Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 39

Zu viel Freiheiten

Оглавление

Es sind Tausende unmerkliche Kniebeugen, positive bergauf und negative bergab, die sich an diesem Tag hinter dem vermeintlichen Wanderausflug verbergen. Ein Zugewinn an Kraftausdauer, der später einen kleinen, aber womöglich entscheidenden Unterschied machen kann. Sein Trainer ist so überzeugt wie er selbst, dass sich das bezahlt machen wird, sobald alle Systeme wieder hochgefahren sind und er dorthin zurückgekehrt ist, wo er letztendlich immer endet, wenn alles gut geht.

Und doch ist es etwas Ungewohntes. Daheim auf der Rolle müsste Christoph seinen Rhythmus nicht erst zwischen Geröll und eingerosteten Bewegungsmustern suchen, alles wäre sicher abgespeichert und würde automatisiert abgerufen, so dass er vermutlich die schon ausgefallenen Vorträge und die bevorstehenden Absagen kaum zu verdrängen in der Lage wäre. Hier bewegt er sich auf weniger vertrautem Terrain, muss sich aufs Gehen konzentrieren. Er versteigt sich und landet auf einem Geröllfeld etwas linkerhand des Weges, den er eigentlich nehmen sollte. Er klettert weiter, versteigt sich noch mehr, manövriert sich in eine Sackgasse, zu steil für »Augen zu und durch«, schafft es schließlich über den Schotter wieder zurück, ohne den Hosenboden zu benutzen. Christoph genießt die Einsamkeit, denn wenn die Gegend um ihn eines nicht ist, dann überbevölkert. Dieser Herbst ist wettertechnisch bestenfalls durchwachsen; umso mehr freut er sich über die genutzte Gelegenheit, was ihn den Schritt beschleunigen lässt.

Das Vortragseinkommen in diesem Jahr? Überschaubar, gelinde gesagt, eher sogar gegen null gehend. Was ansonsten als sichere Bank einen Hauptteil seines Lebensunterhalts ausmacht und ihn letztes Jahr Aktionen wie diese aus Zeitgründen hätte streichen lassen, hat sich in Luft und Fragezeichen aufgelöst. Was ihn auf dem Rad beschäftigen würde, wo die Routine dem rotierenden Geist zu viele Freiheiten lässt, spielt bei einer solchen Bergtour keine Rolle. Christoph selbst wollte es so und hat es von seinem Trainer für gut befinden und in den Fortschrittsplan, der immerwährend hinter allem steht und stehen muss, aufnehmen lassen. Darüber freut er sich und macht kurz Halt, denn er hat die Baumgrenze hinter sich und kann nicht allzu weit über sich schon die Kuppe ausmachen, hinter der sich, noch unsichtbar, das Gipfelkreuz verbirgt.

Lange war er nicht mehr hier oben, zu lange. Lange auch hat ihn auf dem Rad keiner mehr geschlagen, nicht lange genug, wenn es nach ihm geht. Doch auch wenn er von Zeit zu Zeit daran denkt, wie es wohl wäre, plötzlich abgehängt zu werden, vielleicht sogar dauerhaft – immerhin ist er schon achtunddreißig –, könnte er damit besser leben als mit der unbefristeten Strafbank, als die er seine Saison im ersten Corona-Jahr empfindet. Zwei Rennen, immerhin, bei denen er sich behaupten konnte. Ansonsten aber: viel Freizeit, zu viel Freizeit. Die Freude darüber war, gebremst durch Regulatorien, die er so sinnvoll findet wie die meisten anderen, schnell passé. Die allgemeine Unruhe überkam auch ihn, dazu die Zweifel. Wann würde das nächste RAAM stattfinden, und wenn, dann mit der oder ohne die 377, seine traditionelle Startnummer, in der letzten Zeile der Teilnehmerliste? Würde ihm die neue Krankheit die Entscheidung abnehmen oder wäre der Spuk bald vorbei? Ein Jahr warten? Zwei? Was würde sich in der Zwischenzeit ergeben, was könnte sich ändern?

Natürlich, die Zwangspause bot auch Gelegenheit, einmal grundlegend weiterzudenken, einen Sprung aus der Tretmühle zu machen und mit gebührend Abstand das Gesamtkonstrukt zu betrachten. Sein Karrierestadium ist das des Ausfeilens. Vermutlich auch weil die Aussicht auf ein zeitnahes RAAM sich nicht klärte, erschien ihm in den zurückliegenden Wochen immer wieder und immer öfter die Zahl Tausend wie ein grob modellierter Entwurf über allem bisher Erreichten. »#1day1000k« – eintausend Kilometer in 24 Stunden. Christoph ist sich sicher, dass er es schaffen kann, aber nicht, dass er es schaffen wird. Das muss er auch nicht, denn er schätzt die Erfolgswahrscheinlichkeit auf immerhin 50, vielleicht 60 Prozent, was ausreicht, um als Realist die Idee nicht vor dem nächsten Zubettgehen vergessen zu haben. Der weitere Weg wird sich weisen, er vertraut auf den Prozess. Die Dinge, die er nicht beeinflussen kann – Corona, die neuen Regeln, einen verrückt gewordenen Präsidenten und allerlei sonstige Hysterie – blendet er, wie es seinem Naturell entspricht, von vorneherein aus.

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag

Подняться наверх