Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 27
ОглавлениеUnd dazu kommt noch eine ganz andere Überlegung:
»Ich selbst versuche mir die Gegner manchmal sogar absichtlich stärker zu reden, um die Siegerwartung ja nicht zu groß werden zu lassen. Umso stärker die Gegner sind, umso fokussierter bin auch ich – ich kann zwar auch eine Woche alleine quer durch Australien Gasgeben, aber das letzte Prozent geht meist nur dann, wenn es starke Gegner und Druck von hinten gibt. Daher hüte ich mich, die Chancen der Gegner schlecht einzuschätzen.«
Kein Spaß
Am Vorabend des Rennens ist Christoph Strasser unwiderstehlich ruhig. Selbst vor den größten Herausforderungen stellt er nichts in Frage, wieso sollte es dieses Mal also anders sein? Beim RAAM – seinem Höhepunkt in den meisten Jahren – gibt es nur eine Phase, die in ihm Stress erzeugt. Das Zusammenpacken vor dem Abflug droht ihn ein ums andere Mal aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn dann alles bereit ist, ist auch er es, und sein analytischer Verstand käme nicht darauf, unnötige Fragen zu stellen.
Die Aufgabe, die bevorsteht, scheint ein kleiner Wurf zu sein für seine Verhältnisse; und gerade hier liegt die Täuschung, denn je kürzer die Strecke desto höher der geforderte Grad an Präzision. Dennoch denkt Christoph an nichts anderes als das Gelingen, schläft wie ein Baby und erwacht am Rennmorgen wie an jedem anderen. Bei einem Wettkampf wie dem RAN spielt Schlafentzug keine Rolle, doch selbst wenn, wäre er nicht derjenige, der aus hysterischer Angst vor den Konsequenzen einer zu kurzen Nacht als Erstes im Bett läge. Er ist rational genug, um zu wissen, dass es nichts zu konservieren gibt in diesem Sport, dass der Verfall kommt und gerade dann, wenn man ihn fürchtet, besonders wehtut. Er hat unerschütterliches Urvertrauen. Er ist darauf vorbereitet, aus sich herauszugehen, wenn er muss, und auch dann zu Ende zu fahren, wenn es keinen Spaß mehr macht.
An diesem Abend macht es nicht einmal besonderen Spaß, loszufahren. Der späte Start passt nicht zur Jahreszeit, und die Muskulatur spricht sich gegen die Belastung aus. Christoph kennt weit Schlimmeres, also hämmert er, ohne viel zu hadern, mit knapp vierzig Kilometern pro Stunde durch das nördliche Niederösterreich, wie auf der Flucht vor den Temperaturen, die ihm unweigerlich noch bevorstehen in dieser Septembernacht. Der Windchill senkt die gefühlte Temperatur schnell unter den Nullpunkt.
Früher hat Christoph im Winter oft bei weit kälteren Temperaturen den ganzen Tag draußen trainiert, bis er beim Heimkommen seine Finger nicht dazu bewegen konnte, den Reißverschluss seiner Thermojacke aufzuziehen. Manchmal musste er sich dann in voller Montur unter die Dusche stellen, bis die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. So wie die Bergsteiger im Himalaya hätte er einmal beinahe Erfrierungen an den Zehen davongetragen – als einsamer Radfahrer in der Südsteiermark nicht gerade heldenhaft. Mittlerweile sitzt er nach einigen Stürzen und ebenso vielen virtuellen Erdumrundungen in der kalten Jahreszeit lieber im Keller auf seinem Heimtrainer, unter kontrollierten Bedingungen, die die Härte seines Trainings von den äußeren Bedingungen entkoppeln. Das ist eine von zahllosen kleinen Verbesserungen, die sein Leistungsniveau weniger absinken und den Aufbau schneller voranschreiten lassen, so dass seine Saison heute viele Spitzen verträgt. Auch wenn er sich im Training die Kälte aus pragmatischen Gründen nicht mehr antut, erträgt er sie jetzt im Rennen wie eh und je. Nicht nur, weil das sein Beruf ist, sondern weil er nicht nach Gründen sucht, wieso es anders sein sollte.
