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Vater.

Krieg.

Mein Vater sprach nie über sein Leben. Das, was ich mit der Zeit erfuhr, war, dass er mit 18 schon im Krieg war. Dort wäre es toll gewesen, sie hätten am Lagerfeuer gesessen und gemeinsam gesungen und es hätte eine tolle Kameradschaft geherrscht.

Er wäre als Soldat hinter der Front eingesetzt gewesen und hätte von all den Gräueln und dem Sterben nichts mitbekommen.

Mein Vater erzählte, er wäre beim Russlandfeldzug dabei gewesen, aber sein Einsatz hätte ihn nur bis in die Ukraine geführt.

Mehr erfuhr ich nicht. Als Kind genügte mir das. Wer hat als Kind auch schon überhaupt irgendeine Idee, was Krieg wirklich ist?! Ich hatte ihm jedes Wort geglaubt und ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, in diesen meinen jungen Jahren diese Informationen zu hinterfragen.

Das einzige, das ich als Kind spürte, war, dass etwas Unausgesprochenes über allem schwebte, aber ich war noch viel zu jung, um zu begreifen, was das sein könnte.

Statt dessen stellte ich mir den Krieg als schönes Abenteuer vor, das mir wie ein Ausflug vorkam.

Einmal, ich erinnere mich noch wie heute, saß ich in der Badewanne. Diese wurde einmal wöchentlich am Samstag mit warmem Wasser gefüllt, indem der daneben stehende, runde Badeofen mit Öl gefüllt und sein Inhalt dann angefacht wurde.

Mein Vater saß neben mir und half mir beim Waschen. Ich muss wohl noch sehr klein gewesen sein, denn ich kann, mit dem Wissen von heute, die damalige Wohnung mit Ölheizung in die Zeit zwischen 1962-1966 datieren. Ich denke, da mir mein Vater beim Waschen half, muss es eher 1962 gewesen sein, da war ich sechs Jahre alt.

Er erzählte vom damaligen Heute, Deutschland sei immer noch besetzt und zwar deswegen, weil Deutschland den Krieg verloren hätte.

Ich fragte ihn, was das denn hieße, „besetzt“ zu sein. Er erklärte, dass fremde Länder, die den Krieg gewonnen hätten, nun ihr Recht wahrnähmen, über uns zu bestimmen.

Ich fand das furchtbar und ungerecht und fragte ihn, warum die Sieger das denn täten?! Mein Vater erklärte, dass sei eben so, wenn man einen Krieg verlöre.

Von Gräueln, Holocaust und Faschismus war bei solchen Erklärungen natürlich nie die Rede, was aus pädagogischer Sicht sehr klug gewesen war.

So hatten die Erläuterungen meines Vaters immer zwei Seiten, die eine war die, wie erklärt man einem Sechsjährigen den Krieg, ohne ihn zu verschrecken und die andere, wie sehr bleibt die tatsächliche Wahrheit dabei auf der Strecke?! Musste es etwa so sein, um den eigenen Sohn vor dem Wahnsinn dieser Welt so lange zu schützen, wie es ging?

Eine Gradwanderung der besonders schwierigen Art.

Aus der Sicht eines Erwachsenen mit viel mehr Wissen von den Jahren danach und mit größerem Abstand zum Geschehen des 2. Weltkrieges, würde ich heute sagen, mein Vater hat einen guten Weg gefunden, mir als Sechsjährigem den Krieg kindgerecht zu erklären.

Das einzige, das ich natürlich bemängeln könnte, wäre, dass Deutschland zwar richtigerweise den Krieg verloren hatte, aber dann, nach einem wahnwitzig angezettelten Krieg, von den Alliierten nicht besetzt, sondern befreit worden war.

Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich begriff, dass die Besetzung ihre Berechtigung hatte und Deutschland die Chance bot, sich selbst neu zu erfinden. Aber das ist eine andere Geschichte, die jedoch später eine große und wichtige Rolle in meinem Leben spielen sollte:

Die Chance, als Mensch frei und ohne Furcht frei leben zu können.

Lehrstunde.

Bei diesen Gesprächen beim Baden entstand eine seltene Intimität, die natürlich und intensiv war. Schon früh spürte ich diese Form von Nähe und sie war nie in irgendeiner Weise unangemessen.

Ich spürte die große Liebe, die mein Vater für mich hatte, die er aber nur selten zeigen konnte, dies aber bei seltenen Gelegenheiten, wie bei diesem Bad, auf seine eigene, fast kindliche Weise, leise und unaufgeregt tat.

So erinnere ich, wie er mir einmal bei eben einem solchen Bad zeigte, wie ich mich im Intimbereich waschen sollte. Zu diesem Behufe nahm er meinen Penis in die Hand und zog die Vorhaut zurück und erklärte mir in ruhigem Ton, was genau zu tun sei.

