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»Sie wissen selbst am besten, wie viele Fehler ich habe«
ОглавлениеDer Lebensmensch Pauline
Romain Rollands im vorigen Kapitel wiedergegebene Tagebuchprotokolle führen uns wie selbstverständlich zum Vorbild für die »Frau des Helden«, die Ehefrau Pauline Strauss. Sie wurde 1863 als erstes Kind des bayerischen Generals Adolph de Ahna und seiner Frau Marie in Ingolstadt geboren (wenngleich sie später mit Hilfe ihres Mannes ihr Geburtsjahr um volle elf Jahre nachverlegte). Im August 1887 lernten sie einander in der Pschorr-Villa in Feldafing am Starnberger See kennen. Strauss wurde ihr Musiklehrer und führte sie zu anspruchsvollen Rollen, von Hansel bis hin zu Isolde und Freihild in seiner Erstlingsoper »Guntram«.
Zwischen den Zeilen des folgenden Briefes scheinen Witz und Temperament der jungen Frau durch:
Feldafing, 22. August 1889
Geehrter Herr Capellmeister, mein lieber Maestro! Schönsten Dank für Ihre Karte, die mir die willkommene Nachricht bringt, daß Sie sich während des München-Aufenthalts meines brach liegenden Studiums annehmen werden, was ich mit großem Danke akzeptiere! [...] Gestern sang ich bei Herrn Vogl in Deixelfurt »Neue Freuden«, »Einsam in trüben ...«, »Euch Lüften ...«1. Wenn Sie ihn sprechen, Herr Capellmeister, bitte fragen Sie über mich, er war nämlich sehr entzückt, hauptsächlich über die Vortragsweise. Ich gab mir alle Mühe meinem Meister Ehre zu machen.
Auf der Nachhausefahrt erkältete ich mich leider, so dass mein Hals zur rascheren Gesundheitsförderung heute gewickelt ist, ein anerkannt angenehmer Zustand, man fühlt sich in die Biedermeierzeit zurückversetzt.
Hier ist es kühl, ein wonniger Landaufenthalt nur, sobald man heizt. Papa und Schwester Mädi grüssen Sie bestens. Bitte mich Frl. Johanna zu empfehlen.
Mit herzlichem Grusse Ihre ergebene Schülerin
Pauline de Ahna
Vielleicht lockt Sie ein verirrter Sonnenstrahl einmal heraus! –
Im November des Folgejahres war der Gesundheitszustand der jungen Gesangsschülerin wieder einmal angegriffen. Strauss gibt Gesundheitstipps:
Weimar, 19. 11. 1890
[...] Schonen Sie sich um Gotteswillen! Heisse Milch, Emser Wasser etc. etc. etc., damit Sie nächste Woche bestimmt auf dem Schlachtfelde siegreich dastehen und am 30.ten sind die »Meistersinger«!
Recht gute Besserung! Die herzlichsten Grüsse auch an Ihre verehrte Mutter
Ihr Richard Strauss
6 Klavierauszug von »Tristan und Isolde« mit handschriftlichen Regieanweisungen von Richard Strauss für Pauline
Bad Wörishofen 1891
Gleich nach Wagner kommt Kneipp,
was jener für’s Herz, ist der für’n Leib.
Der Musik Gegengewicht ist das Wasser,
merkt’s euch, ungläubige Thomasser!
Ein schöner Obergug ist wie ein Himmelsgruß,
ein feiner Rückenguß wie ein reiner Neptunskuß.
Was ich mit Doktoren schon Zeit verloren,
dafür nehm ich heut’ mich noch an den Ohren!
Montag Abend komm ich nach München,
dann studier ich Fräulein Paulinchen!
Daß der Menschheit Heil doch nur
liegt in der feinen Wasserkur.
Dienstag früh erste Lektion,
darauf freu ich mich heute schon.
Eifrig wird dann da studiert,
wie man Krampfhusten kuriert.
Schwesterlein grüsst, kommt erst Mittwoch nach Haus,
ich halt’s nicht mehr länger als morgen auch aus.
Aus Kniegüssen und Flohbissen
besteht all mein lächerlich Wissen,
mit Schulmeistergrüßen
wird Ihr junges Leben keiner versüßen.
Ihr herzlich ergebener
Richard Strauss
Die Sorge um des anderen Gesundheit wird bald (und für alle weitere Zukunft) Paulines Ressort. Sie wird den Gatten später zu täglichen Spaziergängen anhalten, tadelt aber auch schon in diesem Brief indirekt den nicht gesundheitsfördernden Lebenswandel des »Hof- & Schulmeisters«:
Seeshaupt, 22. Juni 1892
Geehrter Hof- & Schulmeister! Lieber Herr Strauss!
