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»Nicht der Held aus seinem ›Heldenleben‹ «

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Frühe Zeugnisse

Was Bruno Walter auf die Frage meinte, ob Dirigenten »geboren« oder »gemacht« werden, trifft wohl auch auf musikalische Schöpfer zu: »First they are born, then they are made.« Richard Strauss, geboren am 11. Juni 1864 in München, war einerseits berufen und bestimmt, Musiker zu werden; dass aus ihm einer der größten »Tonsetzer« (wie man das damals noch nannte) aller Zeiten – und »nebenbei« ein international umjubelter Pultstar – geworden ist, hat er vielen Wegbegleitern zu verdanken ... und letztlich doch sich selbst. Die Karriereentscheidungen, die er in den ersten Lebensjahrzehnten traf, waren die richtigen; die Wahl der Partnerin fürs Leben – obwohl von vielen Seiten abschätzig kommentiert – ebenfalls. Als junger »Sensationsmusiker«, als reifer Komponist, für einige Jahre auch als Operndirektor stand Richard Strauss mitten in seiner Zeit und war doch ein Unpolitischer. Präzisieren wir: Er war so unpolitisch, dass er nicht merkte, wenn seine Handlungen ausgeprägte politische Folgen hatten. Weder seine Haltung zum Wilhelminismus noch jene zur Weimarer Republik scheint Beobachter von heute zu interessieren. Die Aufmerksamkeit für Strauss’ Stellung zum Nationalsozialistischen Regime hingegen – sprechen wir diesen Punkt nur gleich an – überwuchert jene für seine Musik. Auch diese Frage wird das Buch beleuchten; wenden wir uns zunächst aber den Prägungen seiner Kindheit und Jugend zu. So erinnert sich die um drei Jahre jüngere Schwester Johanna an ihn:

Richard war ein auffallend schönes Kind, ein Lockenkopf, lebhaft, mit sprühenden Augen, die aber auch, wie ein Kindheitsbildchen zeigt, verträumt und schwärmerisch blicken konnten.

Und dies notierte er selbst:

Von meiner ersten Jugend berichtet meine Mutter, daß ich auf den Klang eines Waldhorns mit Lächeln, auf den Ton einer Geige mit heftigem Weinen reagierte. Mit viereinhalb Jahren bekam ich den ersten Klavierunterricht [...]. Ich war aber immer ein schlechter Schüler, da das notwendige »Üben« mir immer wenig Spaß machte, dagegen habe ich gerne vom Blatt gelesen, um möglichst viel Neues kennen zu lernen.

Dies die frühesten Erinnerungen eines späteren Genies, damals noch Wunderkind. Einblicke in das musische Elternhaus gibt Strauss in seinen »Betrachtungen und Erinnerungen«. Der Vater Franz Joseph Strauss (1822–1905) war hoch angesehener Hornist im königlichen Hofopernorchester zu München. Ihn beschreibt der Sohn in gütigen Worten als einen typisch bayrischen »Sturschädel«. Auch der bedenkliche, aber aus heutiger Sicht nicht übertrieben zu bewertende »Konversations-Antisemitismus« klingt in Strauss’ Erinnerungen an:

Er war ein sogenannter Charakter. Er hätte es für ehrlos gehalten, ein einmal als richtig erkanntes künstlerisches Urteil jemals zu revidieren und war einer Belehrung meinerseits bis ins höchste Alter unzugänglich. [...]


