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Die Frage nach dem Warum

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Christoph hat im Ultracycling viele kommen und gehen sehen – darunter kleine und übergroße Egos – und nie gezögert, sich mit ihnen allen zu messen. Letztendlich hat er seine Gegner und die nächste Bestzeit aber immer auch dazu benutzt, sein eigenes Bleiben zu rechtfertigen. Wieso das RAAM sieben-, acht-, neunmal fahren, wenn nicht um Rekorde aufzustellen? Um zu beweisen, dass man Gewinner, sogar Champions schlagen kann, und schließlich selbst dazu zu werden? Er ist einer von wenigen in seinem Sport, die überall zu dominieren vermochten – auf der langen, der mittleren und der kurzen Distanz, mit und ohne Höhenmeter, in der Hitze wie in der Kälte. Er hat sich die Schwächen – auf dem Rad und in allen anderen Belangen seines Berufs – abgewöhnt und ist dabei trotzdem, in den wichtigen Dingen, stets derselbe Mensch geblieben.

Die Antwort, die er sich selbst jedes Jahr auf die Frage nach dem Warum gibt, ist einfacher geworden: weil er es liebt und weil er es am besten kann. Die Frage nach dem Warum an jedem einzelnen Tag, im Keller, beim stundenlangen Grundlagentraining, ist eine andere Geschichte. Darum kostet er hier auch die letzte Stunde, in der es – natürlich – auch an seine Substanz geht, aus und schenkt sich nichts. Er will den Wagen mit leerem Tank abstellen. Das ist immer seine Vorgabe, und zu 98 Prozent wird er ihr an diesem Tag gerecht. Eigentlich fährt er auch dieses Mal mit hundertprozentiger Hingabe, aber mit Köpfchen, mit einem Tropfen auf Reserve, klugerweise ob der unbekannten Streckenführung im letzten Abschnitt. Christoph weiß, dass, wenn es zählt, er sich immer auf sich verlassen kann. Daran hat er gearbeitet und alle versteckten physischen und mentalen Reserven ausgehoben, sie offengelegt und nutzbar gemacht. Davon lebt er gut und dafür lebt er zu intensiv, als dass ein Ende vorstellbar wäre. Für seinen Freund Florian bedeutet die Schlussphase des RAN, das Beste aus dem Wenigen zu machen, das noch übrig ist; währenddessen versucht Christoph im Gegenteil, so wenig wie möglich übrig zu lassen – denn wofür auch, wenn die Saison hier und an diesem Tag in Ungewissheit endet?

In normalen Jahren gäbe es noch die Gelegenheit, im radsporttechnisch eigentlich ruhigen November bei der Weltmeisterschaft im 24-Stunden-Einzelzeitfahren einen goldenen Schlussstrich unter die Bilanz einer langen Saison zu setzen. Das hat er in den letzten Jahren ein paar Mal gemacht, ist in die Wüste gefahren – nach Borrego Springs, in seine ganz persönliche Ultracycling-Oase – und hat sich dort über den Hochgeschwindigkeitskurs hergemacht, als stünde es eins zu null für den Gegner und er in vollem Saft. Danach war wirklich Schicht im Schacht, und er konnte sich in der Saisonpause guten Gewissens zurücklehnen. Dieses Jahr ist anders. Auch wenn das lange Rennen um Österreich und das kürzere um Niederösterreich gemeinsam letztendlich doch ein forderndes und attraktives Ersatzprogramm formten, fühlte sich bisher alles ein wenig nach holprigem Mittelweg an. Absagen, verfrühte Zusagen, Modifikationen und abgespeckte Versionen, die mit dem Original kaum mehr etwas zu tun haben – der Rennkalender kommt auch in der Spätsaison nicht zur Ruhe. Die Einzelzeitfahr-WM soll es auch in diesem Jahr geben, allerdings nur mit Livestream und allerlei Online-Klimbim. Ein Strohhalm in der Krise, und doch nur eine unwirkliche, hoffentlich schnell vergessene Episode, sobald alles wieder Fahrt aufnehmen kann.

Auf den allerletzten Kilometern seines letzten Saisonrennens herrscht absolute Ruhe. Er hat vor allem sich selbst bewiesen: Was er vorhat, ist möglich. Die Zerstreuung der kommenden Wochen wird ihm helfen, das noch klarer zu sehen. Sie wird ihn die Energie tanken lassen, die er dringend benötigt, sobald es mit der Vorbereitung konkreter wird. Alles ist eine nicht endende Aneinanderreihung von Wellengipfeln und -tälern, und er wird, in ziemlich genau einem Jahr, den höchsten dieser Gipfel erklommen haben. Daran zweifelt der innere Mentaltrainer Christoph Strasser keine Sekunde, und der Athlet Christoph Strasser, der es umzusetzen hat und dafür den nagenden Zweifel braucht, möchte ihm glauben.

Erst einmal ist es aber die letzte Ziellinie im Jahr 2020, die er unter dem Jubel seiner Betreuer und der wenigen Zaungäste überquert. Beide – er, und der Freund, der acht Stunden später durchfährt – fühlen sich verbunden durch die Intensität dieses langen Arbeitstages. Doch während Florian am nächsten Morgen nicht aus dem Bett kommen und die Beine noch wochenlang spüren wird, als liebevoll schmerzliche Erinnerung an das Erreichte, sind Christophs Folgetage die Routine des Profis. Den Erfolg kommunizieren, regenerieren, sich mit dem Training der Übergangszeit bis in die Saisonpause beschäftigen. Der Rauschzustand der ersten Zieleinfahrten seiner Karriere stellt sich längst nicht mehr ein, denn der Höhepunkt ist für ihn, heute mehr denn je, der Kraftakt selbst.

Ruhig sitzt er im Doppelbüro, das er sich mit seiner Lebensgefährtin Sabine teilt, analysiert und erledigt das Tagesgeschäft. Er denkt zurück an den neuen Konkurrenten, der ihm zweimal nahekam, hofft auf weitere Begegnungen mit dem Gleichgesinnten, trinkt den einen oder anderen Kaffee mehr vor dem Training, lässt kleine Schwächen durchgehen und fühlt sich gut dabei. Der unbändige Wille darf jetzt ein paar Monate ruhen, während der Neustart sich praktisch von selbst inszeniert. Spannung darf in seinem Metier kein Dauerzustand sein, das hat Christoph Strasser begriffen. Er muss so viel dafür tun, was ihn ausmacht, und gleichzeitig geht es ihm so selbstverständlich von der Hand. Es ist, wie es ist – schlicht das Leben seiner Wahl.

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag

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