Ich mach halt meine ergebenste Danksagung erstens für die gestrige etwas rabiate Karte, zweitens für den heutigen g’schamichen Brief, Herr Staberl, und bitt’ Ihnen – nix für ungut – regens Ihnen nicht so auf! Es ist nur von weg’n der Xundheit! Meine Stimmung wäre in dem Ton fortzufahren, da Sie, lieber Herr Strauss, aber sonst einen schönen Begriff von der Wohlerzogenheit und dem feinen Benehmen Ihrer Ex-Schülerin bekämen und meine plötzliche Verwilderung am Ende gar dem alten und geschwisterlichen Umgang – unterstützt durch Frau Amélie Wurm’s zwerchfellerschütternde Witze und grob-gutmütige Manieren – zuschreiben, will ich eine Anstandspille schlucken und schauen, daß ich meine herzlichsten Grüße an Sie und Hannerl und an die Ihren in wohlgesetzter Rede und mit dem gehörigen Schwung – Sie wissen schon – vom Stapel lasse. Ihre gestrige Karte hat insofern genützt, daß mein Väterchen dieser Tage Anstalten trifft, ein Klavier zu bekommen und mir einen Musikschuljüngling verschreiben will. Doch zuerst muß das Klavier zu haben sein, und einstweilen bitte ich Sie – falls Sie Gelegenheit haben – mit Thuille betreffs eines Schülers zu sprechen! Vorläufig studiere ich an der »heiligen Elisabeth«, die furchtbar schwer ist – Intonation betreffend.
Nun lassen Ihnen, werter Herr Strauss, Papa und Mama sagen, daß, sollten Sie Lust und Laune haben, vom 5. Juli an auf eine Woche oder wie lange Sie wollen und die Eltern in Ihre Anwesenheit einwilligen, im Hotel Neuschwanstein unser Gast zu sein, Sie uns allen herzlich willkommen wären und auch auf Ihr leibliches Wohlergehen große Sorge verwandt würde. Ich habe mich hiemit des elterlichen Auftrages entledigt und bitte Sie, gestützt auf unsere Freundschaft, von der Einladung Gebrauch zu machen, sobald es Ihnen paßt, oder zu Ihrer Erholung, am Ende noch vor Reichenhall, vorteilhaft wäre. Also tun Sie was Sie wollen, lieber Herr Strauss, und seien Sie versichert, daß Sie uns allen die größte Freude machen würden Ihre Rekonvaleszenz zu beschleunigen. Daß Sie so sehr angegriffen und elend sind, ist leider nur zu begreiflich!
Daß die langweiligen Tage des Stilliegens bald vorüber sein würden, wenn ich so manchmal über den See nach München ein Stündchen schwimmen könnte, wäre doch ganz nett, obwohl ich mich furchtbar zusammen nehmen müßte, um die »dehors zu machen«, denn hier wird man doch ganz verwildert, das reinste Schiffermädel und Landkonfekt ...
Und nun recht gute Besserung, Herr Strauss, recht viel Geduld, denn dann geht’s am ehesten. Viele Grüße von Haus zu Haus, mit den besten Wünschen, in dankbarer Ergebenheit stets Ihre
Pauline de Ahna
Im Zuge der Endproben zu seinem »Guntram«, 1894 in Weimar, machte Strauss der Primadonna einen Heiratsantrag im Anschluss an einen handfesten Krach, den sie vom Zaun brach.
Auf einer der letzten Proben, wo ich Zeller unzählige Male abklopfen mußte, kam endlich Pauline im 3. Akt mit ihrer einwandfrei »gekonnten« Szene. Trotzdem fühlte sie sich unsicher und beneidete Zeller anscheinend wegen seinem vielen »Wiederholen«. Plötzlich hörte sie zu singen auf und frug mich: »Warum klopfen Sie bei mir nicht ab?« Ich: »Weil Sie Ihre Rolle können.« Mit den Worten »Ich will abgeklopft haben« wollte sie mir den Klavierauszug, den sie gerade in der Hand hatte, an den Kopf werfen, derselbe flog aber zur allgemeinen Heiterkeit dem 2. Geiger Gutheil (dem späteren Gatten der berühmten Gutheil-Schoder [...]) aufs Pult.
7 In der Wiener Villa unter dem PorträtPaulines
Die immerhin schon 31-jährige Braut in spe leitete nicht jugendliche Verschämtheit, sondern handfeste Sorgen um Fortsetzung der vielversprechenden Sängerinnenkarriere, als sie mit dem Jawort zögerte:
Weimar, 24. März 1894
Mein lieber Herr Strauss!
