Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 43
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PLANUNG
77. In Worten: siebenundsiebzig. Diese Zahl stand damals fett unterstrichen in seinem Kalender, größer geschrieben als jeder Geburts- oder Renntag. Das war im Mai 2013, nur wenige Wochen, bevor Christoph Strasser sich beim RAAM durch sieben Tage und knapp 23 Stunden nahe am Optimum in seinem Sport unsterblich machte. Ein paar Kalenderblätter davor konnte man die 78 ausmachen, wieder ein paar davor die 79, und so weiter, bis hinauf zur 82, für die man weit nach hinten in das Vorjahr blättern musste und die längst keine Rolle mehr spielte zum Zeitpunkt seines scheinbar unerwarteten Erfolgs im Duell gegen Reto Schoch, den quirligen Überflieger aus der Schweiz. Natürlich hatte die Zahl mit dem einen Rennen, für das seinerzeit alles perfekt sein musste, mehr zu tun als eine nur zufällige Ähnlichkeit mit seiner ewigen RAAM-Startnummer 377. Christoph wusste, dass diese 77 ein Erfolgsfaktor sein würde, schon bevor der erste Leistungstest im Frühjahr auf dem Plan stand. Er musste die Wärmeableitung verbessern, die Effizienz am Berg steigern und den Luftwiderstand verringern. Diese Zahl hatte etliche Dimensionen und war in vielerlei Hinsicht enorm wichtig, also musste die 77 unbedingt her, auf Biegen und Brechen, neben den besten Beinen seiner Karriere, einem noch etwas besseren Ernährungskonzept, einer Lösung für das Problem mit den Wassereinlagerungen und unzähligen anderen, im Einzelnen kleinen, in Summe riesengroßen Anpassungen des Gesamtsystems bestehend aus einem Radfahrer und elf Adjutanten in drei Begleitfahrzeugen.
Die 77: sein Körpergewicht zum Renntag. Die 82: sein Körpergewicht zum Start der Vorbereitung. Das Wissen: Die 77 würde eine abgespeckte Silhouette bedeuten – weniger Querschnitt gleich weniger Angriffsfläche für den bremsenden Fahrtwind. Sein Körper würde die Wärme aus dem Kern seines Körpers leichter abstrahlen und die Kühlung durch den verdunstenden Schweiß sein Inneres leichter erreichen können, wie auch immer das physikalisch im Detail funktionierte. Der abgeworfene Ballast würde, sofern er die Leistungswerte würde halten können, ganz automatisch Minuten oder Stunden bringen, vor allem in den Rocky Mountains, und, für den Fall, dass es dort wieder zum Infight mit dem Angstgegner aus der Schweiz kommen würde, definitiv in den steilen Anstiegen der Appalachen.
Den Angstgegner hatte Christoph in den Monaten der Vorbereitung gedanklich auf stumm geschaltet, und dennoch lief dieser Stummfilm in dieser Zeit permanent im Hintergrund, nicht als Ablenkung, sondern als Motivation, sich die kleine süße Schwäche, die vermeintlich belanglose Ausnahme, die verdiente Belohnung in der Ruhewoche nach dem harten Trainingsblock trotzdem zu verkneifen, nur für diese Zahl auf einem Kalenderblatt. Hätte er härter gefastet, wäre die 77 früher erreicht und womöglich auch zu unterschreiten gewesen, doch das sah der Plan nicht vor. Es ging nicht um WorldTour-Tuning, wie es die Straßenprofis für eine große Landesrundfahrt betrieben, nicht um Appetitzügler und Kampfdiät, sondern um ein ganzheitlich ausbalanciertes Konzept, dass die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn nicht überschreiten, sondern sich ihr nur annähern durfte, bedächtig und mit Sicherheitspolster, und definitiv erreichbar mit legalen Mitteln. So war es beschlossen und so blieb es die gesamte Vorbereitung hindurch – ein fairer Deal zwischen Trainer und Athlet. Die Aufgabe sollte nicht zur Marter verkommen, sondern kontrollier- und auf Etappen aufteilbar bleiben und letztendlich, selbst mit sichtlich schlankerer Wade, mehr Kraft bringen als kosten.
