wenn er noch heute durch keinen anderen als Sie von meinem Interesse an einer Zusammenarbeit erfährt. Geben Sie mir vielleicht einfach seine Nummer, ich melde mich dann Morgen bei ihm!“
Über des jungen Fischers Gesicht huschte ein kleines Grinsen: „Ömer wird sich bestimmt freuen. Er ist immer noch in der Start-up-Phase und kann jeden Auftrag gebrauchen.“
Die Nachwuchskraft zückte ihr Handy und diktierte Hartmann die Nummer des Freundes.
„Es versteht sich von selbst“, mahnte Hartmann, „dass dieses vertrauliche Gespräch mit Blick auf das psychische Problem des Autors unter uns bleibt. Das gilt auch konzernintern.“
Der junge Mann hatte eine Order von allerhöchster Stelle erhalten und wusste, dass sie absolut zu befolgen war. Umso mehr, als Fischer seinem besten Kumpel den Auftrag nicht versauen wollte.
Tags darauf weilte Hartmann beruflich in Genf, eine prima Gelegenheit, mit dem Telefon der Hotellobby ein Gespräch nach Berlin zu führen.