Das kommt ja alles wie ein Sturzbach; ich bitte Sie um Gotteswillen sich nicht so übermäßig zu freuen, Sie wissen selbst am besten, wie viele Fehler ich habe und sage Ihnen aufrichtig, es ist mir trotz allem Glücksgefühl, was mich überkommt, manchmal entsetzlich bang. Werde ich Ihnen das sein können, was Sie verlangen und was Sie verdienen? Darf ich nicht zuerst in Hamburg gastieren, um wenigstens voll Stolz meinem verehrten Lehrer auch einen schönen Erfolg aufweisen zu können? Leider wird’s aus der Montag-»Elisabeth« nichts. Kennen Sie mich denn nicht, und Ihre Eltern und Hanna kennen ja auch meine Launen; ach Gott, und nun soll ich plötzlich ein wahres Muster von Hausfrau werden, damit Sie sich nicht enttäuscht fühlen. Lieber Freund, ich fürchte es wird scheitern, und je mehr sich alles freut, desto gedrückter wird meine Stimmung. Von Papa ist’s nicht hübsch zu sagen, ich machte ihm Sorgen mit meinem Theaterleben; ich verstehe das nicht; bis jetzt ging alles glatt und würde es auch weiter gehen.
Wird das viele Dirigieren heuer im Sommer Sie nicht überanstrengen? Ach Gott, ich habe soviel Sorgen und Kummer. Haben mich denn Ihre verehrten Eltern lieb und Hanna, wenn sie nur wüßte, wie ich Ihnen von allem abrate. So schnell, lieber Freund, brauchen wir wirklich nicht zu heiraten; wenn sich jedes zuerst allein gewöhnen könnte, in seinem Berufe alles Glück zu finden; Sie in München, ich in Hamburg; bringen Sie bitte meinen Kontrakt mit; verzeihen Sie diesen Brief, aber ich bin von zwei Gefühlen – des Glückes und der Angst vor einem neuen Leben – so befangen, daß ich nur halb zurechnungsfähig bin. Bitte lassen Sie mich wenigstens hier noch recht viele Partien singen; das wird mir über manches hinweghelfen. Ich bin ungemein fleißig im Studium der »Freihild« mit Klatte und Gutheil; das größte Glück ist eben doch unsere Kunst, lieber Freund, vergessen Sie das nicht. Für heute kann ich nicht mehr. Nehmen Sie bitte gar nichts übel. An die teuren Ihrigen die ergebensten Grüße; ich küsse Ihrer verehrten Mama die Hand und bitte alle, Geduld mit mir zu haben.
Leben Sie wohl und werden Sie so glücklich, als Sie es verdienen. Ihre aufrichtige
Pauline de Ahna
Vier Monate nach der offiziellen Verlobung am Uraufführungstag des »Guntram« (10. Mai 1894) folgte die Eheschließung am 10. September in Marquartstein, wo die de Ahnas ein Sommerhaus besaßen.
Mutter Strauss begrüßte die Verbindung. Am 11. Juni 1894 hatte sie an ihren Sohn zu seinem Geburtstag geschrieben:
Ich kann Dir nicht sagen, lieber Richard, wie sehr ich mich über Deine Verlobung mit der uns so lieb gewordenen Pauline gefreut habe, wie sehr sie mir beim Wiedersehn gefallen hat. Ich mußte sie immer wieder ansehen und bin überzeugt, daß Du recht glücklich mit ihr wirst. Es wird Dir dann auch alle Unannehmlichkeiten in Deiner neuen Stellung in München erträglicher machen, da sie Dich durch ihr heiteres, kluges Wesen stets aufheitern wird und so liebevoll für Dich zu sorgen weiß.
Grüße die liebe Pauline und die ganze Familie de Ahna recht herzlich von mir.
Deine treue Mutter
Doch schon bald nach der Heirat traten auch mit Strauss’ Eltern Spannungen auf, für die sich der junge Ehemann wiederholt rechtfertigen musste:
Ich wäre glücklich, wenn meine fortdauernden Bemühungen, zwischen meiner Frau und meiner Familie ein gutes Einvernehmen zu erzielen, nicht von so geringem Erfolg gekrönt sind. Wenn ich Euch versichere, daß sie das redliche Bemühen hat, ihre kleinen, zum Teil recht harmlosen Fehler (die sie selber und ich am besten kennen) zu verbessern, daß ein elender erlogener Altweiberklatsch (wie der, auf Grund dessen ihr heute morgen so schlimme Vorwürfe gegen Pauline erhobt) genügt, um von vorneherein liebevolle Nach- und Einsicht für Pauline’s unüberlegte, heftige, zu burschikose, aber im Grunde seelengute kindlich-naive Art zu zerstören, frage ich mich, ob es nicht besser wäre, den Verkehr zwischen Euch und Pauline ganz aufzuheben. [...]
8 Die Hochzeit am 10. September 1894 in Marquartstein
Sie hegt für Euch im Grunde ihres eifersüchtigen Herzens aufrichtige Liebe und Verehrung. Ich kann nicht immer den leider erfolglosen Erklärer der verschiedenen Eigenschaften meiner Frau machen, die ich nach sehr reiflicher Überlegung zu der meinigen erkoren habe und sie trotz ihrer Fehler liebe und verehre [...]