1 Waldhornist Franz Joseph Strauss in jungen Jahren (Aquarell)

Mein Vater war sehr jähzornig: mit ihm zu musizieren war ein aufregendes Vergnügen. [...] Er hielt streng auf Rhythmus, wie oft schrie er mich an: »Du eilst ja wie ein Jude!« [...] Durch eine schwere Jugend war mein Vater im Charakter verbittert worden. Früh Waise geworden, kam er zu einem Onkel Walter in Nabburg, der dort Türmerdienste versah und ein harter, strenger Mann gewesen sein muß. Mein Vater mußte viele Nachtwachen für ihn versehen, während welcher er für sich ein wenig Latein betrieb. Zu Hause war er sehr heftig, jähzornig, tyrannisch, und es bedurfte der ganzen Milde und Güte meiner zarten Mutter, um das Verhältnis meiner Eltern, trotzdem es stets von aufrichtiger Liebe und Wertschätzung getragen war, in ungetrübter Harmonie verlaufen zu lassen. Wie weit allerdings die sehr empfindlichen Nerven meiner Mutter darunter wirklich gelitten haben, kann ich heute nicht mehr entscheiden. Meine Mutter mußte von jeher ihre Nerven derart schonen, daß sie, obwohl sehr poetisch veranlagt, wenig lesen konnte und Theater- und Konzertbesuche oft mit schlaflosen Nächten büßen mußte. Aus ihrem Munde kam nie ein böses Wort, und am glücklichsten war sie, wenn sie mit ihrer Handarbeit (Stickerei) beschäftigt, die Sommernachmittage still und einsam in dem hübschen Garten der Villa meines Onkels Pschorr verbringen konnte, wo auch wir Kinder nach Schulschluß uns einfanden und gewöhnlich die Sommerabende im Freien oder bei einer Kegelpartie zubrachten.


2 Der fünfjährige Richard

Die Mutter Josepha Strauss (1838–1910), geborene Pschorr, war eine sehr labile Persönlichkeit, ihre Angstzustände und Nervenzusammenbrüche erzwangen regelmäßig ärztliche Behandlung und wiederholte Einweisung in Nervenheilanstalten. Bemerkenswert, dass die Temperamentverteilung im Hause Richard Strauss später umgekehrt erscheinen wird; wiewohl gefestigt und robust, war Richard doch eher der stille und in sich gekehrte Teil, während die Ehefrau Pauline mit hysterischen Anfällen nicht geizte.

Jedenfalls war Vater Franz die treibende Kraft in der Ausbildung des Sohnes, er wachte auch über dessen oft unbeherrschte Art: »Sei mit Deinem raschen Mundwerk nicht zu vorlaut«, schreibt er an den Sohn. Und auch folgender briefliche Rat vom Oktober 1885 ist beachtenswert:

Gebe auf Deine Gesundheit acht und vergesse Deine Nase nicht und denke daran, daß Du viel mit Damen verkehren mußt.


3 Die Eltern mit Richard Strauss’ Sohn Franz (ca. 1904)


4 Der Abiturient

Die Schule erledigte Richard mit überdurchschnittlicher Intelligenz gleichsam nebenbei. Karl Welzhofer, Klassenlehrer im königlichen Ludwigsgymnasium München, beurteilte den Schüler 1875:

Wohl wenige Schüler gibt es, die in gleichem Grade Pflichtgefühl, Talent und Lebhaftigkeit in sich vereinigen. Sein Eifer ist sehr groß, er lernt ebenso gern als leicht. Was er leistet, macht ihm Freude und spornt ihn zu größerem Fleiße an. Seine Aufmerksamkeit beim Unterricht ist sehr groß, nichts entgeht ihm. Und doch kann er kaum eine Minute lang ruhig sitzen, seine Bank ist ihm ein sehr leidiges Ding. Ungetrübte Heiterkeit und Fröhlichkeit lacht ihm aus den blauen Augen Tag für Tag. Offenheit und Herzlichkeit liegen deutlich ausgeprägt in seinen Zügen. Seine Leistungen sind gut, sehr gut. Einen solchen Knaben muss jeder Lehrer lieb gewinnen, ja es ist fast schwer, keine Vorliebe zu verraten. Strauss ist ein angehendes musikalisches Talent.

Richard Strauss hat den aufbrausenden, aber im Grunde gütigen Charakter seines Förderers Hans von Bülow (1830–1894) in späteren Jahren mit dem seiner Frau Pauline verglichen. An und über seinen Schützling schrieb Bülow:

Zu Strauss’ Charakter habe ich ebensoviel Vertrauen als zu seinem Talent. [...]

Sie gehören zu den Ausnahmemusikern, die nicht von der Pike auf zu dienen nötig haben, die das Zeug haben, sofort einen höheren commandierenden Posten zu bekleiden. [...]

Der Anblick Ihrer Handschrift allein macht mich schon guter Laune. Sie haben immer etwas zu sagen, wenn Sie schreiben, sei es in Ihren Noten oder Buchstaben.