Das richtige Maß
Der Profisport – und zwar jeder – ist ein heißer Ritt auf der Kante. Ein Schritt zu weit, und man stürzt ab, ein Schritt zu kurz, und dasselbe passiert. Das Letzte, was es braucht, um in diesem Beruf erfolgreich zu sein, ist die Neigung zu Schnellschüssen. Christoph Strasser hat den gleichmäßigen Takt des kontinuierlichen Fortschritts heute ebenso zu akzeptieren wie zu Anfang seiner Karriere. Damals fiel ihm das tatsächlich schwerer und er musste hart an sich arbeiten, um den inneren Zwang zum »Mehr und mehr«, naheliegend im Angesicht der Art von Herausforderungen, denen er sich zu stellen hat, in geordnete Bahnen zu lenken. Er hat ganze Jahre der Ungeduld opfern müssen, wie damals, 2008, als er sich mit 50 Stunden Training pro Woche auf direktem Weg ins Übertraining manövrierte und dabei sein Immunsystem an die Wand fuhr. Wochenlang in Südafrika einkaserniert mit einem Freund, nicht ganz wie eine Mischung aus Mönch und Guerillakämpfer, aber fast. Sechs bis neun Stunden Radfahren, dazu Einheiten in der Kraftkammer, total ermüdet. Die Weinverkostung, der Spaziergang am Tafelberg – das waren die spaßigen Ausnahmen an den wenigen Ruhetagen, auf die dann umso intensivere Einheiten folgten. Ein verhängnisvoller Fall von gut gemeintem, aber fehlgeleitetem Ehrgeiz.
»Beim Trainingslager in Südafrika war ich echt gut drauf, motiviert und voller Energie, damals aber noch ohne Trainingsplan und nur nach eigenen Vorgaben unterwegs. Rückblickend wurde mir später klar, dass ich zu schnell zu viel erreichen wollte. Wie ein richtiger Profi täglich nur zu trainieren, zu essen und zu schlafen, habe ich sehr genossen, dabei aber das richtige Maß aus den Augen verloren. Es gab ansonsten keine Verpflichtungen, die Zeit dort war wirklich ein Traum. Aber nur ein paar Wochen nach meiner Rückkehr war ich sehr krank, hatte einen Lungeninfekt, vielleicht auch aufgrund des abrupten Wechsels vom südafrikanischen Sommer hinein in den österreichischen Winter. Mein Immunsystem war vom übermäßigen Training geschwächt, und das ganze Jahr war dann durchwachsen, auf großartige Leistungen folgten immer wieder Verkühlungen und Einbrüche. Das Auf und Ab hat sich schließlich bis zum RAAM 2009 hingezogen, mit dem Ausscheiden im ersten Anlauf auf mein Traumziel als negativem Höhepunkt. Erst danach verstand ich, dass es einen Profi braucht, der Trainingspläne erstellt. Und dass weniger Trainingsstunden bei höherer Intensität dann echte Fortschritte bringen, aber bei richtiger Dosierung immer noch genügend Zeit zur Regeneration erlauben.«
Wieder konnte er nur auf Umwegen etwas umso Wertvolleres lernen. Gesundes Maßhalten hat ihn seither in jeder Hinsicht zu einem stärkeren und robusteren Athleten gemacht: Das schmerzvolle und völlig unerwartete Ausscheiden beim RAAM 2009 war, im Nachhinein betrachtet, zu einem guten Teil ein paar falsch gedrehten Schräubchen geschuldet, die die ganze Maschinerie – seinen Körper auf dem Leistungshöhepunkt bis dahin – binnen zweier langer Tage des vergeblichen Ankämpfens völlig lahmlegten. Einmal im Gange, kann der Verfall in seinem Sport kaum aufgehalten werden; das ist so und eigentlich gehört er zum Fixprogramm jedes Ultracycling-Rennens, einschließlich der besonders guten. Christoph Strasser musste auf die härteste Tour und mit einem Abzweig auf die Intensivstation in Pratt, Kansas, lernen, dass viel zwar viel hilft, aber nur so lange, bis es vom Heilmittel zum Gift mutiert, und das schneller, als man »Did not finish« sagen kann.