Der Ton zwischen den Eheleuten zeugt auch zumeist von gegenseitiger Liebe, Verehrung und von einer gesunden Portion Humor, wie die folgenden Briefstellen zeigen.
Berlin, den 16. März 1895
Meine süße allerliebste Frau!
Zeller hat heute auf der Probe prächtig gesungen und mir große Freude bereitet, er hat die Sache jetzt gut verdaut und besonders die Fürstenerzählung, die in Weimar stets etwas verunglückt, famos zur Geltung gebracht. Das Orchester klingt grandios und wenn das Volk nicht gar zu dumm ist, müßten sie, wie ich, schon merken, daß der »Guntram« verdient, an den heutigen Theatern, nicht aufgeführt zu werden. Da dieselben nur mehr Schund bringen. Ha – Schund bringt – Tantiemen!
[...]
Wie geht es Dir, süße, liebe Pauline? Hoffentlich so gut wie mir, übrigens Zeller läßt Dich besonders herzlich grüßen. Hast Du mich lieb? Freust Du Dich auch so auf meine Rückkehr nach München wie ich? Sei fleißig, Häschen, sing schön, schmiere dein Kehlchen, damit ich mit Dir üben kann.
Im übrigen Grüße und 10000 Küsse Deines sonst nur gegen Dich sehr sterblich verliebten
R
Mit einem Zitat aus Engelbert Humperdincks Oper »Hänsel und Gretel«, die Richard und Pauline 1893 gemeinsam in Weimar zur Uraufführung gebracht hatten, beginnt der folgende Brief der lebens- und auch kauffrohen jungen Ehefrau.
München, Donnerstag 12. März 96
Mein liebstes gutes Schätzchen,
Ich bring Dir was für’s Kröpfelchen, doch besser noch fürs Köpfelchen von einem klugen Hänselchen! D.h. ich schreibe Dir schon wieder und gebe Dir geistiges Manna!!!! Eine kurze Sing-Pause benütze ich, um Dir zu sagen, daß ich sehr beruhigt bin Dich wohlauf und in Rußland nicht zu kalt zu wissen. Ich bin fleißig, hüben und drüben, leider auch in den Läden, indem ich bei Bernheimers Ausverkauf von echten Teppichen 2 mittelgroße und 1 kleinen erstand, summa circa 70 M! Aber wir bedürfen derselben und kommt einer in Dein und einer in mein Zimmer und der kleine unter meinen Schreibtisch.
Es folgen weitere Schilderungen von Einkäufen sowie einer am Tag zuvor gesehenen Aufführung von »Robert der Teufel«. Pauline schließt mit dem Bericht über Korrespondenz-Tätigkeiten, die sie im Laufe der Zeit immer widerstrebender übernahm. Zuvor eine Mahnung an den Gatten, der es nicht liebte, in großer Runde frei zu sprechen:
Hoffentlich hast Du Riesenerfolg, halte ja flotte Ansprachen, auch bei der Verabschiedung und verkälte Dich nicht, gutes Männchen! Klughardt aus Dessau meldete Dir heute brieflich von den großen Erfolgen des Eulenspiegels in Dessau; ich werde in Deinem Namen danken. Motti schrieb soeben kurz, daß er sich riesig auf Eulenspiegel am 21. in Karlsruhe freue und bittet Dich, ihm die Partitur zu leihen, ich schreibe diesbezüglich an Ritter. Na, bin ich nicht eine geschickte Korrespondentin?
Für heute Kuß und eine ganz zärtliche Umarmung! Heut hat Dein getreues Weiberl im Traum sehr an Dich gedacht, komm bald zu mir zurück!
P
Richard antwortet mit einer sehr plastischen Schilderung seiner Ankunft in Moskau, das zu jener Zeit zwar nicht Hauptstadt, aber ein kulturelles Zentrum des Zarenreiches war.
Moskau, 18. März 1896
Mein liebstes Pauxerl!
Da bin ich nun glücklich! Die Reise war sehr angenehm, an der Grenze nachts ½ 2 Uhr ging’s glatt, der russische Schlafwagen von Warschau ab höchst komfortabel und warm mit Doppelfenster, kein Kohlenstaub, da alles mit Holz geheizt, ein sehr gemütlicher Restaurationswagen im Zuge, vortreffliche Küche, die Gegend in ihrer totalen Einförmigkeit, Wälder und Ebenen, Felder und Wälder, gestern schneefrei, heute von Smolensk an dick weiß, gestern –1 Grad, heute –6 Grad Reaumur, die Dörfer, die man ab und zu sieht, nehmen sich wie Haufen verschneiter Heuschuppen aus – also die Gegend ungemein beruhigend, ich vertrieb mir mit Essen, Schlafen, Lesen und Komponieren prächtig die Zeit und bin also ganz frisch und munter um 7 Uhr hier im heiligen Moskau eingebummelt, von meinem Freunde, dem Klavierlehrer Pohl, überraschenderweise am Bahnhof empfangen, sofort in einen offenen Schlitten verpackt und nach dem stattlichen Hotel verladen worden. Droschken gibt’s nicht. Alles, auch dekolletierte Damen ins Konzert, fährt im offenen Schlitten, ohne Glocken, ohne Laternen, ein tolles Treiben, die einspännigen Schlitten sind nicht höher wie unsere Rennschlitten, alle Augenblicke stößt einem ein Pferd’skopf in den Hals.