»Training soll ja auch Spaß machen. Ich bin so oft bei Kälte und schlechtem Wetter draußen gefahren, ich möchte einfach nicht mehr alleine bei Sauwetter trainieren, nur um mir meine Härte oder sonst was zu beweisen. Und nein, es ist für mich im Vergleich zum Training auf der Rolle auch nicht spannender, die immer gleichen Trainingsrunden im Freien abzustrampeln, besonders wenn Wetter und Aussicht nichts hergeben. Drinnen kann ich nebenbei fernsehen, Musik hören, meine Idole aus dem Tennis bei den Australian Open bewundern, meine Mails bearbeiten oder mich per Telefon oder Laptop um organisatorische Dinge kümmern, damit der Abend frei bleibt. Dazu gibt es Essen und Trinken zu jeder Zeit. Und das Beste: Ich bin deshalb kein schlechterer Radfahrer bei schlechtem Wetter. Wenn es sein muss, kann ich bei Regen und Kälte fahren, aber ich mache mir das Training so angenehm und nicht unnötigerweise so hart wie möglich.«
Beinahe ein Sprint
Die ersten Stunden, in denen sich der Organismus auf die nicht enden wollende Belastung einstellt, sind vergangen und der Systemcheck sagt ihm, dass alles in Ordnung ist. Er konzentriert sich auf Treten, Trinken und den Leistungswert auf seinem Display – Letzteres nur aus Gewohnheit, denn sein Muskelgedächtnis lässt ihn die Zahl spüren, auch ohne sie vor sich zu sehen. Erst in einem anderen Stadium, wenn sein Geist beginnt, ihm Streiche zu spielen, entkoppelt sich die wahrgenommene von der tatsächlichen Wahrheit. In diesen Zustand wird er hier nicht kommen, dafür reichen 600 Kilometer nicht aus. Hier macht das Tempo die Musik, ein Rennen dieser Kategorie ist in seiner Wahrnehmung beinahe ein Sprint. Fehler zu vermeiden, ist entscheidend, es herrscht pure Rennstimmung und meist härtere Konkurrenz. Richtig hart wird es erst nach frühestens zwölf bis fünfzehn Stunden, aber dann ist die verbleibende Distanz längst zu kurz, um ihn mental ernsthaft zu fordern. Es wird Teilnehmer geben, die einen halben Tag länger brauchen werden, und für die wird es sich anders anfühlen. Für Christoph ist ein Rennen wie dieses rein körperlich eine Herausforderung und eine nüchterne Zahlenspielerei, wenn es läuft wie immer.
Im Mittelteil läuft es diesmal sogar besser, wenn das noch möglich ist. Dass das genau dem entspricht, was von ihm erwartet wird, ist die Tragik des ewigen Siegers. Wer am nächsten Morgen in den Niederösterreichischen Nachrichten, der Kleinen Zeitung oder sonst wo von seinem Rekordsieg liest, wird sich nicht am Kaffee die Zunge verbrennen, so vorhersehbar ist, was kommt. Die einzigen Fragen, die aufhorchen lassen: Wie viel schneller als der nächste Verfolger war er diesmal, und wurde ein Rekord gebrochen?
Christoph Strasser düpiert seine Konkurrenten, viele davon sind immerhin gute Bekannte oder Freunde, nicht gerne, und wenn das Rennen ausgefahren ist, findet man ihn unter den Ruhigeren. Aber wenn dann nicht eine anständige Packung zu Buche steht, rauscht nichts oder zumindest kaum etwas im Blätterwald. Er selbst gewinnt lieber knapp nach einem harten Duell als einsam an der Spitze. Auf dieser Strecke, den knapp 600 Kilometern rund um Niederösterreich, wird es nur eine Stunde Vorsprung sein; quer durch Amerika von Ost nach West, wo seine Stärken kumulieren, waren es schon eineinhalb Tage. Das lässt die hinter ihm blass aussehen, dabei ist es nicht ihre Schuld und auch nicht ihr Unvermögen, sondern seine Eigenschaft, alles, was dieser Sport von einem Athleten verlangt, in einer Person zu bündeln. Er aber verneint weiterhin hartnäckig ein ganz besonderes, herausstechendes Talent für die Langstrecke.