Ich spürte, wie unangenehm und peinlich es für ihn war, wie er jedoch seine Verpflichtung ernst nahm, mir dieses Prozedere zeigen zu müssen. Er machte dies mit großer Distanz und gleichzeitig liebevoller Nähe und genau diese Mischung war es, die ich spürte und die mir diese tiefe Sicherheit und das große Vertrauen, das ich zu ihm hatte, aufzeigte.

Ich habe später oft an diese Momente denken müssen, weil sie mich stark geprägt hatten. Ich hatte nämlich als Kind in diesen Augenblicken genau gespürt, wie prekär eine solche Aktion für meinen Vater war, wie er innerlich rang, alles richtig und angemessen zu machen.

Denn eigentlich hätte er von seinem Naturell her eine solch intime Berührung nie vollziehen wollen, aber er wusste, dass er die Aufgabe hatte, es doch zu tun und genau dieser Spannungsbogen war es, der mich prägte.

Ich hatte genau gespürt, inwiefern es prekär sein könnte, aber wie er diese Gratwanderung beherrschte. So merkte ich, dass die Berührung an meiner intimsten, noch völlig unentdeckten Stelle, nichts, aber auch gar nichts von Unangemessenheit hatte. Sie war natürlich und angemessen, eine Vater-Sohn-Sache und nicht mehr und nicht weniger.

Und genau diese Schlüsselerfahrung prägte mich für mein ganzes Leben. Sie lehrte mich, was angemessen und unangemessen war oder gewesen wäre.

Sie begleitet mich nun mein ganzes bisheriges Leben und ich wusste von Stund an, was ich an seiner Stelle tun musste, wenn es um die Achtung vor dem anderen ging, was Respekt und Einfühlungsvermögen bedeutete, wo Grenzen sind und wo sie nicht sind. Vor allem lernte ich, was Missbrauch ist und was nicht.

Von diesem Tage an wusste ich überdies, was wirkliche Liebe ist und was nicht. Es half mir später, die Spreu vom Weizen zu trennen, wenn ich trotz dieser Gewissheit eigene Fehleinschätzungen durchleben musste. Dies war jedoch normal und gehörte mit dazu.

Die Intimität und Liebe, die ich von meinem Vater gelernt und erfahren hatte, durchzog alle Erfahrungshorizonte meines späteren Lebens wie ein roter Faden und hatte mich womöglich später vor viel Schlimmerem bewahrt.

Die erste erotische Erfahrung.

Allerdings lernte ich meinen Vater auch anders kennen.

Er war im Grunde ein ruhiger Zeitgenosse. Selten war er aufgeregt oder laut. Bis zu seinem Tod erlebte ich ihn nur vielleicht drei Mal wütend oder energisch laut.

Beim ersten Mal war er (nur) Erfüllungsgehilfe meiner Mutter. Denn sie war es, die die Kindererziehung in der Hand hatte.

Schon sehr früh hatte ich erotische Erlebnisse. Und sie waren immer auf andere Jungs bezogen.

Ich sog diese Erlebnisse auf, wie ein leerer Schwamm. Es war meine Natur. Ich war schwul, vom ersten Tage an.

Und schon ganz früh spürte ich bei all diesen Wahrnehmungen und Erlebnissen, dass sie allgemein und speziell bei meinen Eltern nicht erwünscht, ja verboten zu sein schienen.

Dieses Gefühl war unausgesprochen da und schwebte quasi dauerhaft über mir, ohne, dass ich verstand, warum und wieso.

Wie ich später erfuhr, war ich im Jahre 1958 gerade mal drei Jahre alt, als meine Eltern zum ersten mal mit mir nach Holland in Urlaub fuhren.

1958 waren die Deutschen noch sehr verhasst in dem Land, welches von den Nazis überfallen und unterworfen worden war.

Ein freies und neutrales Land wie die Niederlande, deren Menschen immer zu ihrem großen Bruder Deutschland aufgeschaut, die die Deutschen fast schon bewundert hatten, wurden genau von diesem großen Bruder brutal unterworfen. Etwas, was die Niederländer nie wirklich verwunden und den Deutschen auch nie wirklich verziehen haben.

Heute merkt man nur dann noch etwas davon, wenn man als Deutscher in Not ist. Dann zeigt sich, ob sie dir helfen oder nicht. Meist tun sie es, aber es kann Vorkommen, dass sie dann sagen: „Deutschen helfen wir nicht!“

Ob das heute noch oft zu finden ist, weiß ich nicht wirklich, aber ich habe es in den 1970er Jahren selbst öfters erlebt.

Einmal hatte ich mitten in der Nacht in Amsterdam eine Reifenpanne und mein alter Käfer hatte keinen Drehschlüssel zum Öffnen der Radmuttern in seinem kleinen Kofferraum. Was blieb mir also anders übrig, als nachts Autos anzuhalten und die Fahrer darum zu bitten, mir ihren Schlüssel auszuleihen. Niemand hielt zunächst überhaupt an.