Moskau macht mit seinen Riesenstrassen und einstöckigen Häusern einen höchst originellen Eindruck. Nachdem wir gegessen (großartigen Kaviar mit Schnaps), bummelten wir noch nach dem Kreml, der allerdings, soweit ich bei Nacht sehen konnte, etwas ganz enorm Großartiges zu sein scheint. Diese tollen Kirchen, eine an der anderen, vor der Kaserne sämtliche 1812 erbeuteten (resp. im Schnee gefundenen) Kanonen, die große zerbrochene herabgefallene Glocke im Hof, die prachtvolle Aussicht auf den Fluß tief unten, der Richtplatz Iwans des Grausamen, das alles hat Kolorit und scheint mir gut instrumentiert zu sein.
Morgen 10 Uhr erste Probe, die Konzerte beginnen hier abends um 9 Uhr. Ach, ich werde Dir recht schön erzählen können! Das nächste Mal hoffe ich, Dich mitnehmen zu können! Wie gesagt, ich befinde mich pudelwohl, soweit es ohne Dich, mein liebstes Schätzchen, überhaupt möglich ist, habe ja keine Sorgen um mich, im offenen Schlitten bin ich sehr vorsichtig und sonst ist alles in schönster Ordnung! Mitternacht läuten die schön gestimmten Glocken!
Adieu! Möge es auch Dir recht gut gehen!
Tausend Grüße und Küsse Dein R
Im Sommer 1896 wird Pauline schwanger; der Ehemann sorgt sich, durchaus mit Recht, um seine Frau.
5. September 1896
Mein liebstes armes Bauxerl!
[...]
Ich war schon auf dem Wege zum Bahnhof, um Dich in Übersee2 abzuholen, da erhalte ich nun mit der Post, die mich über alles schmerzende Absage. Ist’s wirklich nichts Schlimmes? Haben die Blutungen aufgehört? Dies müssen, Deine Mutter sagt, die letzten gewesen sein, da sonst unser liebes ersehntes Söhnlein zuviel geschwächt wird. Derselbe braucht alle Kräfte, über die Dein lieber Körper verfügt, aufs Notwendigste und darf ihm nichts entzogen werden.
Ich hoffe, mein allerliebster Schatz, daß Du es Dir, wenn es diesmal gut abgelaufen ist, recht zu Herzen nimmst, um ein Unglück zu verhüten, indem Du selbst allergrößten Schaden leiden würdest. Ich bin sehr in Sorge! Bitte schreib mir, ob Du mich brauchst, lasse Dir fleißig den Doktor kommen, damit ich ein bisschen beruhigt sein kann; bleib ja zu Bett liegen! Wenn Du willst, komme ich sofort heim, so gern ich auch hier bin. Es ist so schade, daß Du nicht mit bist; gestern der herrlichste Septembertag, den man sich nur wünschen kann.
In der Eisenbahn fuhr mir vis a vis ein Pfaffe, dem ich lesend immer die nackten Weiber meines Gil Blas3 unter die Nase hielt; es war nur zu komisch, wie derselbe immer krampfhaft tugendboldig an den Nuditäten vorbei zum Fenster hinaus sah.
Mama hat zur Zeit eine richtige Freßwut, der ich nun leider allein Herr zu werden versuchen muß. Ich bin schon prächtig ausgeruht, gehe ganz wenig zusammen mit Mädi spazieren, sitze im Freien und erhole mich nach Kräften.
Mein liebstes, allerliebstes Liebchen! Was ich Dir alles Schöne wünsche, kann ich Dir gar nicht schreiben, aber daß ich immer in Gedanken bei Dir bin, darfst Du glauben, und wenn gute Wünsche was helfen, so muß es Dir jetzt sicher sehr gut gehen. Halt’ nur tapfer aus, ruhe Dich recht aus, bleib schön zu Bette, ärgere Dich über nichts, über gar nichts. Der schöne Lohn wird nicht ausbleiben und meine Dankbarkeit für Dich ist riesig.
Papa, Mama, Mädi und Tante Jette grüßen mit herzlichem Bedauern, Dich nicht hier zu haben, tausendmal küßt Dich aber Dein getreuer, Papa werdender Richard Soeben Dein Telegramm. Gott sei Dank! Leb wohl!
