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Theorie und Praxis

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Theorie und Praxis überschneiden sich gewöhnlich in Christoph Strassers Leben; das ist womöglich die wichtigste Kernkompetenz für seine außergewöhnliche Profession und macht ihn zum stabilen Menschen auch abseits des Sports. Stabilität heißt, in seinem Leben viel aushalten, aber auch die positiven Seiten festhalten und herausstreichen zu können, denn schließlich ist er in der privilegierten Lage, von schnellem Radfahren und guten Geschichten besser zu leben als die meisten. Seine Geschichten zu erzählen, bedeutet auch, von und durch sich selbst zu lernen und Situationen immer und immer wieder neu zu durchleben, bis sich das Positive fest in den eigenen Blickwinkel eingebrannt hat. Christoph hat den Ablauf, der folgen soll, schon so oft durchlebt, dass ihm der verfrühte Gedanke an die mentale Seite der Herausforderung keine Energie mehr stiehlt. Er weiß, dass er es kann: Er hat die Tausenden von Runden auf dem schnellen Parkett der Radbahn im schweizerischen Grenchen genauso überlebt wie die 90 Stunden mit ein paar kurzen Powernaps beim RAA oder die 190 Stunden mit ein paar kurzen Powernaps mehr beim RAAM.

Natürlich ist das, was auf ihn zukommt, die größte Herausforderung nach dem RAAM 2009, und vielleicht rangiert das Vorhaben »1000/24« in dieser Hinsicht sogar eine kleine Stufe darüber. Anders als bei den 5.000 Kilometern von West- zur Ostküste kann er beim perfekten Tag nur auf die eigenen Erfahrungen zurückgreifen und deklariert sich als Erster. Sein Bekenntnis, dass es machbar wäre, liegt nahe, denn im Moment gibt er den Ton an, doch es wäre überheblich, an mehr zu glauben als an den beherzten Versuch. Der Mentalcoach würde sagen: »Du schaffst es«, der Realist eher nachdenklich schweigen. Christoph steht zwischen beiden und soll umsetzen, was sich am besten mit der Erstbesteigung eines schwierigen Gipfels im Nebel vergleichen lässt. Hinzu kommen die Nachrichten von der Corona-Front, die in diesem Monat schon die Erschwernisse der nächsten und die völlige Unplanbarkeit der weiteren Zukunft erahnen lassen.

Das Geschichtenerzählen liegt auf Eis, viele Veranstalter schon längst am Boden. Wer wird sich das in Zukunft noch antun, mit all den Regeln und Konzepten und der unklaren Aussicht? Christoph kommt zugute, dass seine Sponsoren zu ihm stehen und er nicht viel braucht, dank seines genügsamen Lebensstils. Das geringe Einkommen seit Jahresbeginn vermag ihm noch keine ernsthaften Sorgen zu bereiten, doch das Durchstarten wird in der wirtschaftlichen Schockstarre nicht unbedingt leichter von der Hand gehen. Er freut sich, dass bald wieder ein kleiner Auftritt stattfinden darf und darüber, dass die meisten Gäste sich von den Schutzbestimmungen nicht abhalten lassen. Einer schreibt, er würde selbst im Ganzkörperanzug erscheinen; ein lustig gemeinter Gedanke, den die sich überschlagenden Ereignisse längst nicht mehr realitätsfern erscheinen lassen.

»Der wirtschaftliche Verlust durch die entfallenen Vorträge ist natürlich spürbar, aber da durch die Pandemie auch die kostspieligen Rennen ausfielen, war auch kein großes Budget nötig und somit blieben die finanziellen Einbußen verkraftbar. Was mir aber tatsächlich immer mehr fehlt, ist der Austausch mit den Leuten, die ich bei meinen Auftritten treffe. Das Gefühl, wenn man Leute erreicht und mit seiner Geschichte ein Stück weit ermutigt oder zumindest zum Lachen bringt und für einen Abend gut unterhält. Mittlerweile fühle ich mich bei Vorträgen sehr wohl und genieße sie. Dabei geht es mir nicht in erster Linie darum, über meine Leistungen zu berichten, sondern vielmehr zu zeigen, dass gewöhnliche Menschen Außergewöhnliches schaffen können, wenn sie ihr Bestes geben und Leute um sich haben, mit denen sie an gemeinsamen Zielen arbeiten können. So wie ich mit meinem Team.«

Jeder Vortrag ist also mehr als eine Einbahnstraße: Was an Emotionen raus ans Publikum geht, kommt postwendend in positive Energie umgewandelt zurück. Dass diese Verbindung gekappt ist, hinterlässt nun ihre Spuren. »Schützt euch«, lautet die Botschaft in Dauerschleife und: »Übt euch in Verzicht«. Das betrifft auch jenen an Inspiration und intensivem Kopfkino, wie Christoph Strasser es bei seinen Aufritten in mucksmäuschenstillen Sälen in die Vorstellung seiner Zuhörer zu projizieren vermag. Doch wie lange wird das gut gehen, als Dauerzustand ohne die Inspiration als Licht am Horizont? Und immer wieder die Frage: Was tun, wenn Corona bleibt und in Colorado die Lichter nicht wieder angehen, vor dem nächsten Herbst? Die Weichenstellung muss jetzt stattfinden oder jedenfalls bald, und von bald spricht in den Medien kaum mehr jemand, in den Prognosen um das allgegenwärtige Virus mit seinen gleichermaßen unschönen wie mannigfaltigen Auswirkungen. Wenn, dann liest man von Schüssen ins Blaue und fragt sich als Einzelunternehmer seiner Art, wie darauf zu reagieren und was eigentlich noch selbst zu bestimmen ist. Die einfache Antwort: weniger, als einem lieb sein kann.

Über die schon verlorene Organisationszeit, sollte es doch glimpflicher ausgehen als befürchtet und das neue Jahr nach den Maßstäben der vorangegangenen abgerechnet werden, macht Christoph sich noch keine Gedanken, ebenso wenig wie um die noch düstereren Szenarien. Er zählt die Male am Berg und achtet darauf, wie nach jedem Mal die Muskelschmerzen vom Bergabgehen der Anpassung weichen. Er kann sich, wie zu Beginn seiner Karriere, über jeden dieser kleinen Fortschritte genauso freuen wie über ein großes Ergebnis. Er wünscht sich, für sich und alle, dass es wieder so wird wie vor der Krise und das lieber früher als später, doch an den eigenen Anforderungen an sich selbst ändert auch die merkwürdige Zeit, in der sich die ganze Welt fassungslos um Rat fragt, soweit nichts. Selbst in einer Phase der Saison, die dafür prädestiniert wäre, erlaubt sich Christoph Strasser nicht einen Durchhänger.

Im Laufe seiner Karriere hat er festgestellt, dass die Karotte namens planloses Nichtstun zwar im Rennen vor der Nase baumelnd hilft, jedoch, sobald man sie erreicht hat, bitterer mundet als acht Tage Flüssignahrung mit Waldbeergeschmack. Er wird bald wieder mehr tun und das sogar früher, als sein Trainer es von ihm verlangen würde. Es ist die Bewegung und nicht der Stillstand, die sich gut anfühlt. Er hat eingesehen, dass er nicht den Hedonisten zu spielen braucht, um sich für die neue Saison zu wappnen. Schon längst tüftelt er am Überqueren der Latte, die diesmal womöglich höher liegt als je zuvor.

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag

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