»Mir fällt auf, dass die äußere Wahrnehmung meiner Ergebnisse und Leistungen sich sehr oft auf den aktuellsten Zeitraum, die vergangenen paar Jahre, beschränkt. Das mag zugegebenermaßen für den Neuling oder Quereinsteiger einschüchternd wirken. Aber viele sehen nicht, wie lange ich den Sport schon mit vollem Ernst und Hingabe betreibe. Seit mittlerweile gut 15 Jahren trainiere ich diese hohen Umfänge, da gab es kein Jahr mit weniger als tausend Stunden Trainingszeit. Und die stärkste Phase meiner Karriere hat erst nach etwa acht Jahren begonnen. Kontinuität und Geduld sind also enorm wichtig, um sein bestmögliches Level erreichen zu können. Viele wollen nach kurzer Zeit schon an der Spitze mitfahren und sind dann enttäuscht, wenn das nicht klappt. Ich wehre mich dagegen, als Übermensch gesehen zu werden. Ich bin sicherlich übermäßig geduldig und fleißig in der Vorbereitung, habe gute körperliche Voraussetzungen, aber trotzdem ist alles ein Ergebnis von viel investierter Arbeit und Zeit. Und von großer Leidenschaft, denn ich liebe den Radsport wirklich, habe immer noch viel Freude in mir. Sonst würde ich das nötige Training nicht durchziehen können. Es gibt auch Fahrer, die vorübergehend schneller fahren oder weniger pausieren – aber immer auf Kosten des jeweils anderen Faktors.«
Wie auch immer er es macht: Keiner im Ultracycling hält dieses Tempo länger durch, bei ähnlich kurzer Stehzeit. Es stimmt nicht, dass seine Art des Radfahrens langsam ist – deshalb auch die Faszination der perfekten 24 Stunden. Ein Tag, das ist vermittelbar. Nicht zufällig gibt es immer mehr Rundenrennen über 24 Stunden, aber auch Distanzrennen wie dieses, die man – auch als Hobbyfahrer im Mittelfeld – ohne Schlaf bewältigen kann, während die Zahl an ganz großen Brocken nach RAAM-Vorbild eher stagniert. Bei einem Wettkampf wie dem RAN nimmt, normalerweise, die mentale Komponente noch nicht überhand, jedenfalls auf seinem Niveau. Er kann aufs Prozent genau vorhersagen, wie viel er zu leisten imstande ist, und sie können es nachvollziehen und staunen, wie nahe das an ihre eigene Maximalleistung herankommt – oder diese womöglich deutlich übersteigt.
Natürlich ließe sich das auch gut verkaufen; er tut es aber, wie alle Champions, nicht deshalb. Es geht nicht darum, es der versammelten Ultracycling-Szene zu beweisen. Entscheidender ist, es sich, seinem Trainer und den engsten Vertrauten zu zeigen. Er kennt sich gut, aber wozu er an einem perfekten Tag in der Lage ist, nach einem Jahr akribisch abgestimmter Vorbereitung und ohne Stolpersteine, das könnte selbst ihn noch überraschen, und dieser Luxus ist jemandem in seinem Karrierestadium selten vergönnt.
Hier, nach knapp der Hälfte des RAN, kaum mehr als eine Stunde entfernt vom Fuße des Semmering, eines mit knapp tausend Höhenmetern ernstzunehmenden Anstiegs, sind alle Gedanken an das nächste Jahr eingefroren. Er ist im Hier und Jetzt, checkt weiter die Systeme und befindet, alles sei im grünen Bereich. Als Christoph auf seinen Tacho blickt, sticht neben der dreistelligen Wattzahl, die auf konstant hohem Niveau leicht auf und ab pendelt, eine weitere Zahl hervor. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist seit dem letzten Kontrollblick unter 40 km/h gefallen. Er senkt den Kopf und tritt zufrieden weiter. Nicht schlecht für die ersten 300 Kilometer – in Anbetracht der Bedingungen.