Trotz ihrer Problemschwangerschaft nimmt Pauline brieflich Anteil an der Komponistenkarriere ihres Ehemanns. Hatte sie die Handschrift des »Till Eulenspiegel«, der im ersten Ehejahr komponiert wurde, noch mit scherzhaften Randglossen wie »verrückt«, »scheußlich« und »schlechtes Geschmier« versehen, nahm sie Strauss’ Schaffen doch in Wahrheit viel ernster. Am Tage der Uraufführung von »Also sprach Zarathustra« unter Leitung des Komponisten in Frankfurt am Main schickt sie ihm diese Glückwünsche.
München, 27. November 1896
Liebster Richard!
Also heute ist der große Tag! Glück und Heil Zarathustras Tönen! Streng Dich nur nicht zu viel mit Besuchen und langem Ausbleiben an; ich ängstige mich um Dich und Du kommst mir recht abstrapaziert zurück! Hoffentlich hast Du keinen Husten und Schnupfen bei diesem kalten Wetter! Vergesse nicht Deine warmen Sachen zu tragen, mein Schätzchen! Ach, so gerne ich Dir Deine Triumphe gönne, so sehr entbehre ich Dich. Du- Du- Liebster! Doch wenn Du mir gesund und frisch bleibst, will ich ja gerne die lange Trennung ertragen und mir denken, daß mein Männle statt für eines, von nun an für 2 Mägen zu sorgen hat; und was für freche Mäulerchen; im übrigen sind wir munter und sehr lebhaft und wissen nicht, wo an und aus in der engen Behausung.
[...]
Adieu, für heute guten Appetit zum Nachtmahl, vielmehr Glück auf zum Konzert, zu dem Du Dich jetzt rüsten wirst. In inniger Liebe Deine getreue Pauline
Am 12. April 1897 wird der »herrliche Riesenbube« Franz geboren, der Vater konzertiert gerade in Stuttgart. Erst nachträglich erfährt er, »in welch schwerer Lebensgefahr Pauline und das Kind geschwebt hatten«.
Voller Loyalität stellt Pauline in diesem Schreiben ihre eigenen Karrierebedürfnisse hinter Richards »häusliche Bequemlichkeit« zurück.
Marquartstein, 1. September 1897
Liebster Richard!
Heute abend Deinen lieben, treuen, inhaltsschweren Brief mit herzl. Dank erhalten.
Punkto Deiner Stellungsfrage ersuche ich Dich nach reiflicher Überlegung und Selbsteinkehr keine Rücksicht auf mein Engagement zu nehmen, sondern wenn Du lieber und profitabler in Hamburg bist, dorthin zu gehen, bist Du lieber in München mit 12.000 M., dann bleiben wir in München, liebster Schatz! Gehst Du gerne nach Hamburg, weil sie Dich in München drücken wollen – meinen Liebling – dann gehe ich nach Hamburg ohne gleich mein Engagement durchdrücken zu wollen; ich gehe dann mit Dir und sehe ich, daß Klima, Verhältnisse, Deine häusliche Bequemlichkeit mir hinreichend gestatten meine künstlerische Tätigkeit wieder aufzunehmen, dann ist es, wenn wir beide dort eingewöhnt sind – immer noch Zeit an mich zu denken. Doch bitte mich jetzt bei Deinen Bedingungen vollständig aus dem Spiele zu lassen und nur das in jeder Beziehung für Dich, uns und Buberl Vorteilhafteste zu wählen!!!
9 Die stolze Mama Pauline mit dem »herrlichen Riesenbuben« Franz
Genug davon und meine innigsten Segenswünsche für Dich in dieser Angelegenheit!!
Das Kind ist lieb, sanft und gesund, ein herziger Kerl, er hielt heute abend ganz stolz Deinen Brief.
Ich selbst bin in recht trüber Stimmung, weinte heute den ganzen Tag, eigentlich ohne Grund, ich nehme eben alles recht schwer und meine Nerven lassen recht zu wünschen übrig, liebster guter Richard! Mein ganzes Glück bist Du und Bubi, möge es mir erhalten bleiben und trachten wir uns viel zu verdienen, damit Du bald Dir selbst leben kannst. Also am 10. Ds. Bist Du gewiß hier, ich freue mich unsäglich, ich weine vor lauter Sehnsucht nach Dir, ach mir ist’s oft schwer, so schwer ums Herz, alle trösten mich.
Für heute gute Nacht, mein Richardi! Ich umarme Dich in größter Liebe!
Paula
Der Ehemann antwortete postwendend und mit einer rührenden Liebeserklärung, ohne auf die trübe Stimmung Paulines näher einzugehen – offenbar ist er die Launen gewöhnt.
Meine Geliebte, süße, reizende Frau!
