Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 22
Devise Angriff
ОглавлениеIm Ziel des RAA 2020 ist Christoph Strassers Vorsprung auf den Rookie Robert Müller letztlich groß genug, um seiner Souveränität keinen Abbruch zu tun. Den Nimbus des Unschlagbaren nimmt er einmal mehr mit nach Hause – nur er weiß, wie knapp es wirklich war.
Im Training begleitet ihn die ambivalente Hoffnung, dass sich solche Duelle wiederholen mögen. Was nicht heißt, dass er vorhat, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Das hat er in sich, und das war die Bedingung, damals, als der Langstreckenguru Rainer Hochgatterer, der RAAM-Doktor von Wolfgang Fasching, sich 2011 bereiterklärte, sein Team zu leiten: Wie ein Champion solle Christoph fahren, das sei das Einzige, was zähle, und das Mindeste, was er sich selbst schuldig sei. Nach zwei katastrophalen Nullnummern beim RAAM 2009 und beim RAA 2010, das Selbstvertrauen am Boden, das Konto leergeräumt, lautete Rainers Devise dennoch Angriff: Die Wattvorgabe für die ersten Stunden, in denen er den Gegnern zeigen sollte, dass der Sieg nur über ihn gehen konnte, schien für Außenstehende selbstzerstörerisch, doch der wohlüberlegte Plan ging auf. Vertrauen wuchs und wurde bestätigt, kontinuierlich und das jahrelang, trotz kleiner und großer Rückschläge, die in fulminanten Comebacks mündeten. Der Teamchef Rainer wurde zum Freund und zur ersten Bezugsperson in jedem Rennen, immerhin bündelte er medizinisches und renntaktisches Wissen mit dem Selbstvertrauen zahlreicher erfolgreicher Betreuungen von Spitzenfahrern. Wie kaum ein anderer Betreuer in der Langstreckenszene verstand er, seinem Fahrer das Gefühl der Unbezwingbarkeit mitzugeben. Und zu jedem Aspekt oder Mythos des Sports hatte er eine trockene und treffende Meinung, der man sich nur schwer entziehen konnte.
»Wenn die Diskussion aufkam, was wichtiger ist, Körper oder Geist, brachte es Rainer folgendermaßen auf den Punkt: Dein Kopf sagt dir, warum du fährst und ob du weiterfährst. Du musst wissen, wieso du dir das antust. Aber deine Beine entscheiden, wie schnell du bist. Geht es um ein Finish in der Karenzzeit, was für viele Teilnehmer auf der Langstrecke das allergrößte Ziel ist, kann der Geist tatsächlich die größere Rolle spielen. Wenn es körperlich sehr hart wird, wird der Kopf immer wichtiger, und zwölf Tage unterwegs zu sein, ist psychisch definitiv härter als acht intensivere Tage, ermöglicht durch eine ganzjährig professionelle Vorbereitung. Ich leide in der Vorbereitung also sicher mehr als andere, dafür läuft es im Rennen schneller und geschmeidiger. Trotzdem: Ob es dir nun körperlich oder mental schlecht geht oder sowohl als auch – in jeder Krise kann dir dein Team helfen. Die Moral, der Spaß, die gute Stimmung, die zwischenmenschliche Verbundenheit innerhalb meiner Truppe – all das hilft mir enorm. Wenn ich selbst verzweifelt bin, aber in die Augen meiner Betreuer schaue und merke, dass alle das Beste für mich wollen, finde ich wieder neue Kraft. Und das Vertrauen zum Team und allen voran zum Teamchef, der mir im Hintergrund alle Entscheidungen abnimmt, der der sichere Dirigent des RAAM-Orchesters ist, vorausschauend und je nach Situation mitfühlend oder mit gut gemeinter Strenge agiert, ist dann der letzte, wichtigste Faktor, wenn es hart auf hart kommt. Dieser Spirit in unserer Crew ist mein größtes Kapital und etwas, das sich neben der besten körperlichen Vorbereitung während der Zeit mit Rainer etabliert hat.«
Im Fall von Christoph Strasser fiel die Betreuung durch Rainer Hochgatterer, den vielleicht erfahrensten unter den nicht-selbst-fahrenden Pionieren der Ultradistanz in Österreich, auf den denkbar fruchtbarsten Boden. Gerade er, der ruhige und bescheidene Harmoniemensch, konnte sich dem Alphatier und seinem Gefolge uneingeschränkt anvertrauen und aus einer vermeintlichen Schwäche – vielen schien er neben der Urgewalt Jure Robič zu brav – seine größte Stärke entwickeln. Christoph kann seit jeher vertrauen und daher war Abhängigkeit nie ein Problem. Erst 2015 wurde sie ihm einmal unverhofft zum Verhängnis: Als Rainer ihm seine Entscheidung, die RAAM-Pause, vielleicht gar den endgültigen Abschied, eröffnete, wurde er jäh gezwungen, darüber nachzudenken. Ein RAAM ohne den Strippenzieher? Ohne die Gewissheit, auf jedes Wehwehchen die richtige Antwort parat und in jeder Krise das richtige Wort im Ohr zu haben? Insgeheim wusste Christoph, was ihm bevorstehen konnte, falls es nicht optimal laufen würde, doch sein Selbstbewusstsein machte ihn unvorsichtig und er wischte den Gedanken beiseite, anstatt ihn tiefer zu erforschen. Auf dem Cuchara-Pass, als alles zusammenbrach, dämmerte ihm sein Fehler. Nicht, dass sein Team schlecht gewesen wäre, doch die vielen kleinen Abstimmungsprobleme zusammen mit seinem dysfunktionalen Körper, der Wasser einlagerte wie ein Schwamm, ließen letztlich einen Schneeball zur Lawine anwachsen, die ihn vom Leaderboard fegte.
In seinen Vorträgen beginnt Christoph Strasser den Rückblick auf diese schwere Zeit gerne mit einem sinngemäßen Zitat von Bill Gates. »Erfolg ist ein schlechter Lehrer, denn irgendwann vergisst man, dass man auch verlieren kann.« Er spielt damit auf die sich aus zwei aufeinanderfolgenden RAAM-Rekorden unter acht Tagen, einem damaligen 24-Stunden-Zeitfahrrekord sowie seinem ersten Sieg beim RAA speisende, menschlich nur allzu verständliche Überzeugung an, ein weiteres RAAM wohl gesund und ohne große Probleme überstehen zu können.
»Für das RAAM 2015 dachten wir fieberhaft über Verbesserungen und eine schnelle Endzeit nach und stellten uns auf das Duell mit Severin Zotter ein. Aber wir vernachlässigten das Worst-Case-Szenario eines massiven körperlichen Problems. Die Vorgabe muss immer sein, gesund ins Ziel zu kommen, was wir – vermutlich unterbewusst – als zu selbstverständlich ansahen. Natürlich hatten wir einen Plan B wie üblich, aber der war nicht zu einhundert Prozent in uns und unserem Tun verankert.«