Seither ist er ein Fan von noch genaueren Listen und noch klareren Vorgaben: x Kilokalorien auf y Milliliter pro Stunde, im Vorfeld genau ausgetüftelt und im Ernstfall penibel eingehalten. Christoph wird zum Pedanten, wenn es um Aufzeichnungen und Kalkulationen geht, denn während es im Straßenradsport den Zauber der einen, großartigen und unvorhergesehenen Aktion geben mag, holt einen die gnadenlose Realität über 24 Stunden und mehr so zuverlässig ein wie eine nicht beglichene Steuerschuld. Lückenlos wird im Team Strasser alles dokumentiert, auch im bisweilen vorherrschenden Ausnahmezustand während der schlecht laufenden Nachtschicht oder wenn die Wüstensonne die Gehirne auf Dauergrill brutzelt, was ihn im Ergebnis praktisch zum gläsernen Menschen macht – sowohl für die noch klar denkenden Betreuer während des Rennens als auch für ihn selbst als nüchternen Betrachter und knallharten Analytiker im nächsten Jahr, wenn er darüber brütet, wie er sich noch einmal übertreffen könnte, ohne das Glück überzustrapazieren.
Gänsehaut
Seit Christoph Strasser Ratgeber hat, denen er vertrauen und auf die er Verantwortung übertragen kann, ist es bedeutend leichter geworden. Ein gutes Beispiel dafür präsentiert sich in der Art, wie er 2013 die Vorstellung, das RAAM ließe sich mit einer Zielzeit unter acht Tagen angehen, ganz heimlich und nur für sich aus dem Reich des Unmöglichen ins Denkbare holte, um das Vorhaben schließlich unter realistisch oder gar wahrscheinlich zu verbuchen. Seine Listen – namentlich die Zwischenzeiten von Timestation zu Timestation aus den zwei Jahren zuvor – waren ihm die größte Hilfe dabei. Er bemerkte, dass es genügte, die jeweils besten Etappenzeiten aufzusummieren, und eine bombastische Zeit käme heraus, selbst mit einem gehörigen Sicherheitspolster als Draufgabe. Als der Vorjahressieger Reto Schoch vor dem Start vollmundig ebenfalls eine Zielzeit mit einer sieben vorne verkündete, tippte der Schweizer ins Blaue. Der Rivale glaubte an sich, überschätzte sich mitunter, konnte faktisch jedoch nicht auf eine Planungsgrundlage zurückgreifen, wie sie Christoph längst in petto hatte und die er – das wiederum musste er mit dem Kopf und den Beinen erledigen – knapp eine Woche später auch erfolgreich in eine verblüffende Tatsache verwandelt hatte.
Viele Details mögen ihm dabei in die Karten gespielt und bei der Umsetzung geholfen haben: die drei aktiven RAAM-Sieger am Start, die rekordverdächtigen sieben Österreicher, die sich durchwegs gut verstanden und schon vor dem Start ein leistungsförderndes Klima schufen, indem sie mehrheitlich an einem Strang und auch noch in dieselbe Richtung zogen. Die besonders motivierten Betreuer, die sich gerne an der Schweizer Crew mit dem aus ihrer Sicht liberalen Regelverständnis revanchieren wollten; jeder Einzelne, vom Fotografen bis zum Teamkoch, aus ganz persönlichem Interesse. Den besten Plan allerdings, neben dem zweifellos besten Motor, hatte Christoph, der sich die gemeinen Abschnitte der Strecke im Osten der USA extra noch einmal zu Gemüte geführt hatte, im März, im Graupelschauer, während die anderen auf den Kanaren oder Mallorca die ersten intensiven Sonnenstunden des Jahres aufsogen. Der sich zudem jede einzelne Timestation auf dem Ergometer im Zeitraffer angesehen hatte, dann auf Google Maps, dann wieder im aufgezeichneten Bild, bis er so tief in den Empfindungen des kommenden Rennens steckte, dass sich sein Puls beschleunigte und die aufkommende Gänsehaut ihm bestätigte, wie bereit er sich fühlte.