Du hast mir einen so entzückenden, herrlichen Brief geschrieben, daß ich nicht weiß, wie ich Dir dafür danken soll. Derselbe war mir eine wahrhafte Stärkung bei den schweren Sorgen, die ich in der gegenwärtigen Krisis in meinem Hirn herumzuarbeiten habe, um das Gescheiteste und für unser beider Wohl und Ruhe Ersprießlichste auszudeuten. Du bist eine liebe, brave, prächtige Frau und wer Dich sein nennt, der hat eine Stütze und einen Tröster für sein Leben, daß ihm für keine Zukunft bange zu sein braucht.
[...]
Morgen bin ich bei Boy-End in den Jahreszeiten mit Sporks zu Tisch. Du hast doch eigentlich Sauglück, daß Du nicht hier bist. Aber Du mußt nicht mehr weinen und traurig sein, denn ich denke, es wendet sich alles zum Guten, und unser Bübchen und seine liebe Mutter sollen’s gut bei mir haben und ein schönes Leben führen! ... Tausend Dank nochmals für Deinen herrlichen Brief, sei nicht mehr traurig und gedenke stets fröhlichst
Deines Dich innigst umarmenden R.
Bei Pauline stellen sich – wie auch ihr voriger Brief zeigt – bald Depressionen ein, die weit über die normale postnatale Traurigkeit hinausgehen. Regelmäßig entladen sich Kräche, auf die neuerliche Niedergeschlagenheit folgt. Wohl wenige haben Pauline Strauss – die folgenden Brief mit dem Namen »Bi« unterzeichnet, den sie sich selbst als Kind gegeben hat – in dieser Gemütsverfassung kennengelernt:
München, Abends 8 Uhr 26. Okt. 97
Liebster Richard!
Ich sitze so traurig allein und habe solche Sehnsucht nach Dir, daß ich unendlich traurig bin und es Dir unbedingt schreiben muß; ich las eben einige Deiner lieben Briefe aus Athen und da sprachst Du mir damals von Deiner Sehnsucht nach mir; denke ich nun über das alles nach und wie lieb wir uns doch beide haben und von Anbeginn an schon hatten, so bin ich doppelt unglücklich über mich, daß ich Unglückselige Dir solche Szenen zu machen im Stande bin wie neulich abend. Verzeihe mir, mein lieber guter Mann, mehr kann ich Dir nicht sagen, als daß ich Dich innig um Verzeihung bitte, der ganze Auftritt ist mir in traurigster Erinnerung und ich flehe Dich an, mich nur desto lieber zu haben, denn ich bin das bedauernswerteste Geschöpf und ganz trostlos, Dich so betrübt zu haben. Mein süßer Mann, wenn Du wüßtest, was Du mir bist und wie ruhelos ich ohne Dich bin, es fehlt mir das Licht zum Leben und zu allem die Freude, wenn Du nicht da bist, ich bin unendlich traurig und tief verstimmt, warum bin ich so elend schlecht gegen Dich? Wenn Du nur wüßtest wie ich darüber alteriert bin, mein geliebter, lieber Richard; den ganzen Tag denke ich darüber nach und hoffe auf Besserung.
Wie gut und edel bist Du stets gegen mich und wie schlecht benehme ich mich, mir schaudert vor mir, am liebsten möchte ich sterben, dann wärst Du von mir befreit und mir wäre es leichter. Mein bester Richard, ich wollte ich wäre anders und Du deshalb glücklicher mit mir.
Bei dem herrlichen Wetter war Bübchen vorm. und nachm. spazieren gefahren, unser lieber kleiner Spatz, er muß sich erst an die Neue gewöhnen. Adieu für heute, Liebster! Tausend Küsse auf Deinen treuen, guten Mund und die lieben Augen.
Deine Bi
Die Zeiten der berufsbedingten Trennung waren für Richard Strauss und Pauline mindestens so »ungenießbar« wie der Gesundheitstee, mit dem sie ihn ausgestattet hat.
Charlottenburg, 2. Sept. 99
Geliebtes Bauxerl!
So sitze ich denn in meiner Einsamkeit recht trübselig, komponiere und saufe Deinen schlechten Tee, trotzdem er eigentlich ungenießbar ist, was mir aber noch nie so sehr aufgefallen ist, wie diesmal. Im Theater der alte Trödel. [...]
Oder im gleichen Sinne, eine Woche später:
Mein liebes süßes B!
Meiner Jubiläumskarte von heute mittag muß ich noch ein paar Zeilen nachsenden, um Dir zu sagen, daß so ein Hochzeitstag solo doch eine recht ungemütliche Sache ist. Wenn ich auch den ganzen Tag an der Arbeit sitze, fürs eigentliche Leben braucht man eben doch seine lieben Plagegeister, und wenn man nun das gemütliche, schöne Familienleben gewöhnt ist, wie ich – und wenn man sich so lieb hat wie wir zwei uns und unseren herrlichen Buben, da wird einem die Solistenherrlichkeit recht sauer. [...]
Pauline, bald wieder selbstbewusster, kündigt an, den Ehemann beim Wiedersehen auf Distanz halten zu wollen:
Marquartstein, 26. 9. 99
Meine liebste, verlassene Maus!