1885 wurde Richard Strauss, von Hans von Bülow gefördert, Musikdirektor der Herzoglichen Kapelle in Meiningen. Eine Glosse (über die sich Strauss sehr amüsierte) in der Sonntagsbeilage »Isaria« schilderte den jungen Kapellmeister und seinen Mentor:

Dr. Bülow spazierte auf der Bühne umher und musterte den Saal. Ein blasser, langhaariger Jüngling soll die Ouvertüre dirigieren. Er sieht aus, als ob er die jüngsten 14 Tage von neugeborenen Lämmern gelebt und dazu Karlsbader Wasser getrunken hätte. Der Herzog mit Gemahlin tritt in die kleine Loge und das Orchester beginnt. Herr von Bülow arbeitet in schwedischer Heilgymnastik, i. e. Oberkörperschwingungen, und der langhaarige Jüngling macht seekranke Bewegungen.

Die Augenzeugin Lilly Reiff berichtete von einer »Wildschütz«-Vorstellung in München 1887, dass Richard Strauss während des Dirigierens plötzlich gestockt habe und zusammengesunken sei. »War Ihnen nicht gut?«, fragte sie nach der Vorstellung besorgt. »Nein«, antwortete Strauss, »komponiert hab’ ich. Mir ist grad eine hübsche Melodie eingefallen, und die da oben können’s doch auch eine Weile ohne mich.«

Doch wenig später wurde es ernst mit der gesundheitlichen Krise. Das vom Vater ererbte Asthma kulminierte dank einer verschleppten Erkältung 1891 in einer schweren Lungenentzündung. Mit Unterstützung der wohlhabenden Familie Pschorr reiste Richard zur Heilung von November 1892 bis Juni 1893 durch Italien, Griechenland und Ägypten.

Als ich in Ägypten mit Nietzsches Werken bekannt geworden, dessen Polemik gegen die christliche Religion mir besonders aus dem Herzen gesprochen war, wurde meine seit meinem fünfzehnten Jahr mir unbewußte Antipathie gegen diese Religion, die den Gläubigen vor der eigenen Verantwortung für sein Tun und Lassen (durch die Beichte) befreit, bestärkt und begründet.

Der Schulfreund Friedrich Rösch schreibt 1893 an Strauss, der sich gerade in Ägypten aufhält und Schopenhauers und Nietzsches Ideen wälzte:

Du ahnungsloser Engel Du! Ob denn »der Wille wirklich erlöst sein wolle?« Eine solche Frage kann einem doch nur in einer Wüste entschlüpfen, bei 40° R. O dieser Sonne sengender Strahl ... Der Mensch kommt erst dadurch, dass er an seinem eigenen Willen unendlich leidet, die allerbittersten Erfahrungen macht (Erfahrungen, die Du in Deinem bisherigen Wohlstands-Dusel einfach nicht gemacht haben kannst), zu der Einsicht, dass der Wille der Urheber aller Leiden auf der Welt ist ...


5 Richard Strauss (ganz links) in Ägypten

Der einzige erhaltene Brief von Richard Strauss an seine Jugendliebe Dora Weis (1889) kündet tatsächlich von einer überaus sensiblen, »romantischen« Persönlichkeit:

Tatsache ist, dass mich Dein Brief mit der nun in unabsehbare Ferne rückenden Aussicht, Dich, meine süße Dora, wiederzusehen, tief betrübt und bewegt hat. Gott, was für hölzerne Ausdrücke für das, was ich empfinde ... Dem Künstler Strauss geht es wirklich gut. Aber kann denn kein Glück vollkommen sein?

Mit dem Leiden auf und an der Welt hat sich Richard Strauss jedoch nichtlange aufgehalten, folgte vielmehr dem Lebensprinzip des künstlerischen Egoismus, das Nietzsche ebenfalls gepredigt hat. Seine inneren Krisen und seine Leidenschaften (auch und vor allem die unausgelebten, ja sogar »Tod und Verklärung«) hat Richard Strauss in Musik umgemünzt.

Der französische Schriftsteller Romain Rolland (1866–1944) sah den Komponisten 1898 so:

Er ist groß, schlank, hat flauschiges Haar und einen weißblonden Schnurrbart. Blaß, helle Augen, runder Rücken und ein unsicherer Gang auf langen Beinen mit kleinen Füßen. Breite Schultern. Schöne feine lange gepflegte Hände, die aristokratisch wirken. [...]

