Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 23
Demütige Analyse
ОглавлениеEin RAAM ist kein Zuckerschlecken und diese Dinge passieren – doch das Thema Vertrauen sollte Christoph Strasser noch länger begleiten. Als er im Jahr darauf aufgrund eines verhängnisvollen Trainingsunfalls samt schleppender Genesung erneut nicht starten konnte, musste er sowohl an seinen Körper als auch an ein Team glauben, das trotz der langen Pause wieder für ihn da sein würde. Und daran, dass die vermeintliche Pleite auch ihr Gutes haben würde.
»Nach dem Ausscheiden von 2015 wurden wir zur demütigen Analyse unserer Gesamtleistung und aller Fehler gezwungen, und das war für den jungen Teamchef Kougi, genauso wie für mich, eine immens wichtige Lernerfahrung. In der Fehlersuche erkannten wir viele Mechanismen, auch in meiner Physis. Mein begleitender Arzt Arnold erkannte beispielsweise gemeinsam mit Rainer, dass durch die Hitze und die zu hoch dosierte Flüssigkeitszufuhr die Ödembildung zuerst in den Beinen, danach im restlichen Körper, zuletzt in der Lunge, massiv begünstigt wurde. Diese Erkenntnisse von damals helfen mir bis heute enorm und kamen erst durch diese bittere Erfahrung zustande.«
Erneut kam seine große Stärke zum Tragen, denn an keinem Punkt zweifelte er an einer der beiden Tatsachen. Mit seinem Cousin Michael Kogler – im RAAM-Modus nur »Kougi« genannt – wuchs trotz des holprigen Starts allmählich ein neuer Anführer, in dessen Hände er das Gelingen großer Herausforderungen legen konnte. Das Rezept bewährte sich und brachte schließlich zahlreiche Rekorde und drei weitere RAAM-Siege in Folge; bis eben, in diesem merkwürdigen, von Ausgangsbeschränkungen und Rennabsagen geprägten Jahr 2020, in dem ohnehin alles anders sein sollte, auch diese Serie endete.
Das RAA mit seinen 2.200 Kilometern zu bestreiten, liegt in Christoph Strassers Komfortzone, doch ungewollte Änderungen im Team machen es nicht einfacher. Er hätte tatsächlich verlieren können, und vielleicht wäre das auch gar nicht schlimm gewesen, jedenfalls nicht gegen diesen Gegner. Mehr noch als jedes klar gewonnene Rennen gibt ihm dieses knappe Ergebnis, das Kratzen an seinem Thron, Vertrauen in die eigene Stärke und daran, dass alles wieder so werden wird wie vor der Zwangspause. Zum Glück konnten die kleinen Steinchen im Getriebe des diesmal von Florian Kraschitzer geführten Teams seiner Form nicht gefährlich werden, und darum – so einfach ist die Logik des Spitzensports – gibt es wenig zu beanstanden nach dem Saisonhöhepunkt. Wieder einmal kehrt er mit einem neuen Rekord auf der Habenseite heim.
Was aber nun als Nächstes ansteht, kommt dem perfekten Tag, den er anstrebt, auf den er sich aber noch nicht hinzufiebern gestattet, deutlich näher als das mehrtägige Rundherum einmal ums komplette Heimatland: Die 600 Kilometer des Race Around Niederösterreich (RAN) kann Christoph, wenn alles gutgeht, ohne ernsthaften Leistungseinbruch abspulen. Wieder geht es um Vertrauen. In diesem Fall um Vertrauen in die Zahlen, die er sich im Training erarbeitet hat und die er sich, unbedingt, zutraut, ganz nüchtern und ohne Großtuerei. Diese Zahlen – seine Tretleistung in Watt – lassen sich in Durchschnittsgeschwindigkeiten umrechnen, diese wiederum in Zwischenzeiten, bis sich alles zu einem Marschplan fügt, der ihn wieder von allen anderen abheben dürfte, wenn es denn so kommen soll. Christoph hält sich nicht mit alternativen Szenarien auf und nimmt sich vor, anzunehmen, was immer ihm die Strecke – voraussichtlich sein größter Gegner beim RAN – auch servieren möge. Eine lange Herbstnacht und die dementsprechenden Temperaturen. Den Wildwechsel im dünn besiedelten, nördlichen Niederösterreich. Die unberechenbaren Autofahrer überall, wo mehr los ist. Und: auch den neu aufgegangenen Stern, der ihm erst vor ein paar Wochen beim RAA über fast vier Tage auf den Fersen zu bleiben vermochte – vielleicht ist ja doch Robert Müller sein größter Gegner? Das alles sind Fakten und Gedanken, die bei ihm nicht den kleinsten Zweifel an den eigenen Fähigkeiten auslösen. Wenn schon, machen sie ihn ruhiger und besonnener, sein Training härter und zielgerichteter. Wie denkt der andere über ihn? Wie wird er sich vorbereiten? Christoph Strasser freut sich, das auf die harte Tour herauszufinden, auch wenn er als Profi vom umkämpften Erfolg nicht mehr hat als vom gegen schwächere Konkurrenz eingefahrenen.