Erst nach einer längeren Zeit hielt tatsächlich wenigstens ein junger Mann an. Schon freute ich mich und dachte, mein Problem sei bald gelöst.

Aber auch er sagte nur: „Deutschen helfen wir nicht!“ und fuhr von dannen.

Meine Eltern fuhren also schon sehr früh nach dem Krieg wieder nach Holland in Urlaub. Dort schlossen sie Freundschaft mit ihren „Herbergseltern“, die in ei-nem kleinen Reihenhaus in Ijmuiden, in der Nähe von Amsterdam, wohnten.1

Aus den Herbergseltern wurden im Laufe der Jahre enge Freunde und oft saßen sie bei einem „Biertje“ beisammen, machten gemeinsam Hitler nach und machten sich über dessen Grimassen und Verhaltensweisen lustig.

Das war in den 1950 Jahren bereits eine Sensation, dass sich Holländer und Deutsche auf diese Weise gemeinsam über die skurrilen Seiten des Weltkriegsdramas lustig machen konnten und auf diese Weise verbrüderten!

Die Reihenhäuser, in denen die niederländischen Freunde wohnten, sahen alle gleich aus und ich als Dreijähriger konnte sie nicht auseinanderhalten.

Die Situation in den 1950er Jahren war noch so unbekümmert, dass ich als Piefke alleine auf die Straße zum Spielen geschickt wurde und so fand ich mich auf einem Spielplatz ganz in der Nähe des Urlaubshauses wieder und spielte dort mit anderen holländischen Kindern.


Natürlich kann ich mich nicht aus eigenem Gedächtnis daran erinnern, wie alt ich damals war, aber ich weiß es aus Erzählungen meiner Eltern, die die Datierung eindeutig bestätigten.

Überdies fand ich eine Postkarte aus dieser Zeit (s.o., Abb. 1), die meine Mutter an meine Oma geschrieben hatte und die alle Einzelheiten dieser Erzählungen untermauern.

Es ist erstaunlich, dass ich die sich auf diesem Spielplatz zutragende Situation noch heute so erinnere und vor Augen habe, als sei sie erst gestern geschehen.

Ein Junge auf diesem Spielplatz zog nämlich einem Kleineren im Spiel (unabsichtig) die Hosen herunter, so dass ich sein blankes Hinterteil zu sehen bekam. Dieser Anblick traf mich wie ein Blitz.

Schon mit drei Jahren merkte ich die Erotik des Augenblicks, zumindest für mich. Aus der Rückbetrachtung war dies ein erotisches Erweckungserlebnis der „ersten Art“ gewesen.2

Und ich bin sicher, es war entscheidend, dass es ein Junge war. Ich war so elektrisiert, dass ich auf dem Weg zu unserem Urlaubshaus dieses nicht mehr fand. Alle Häuser sahen gleich aus und ich geriet in Panik.

Ich wusste mir allerdings gut zu helfen. Ich klingelte einfach an irgendeinem Haus und fragte auf Deutsch, wo denn die Familie Gravenmakers wohne? Eine nette Dame öffnete die Türe und zeigte mir das Haus. Ein Dreijähriger wurde natürlich als Deutscher nicht schlecht behandelt, dafür waren und sind die Holländer dann doch zu anständig, Deutschenfeindlichkeit hin oder her.

Die nächste Erinnerung dieser „ersten Art“ von Erotik geschah dann mit sechs Jahren. Auch hier weiß ich wiederum aus Erzählung des entsprechenden Zeitrahmens, wann genau es stattfand und kann es zeitlich genau einordnen.

1 Siehe auch ein Reisebericht meiner Eltern im Anhang aus dem Jahre 1954, also zwei Jahre vor meiner Geburt, als Ihre Besuche nach Holland begannen. In diesem Bericht wird sehr eindrücklich ersichtlich, wie sie erste Entdeckungsreisen in ein Ihnen bis dahin fremdes Land unternahmen.

Gleichzeitig wird darin deutlich, wie sehr ihre Meinung über andere Menschen und Ihnen bis dahin fremde Völker noch von latent hochnäsiger und herablassender Nazipropaganda geprägt war.

Dieser Reisebericht ist unbedingt lesenswert!)

2 Mit „erster Art“ ist ein Aufeinandertreffen ohne Körperkontakt gemeint. Entlehnt aus: „Close encounter of the 1st kind ([…], Nahbegegnung der ersten Art: Das Objekt wird aus naher Entfernung […] gesich-tet.“. Nach J. Allen Hynek, der UFO-Sichtungen nach Art 1-4. Zit. n. Wikipedia. Suchwort: J. Allen Hynek. URL: https://de.m.wikipedia.Org/wiki/J._Allen_Hynek. Stand 21.05.2021.

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