Seine Art zu reden ist eher bäuerlich, seine Haltung nie straff. Das ändert sich beim Dirigieren. Das ist der andere Strauss, der in starker Spannung vor Konzentration vibriert. Sein Gesicht wird älter und härter, nichts von der sonstigen Freundlichkeit. Ein asiatischer Barbar, ein Hunne, blond mit fahler Haut.

Nach großen Erfolgen bleibt er liebenswürdig, höflich, einfach und natürlich. Nichts an ihm ist gekünstelt, keine bewussten Gesten, keine Pose. Er ist manchmal von fast kindlicher Schüchternheit. Daneben kann er voll Eigensinn und Gleichgültigkeit, ja Verachtung für andere Menschen sein.

Beim Sprechen zieht er oft Grimassen, macht einen schiefen Mund, besonders wenn er unzufrieden ist und ironisch wird. Bei Tisch sitzt er gelegentlich mit übereinandergeschlagenen Beinen und hebt den Teller bequem zum Munde. Er ißt dauernd Bonbons wie ein Kind. Zu Leuten, die er mag, ist er besonders herzlich. Leuten, die ihn nicht interessieren, hört er kaum zu, dreht ihnen halb den Rücken, fragt höchstens mal »Was?« und sagt geistesabwesend »Ach? Soso -.« In Gesellschaft scheint er mitunter mit offenen Augen zu schlafen.

Man merkt ihm das überschäumende Wesen nicht an, das in seiner Musik lebt. Er wirkt blass und ein wenig unsicher, ewig zweifelnd und unruhig. Ist nicht der Held aus seinem »Heldenleben«. »Ich hab nicht so viel Kraft und bin nicht für’s Kämpfen gemacht, ich habe nicht genug Genie, Willen und nicht die unerschütterliche Gesundheit. Ich ziehe mich lieber zurück und suche die Ruhe.« In ihm vereinen sich viele Charakterzüge, die ich nirgends sonst gesehen hatte. Sie scheinen mir typisch münchnerisch zu sein. Er ist ein wenig verwöhntes Kind und ein wenig Eulenspiegel.

Rolland hatte auch Gelegenheit, mit Richard Strauss über »Ein Heldenleben« zu sprechen. Es wurde diesem oft angekreidet, dass er – von der erwähnten symphonischen Dichtung op. 40 über die »Sinfonia domestica« bis zur Oper »Intermezzo« – viel Autobiographisches in seine Werke eingeflochten oder gar zum Zentrum derselben gemacht hat. Er reagierte entwaffnend, dass er sich und seine Familie nicht weniger wichtig nehme als Napoleon oder Alexander den Großen. »Am liebsten würde ich immerzu mich selbst komponieren.« Doch inwieweit sah er sich als »Held«? Romain Rolland hat er geantwortet:

Den Pfeil des Lebens hat Strauss nie höher geschossen als damals. Ich beschloss, ihn zu fragen. Ich wollte den Schlüssel für die Personen, besonders die Frau des Helden. Sie macht einen neugierig. Die einen hören eine perverse, andere eine kokette. Er sagte: Weder – noch. Ich habe meine Frau dargestellt. Sie ist sehr kompliziert, ein wenig pervers, ein wenig kokett, wechselt von einer Minute zu anderen. Der Held folgt ihr zu Anfang, nimmt den Ton auf, den sie sang. Sie entflieht immer wieder. Da sagt er: Geh du nur, ich bleibe. Und zieht sich in seine Gedanken, seinen eigenen Ton zurück. Da sucht sie ihn. Musikalisch ist dieser Teil ein langes Zwischenspiel zwischen den beiden Ausbrüchen des Anfangs und der Schlacht.

Der Biograph Kurt Wilhelm resümiert:

Aus allen Zeugnissen formt sich ein Bild in diesen Jahren: gutmütig und temperamentvoll, spöttisch und ironisch, bei Widerstand zornig und schnell versöhnt. Maßstab für alles ist die Reinheit der Kunst. Ärger bereiten ihm Unzulänglichkeiten. Schwächen werden resignierend toleriert, auf Dummheit und Intrigen prasseln Zornesausbrüche nieder. Auf Proben wahre Engelsgeduld. Bei Widersetzlichkeit ein Jupiter tonans.

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