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Plan B

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Christophs Überlegungen eilen dem körperlichen Training voraus, und ein Gedanke tut sich dabei besonders hervor: Was kann einen brauchbaren Plan B für den einen, vierstelligen Höhepunkt abgeben? Sich in blindem Vertrauen aus vollem Lauf über die Klippe zu stürzen, macht den Aufprall nicht weniger hart. Er muss, für sich selbst und die, die seine Reise seit Jahren finanzieren, eine Alternative parat haben. Seit ein paar Tagen weiß er, wie er das, im Falle einer Pandemie, die sich als noch zäher als befürchtet erweist, anstellen wird: Der Rekordversuch wird auf jeden Fall stattfinden, wenn nicht in Colorado dann irgendwo in der Heimat. Vielleicht gar direkt um die Ecke in der Südsteiermark, wo schon Wolfgang Fasching sich einen Tag und eine Nacht lang die gezählten Kilometer um die Ohren schlug? Wohl eher auf irgendeinem Testgelände in Deutschland, wo normalerweise die Prototypen von Autos und nicht ein aerodynamisch glattrasiertes Paar Beine auf Langzeittauglichkeit getestet werden.

Doch ganz gleich wo, die Zahlen lassen sich nicht drehen und die Tatsache steht bombenfest: Das Vorhaben »1000/24« würde sich so nicht ausgehen. Der größere Luftwiderstand ist ein unverrückbares Faktum, das sich nicht wegwünschen oder kleindenken lässt. Was kann demzufolge die Zielsetzung sein, für die es sich dennoch auszahlt? Die Fragezeichen in Form von sich täglich ändernden Corona-Verordnungen, die in endlos aneinandergereihten Pressekonferenzen doch nie mehr als völlige Unklarheit hinterlassen, erleichtern das Zu-Ende-Denken einer vagen Vision nur bedingt. Nicht nur Christoph Strasser geht es so, denn rundum steht alles Kopf und die Perspektiven verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit. Gerade für ihn aber, der sich beruflich um das Ausreizen von Kleinigkeiten zu kümmern hat, ist die vollständige Lösung dieser inneren Gleichung nicht Endziel, sondern Startvorgabe.

Das Glück im Unglück: Mit dem Luxemburger Ralph Diseviscourt hat einer, der in den letzten Jahren konstant aufstieg, ihn jedoch bislang nicht einholen konnte, Christophs inoffiziellen 24-Stunden-Weltrekord von 914 Kilometern (aufgestellt bei der 24-h-Einzelzeitfahr-WM 2018 in Borrego Springs und nicht bei einem dezidierten Weltrekordversuch) in einen offiziellen Weltrekord von knapp über 915 Kilometern umgewandelt. Darüber lässt er sich keine grauen Haare wachsen. Vielmehr bieten ihm Diseviscourts mit beeindruckenden 280 Durchschnittswatt rund um den Speichersee des Wasserkraftwerks Vianden getretene Kilometer einen Ansporn, es besser zu machen, selbst wenn das eigene Ergebnis ebenfalls dreistellig bleiben sollte.

Ein weiteres Schlupfloch ergibt sich aus dem Umstand, dass das Ultracycling bisweilen merkwürdige Regelbücher schreibt. Anders als im konventionellen Straßenrennsport führen auf der Langstrecke verschiedene Wege zum Weltrekord. Über 24 Stunden auf der Straße genau zwei: Ein Rekord gilt für die Disziplin »Outdoor Track« – durchgeführt zum Beispiel auf offenen Radrennbahnen oder auf Automobilrennstrecken –, der andere wird in der Disziplin »Road« vergeben – auf einem Straßenrundkurs, der kein reines Oval ist, sondern typischerweise verschiedene Kurven aufweist. Eigentlich muss er sich also gar nicht an Diseviscourt revanchieren, der sich in der Kategorie »Track« verewigte, sondern zuerst am bis dahin unbekannten Slowenen Stanislav Verstovšek, der Christophs eigentlichen, offiziellen Weltrekord – genauer: seine 2015 auf dem Gelände des Berliner Flughafens Tempelhof aufgestellte Bestmarke von 896 Kilometern in der Kategorie »Road« – aus der obersten in die zweite Spalte der ewigen Bestenliste verdrängen konnte. Und das vor gerade einmal ein paar Wochen, mitten in der Corona-Pandemie und ohne den Anstand, vorne noch eine acht stehen zu lassen. Etwa 914 Kilometer hat Verstovšek in seinen 24 Stunden geschafft, damit ziemlich genau dasselbe wie Diseviscourt und Strasser in Luxemburg und den USA.

Aus diesem Dreieck, das sich da aufspannt, ergibt sich ein Ersatzplan, der erfreuliche Form annimmt. In knapp einem Jahr könnten beide Rekorde wieder ihm gehören: »24h Road« in Österreich, Deutschland oder wo auch immer es in Europa im nächsten Sommer möglich sein sollte. »24h Track« in der günstigen Höhenlage Colorados, wo allein sich auch das anvisierte Ziel »#1day1000k« realisieren ließe. Aber selbst die halbe Miete – ein neuer 24-Stunden-Rekord daheim in Europa und ein Coronabedingter Verzicht auf den zweiten Versuch in den USA und, vorläufig, auf die erträumte Fabelzahl – wäre dann mehr als nur eine Kleinigkeit im Vorbeigehen. Es wäre keine Sponsorenbeschwichtigung, kein Trostpflaster für die Fans, sondern ein eigenständiges Unterfangen, ein beeindruckendes Hindernis. Christoph ist sich sicher: Es würde – es wird – Spaß machen, sich daran zu messen. Es würde und wird sich auszahlen, dafür zu arbeiten, und es wäre keine Schande, würde letztendlich irgendetwas schiefgehen. Die Straße vor sich zu sehen, ist zwar kein Meilenstein, aber ein unbedingtes Erfordernis auf dem Weg zur Größe.

Bei der Internetrecherche nach dem besten Asphaltkreisel diesseits des großen Teichs fällt eine Last von Christoph ab, von der er sich nur schwer eingestehen würde, es hätte sie gegeben. Er ist wieder eingenordet, auch wenn er es noch nicht wahrhaben will und sich bewusst Zeit damit lässt, dem professionellen Automatismus, diesem herrlich loyalen Gehilfen in den vergangenen Jahren, einmal mehr das Steuer zu überlassen. »Ende offen« und »Fortsetzung folgt« sind in seiner Welt nichts gegen die hart erarbeitete Klarheit einer im Protokoll der Offiziellen niedergeschriebenen Zahl. So ist seine Prägung, bis auf weiteres unabänderlich. Also wird er es auf sich nehmen und gleich zweimal die Entscheidung suchen – und beim ersten Mal, das darf ihn zuversichtlich stimmen, liegt es nur in seiner Hand. Er hat die Lunte nicht nur gerochen, sondern sie selbst entzündet, mit Hilfe eines Luxemburgers und eines Slowenen, die viel und vor allem eines gemeinsam haben: Sie beide haben ihm die Ehre erwiesen, ihn zu übertreffen.

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag

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