Heute abend Deinen lieben Brief von gestern Montag 24. ds. freundlichst dankend erhalten; für Deine schlechte Laune kann ich aber wirklich nichts, mein Gutester, ich finde, daß ich und Bubi hier in dem angenehmen Besitztum wirklich den Sommer in der herrlichen Luft ausnützen müssen. [...]
Ich komme nach München am 13. oder 14. und bitte Dich inständigst, lieber Richard, mich nicht mit Deinen Zärtlichkeiten zu quälen, Du weißt, wie zuwider mir das ist und daß es mich einfach krank macht. Ich habe mich jetzt so herrlich erholt, daß ich meine Gesundheit und Stimme nicht gleich wieder aufs Spiel setzen möchte. [...]
Nun gute Nacht, mein liebster guter Richard, sei innigst umarmt und abgebusselt vom netten Buberl von Deinem gesunden, kopfwehbefreiten
Bauxerl
Richard, ganz Bildungsbürger, versucht sein »liebes liebes Bauxerl« durch literarisches Lob bei Laune zu halten:
Dienstag 3. Okt. 1899 ½ 3 Uhr
Mein liebes liebes Bauxerl!
Soeben beim Mittagsmahl Deinen so sehr reizenden Brief vorgefunden und möchte Dir vor Allem ein Kapitallob spenden, daß Du so fleißig und daß Du so hübsch und interessant schreibst; Du hast im Stil wirklich hübsche Fortschritte gemacht! Die gute Lektüre, die ich Dir stets vorsetze, schlägt gute Früchte, daß ich lauter so schöne Briefe zu lesen bekomme! Bravo mein liebes liebes Bauxerl! [...]
... doch sie durchschaut ihn:
Nachmittag ¾ 2 Uhr 5. 10. 99
Liebster Richard!
Heute früh Deinen lieben Brief vom 3.ds. höchlichst erfreut und erstaunt über Deine Elogen betreff meinen Stil; oh Du Schlaumeier, jetzt willst Du mir schmeicheln, um mich in gehobene Laune zu versetzen; ich wüßte nämlich nicht, was ich so besonderes geschrieben hätte. [...]
Am Beginn des folgenden Briefes geriert sich der 37-Jährige ganz als Zukunftsmusiker und Festspiel-Bedürftiger à la Richard Wagner – dann wieder ist er ganz der Privatmann, dem Pauline in ihrem vorangegangenen Brief »Kleiderluxus« vorgeworfen hat.
Prag, 8. Oktober 1901
Also heut, geliebtes Pauxerl, war die erste [»Guntram«-] Probe: von 10 bis 15.30!
Eigentlich war’s fürchterlich: aber in Anbetracht der hiesigen Mittel und daß das tolle Werk eigentlich, wie ich immer mehr einsehe, an einem Normaltheater wegen seiner blödsinnigen, hirnverbrannten Schwierigkeiten absolut unmöglich ist – wars beinahe ein Wunder! Guntram ging eigentlich nur an einem Festspielhaus mit hundert Mann Orchester und dann erst in 50 Jahren, denn vorher ist das Musikohr dafür noch nicht reif. [...]
Schade, daß Du nicht da bist – an solchen Schlachttagen bräuchte man mehr als je tröstlichen Zuspruch, da man den anderen Leuten gegenüber doch immer mehr oder minder Komödie der Gutmütigkeit spielen muß.
Daß ich Kleiderluxus treibe, finde ich großartig, ich der alles trägt bis die Fetzen herunter hängen, der sich mit seinen geflickten Hosen vor der Hausdienerin im Hotel geniert, der bis jetzt lauter Kleider (Frack, schwarzer Rock etc.) von München her noch getragen hat. Jetzt endlich ging’s gar nicht mehr: na wir wollen einmal unsere beiderseitigen Kleiderrechnungen in den letzten drei Jahren vergleichen! Ich würde Dir raten, lieber nicht!
Schluß für heute! Tausend Grüße und Küsse – wärst Du doch hier – Dir und Bubi, Grüße an die Eltern
Dein R.
Wenig später bricht wieder der Streit um den spätsommerlichen Aufenthaltsort Paulines los (Berlin oder Marquartstein?), den er mit demonstrativem Selbstmitleid und rüden Tönen führt. Doch auch Pauline zeigt eine erstaunliche Vehemenz, sie gibt dem Genie – um es mit einem Ausdruck aus dem Skat zu formulieren – »Kontra«.
Charlottenburg, 21. September 1901
Liebe Paula!
Ihr tut Euch ja recht leid; also bis in den Oktober wollt Ihr [in Marquartstein] bleiben? Das sind ja schöne Aussichten, und ich? Von der Schwiegermutter aus Marquartstein rausgeschmissen, von Weib und Kind verlassen, an mich denkt natürlich niemand. [...] Ich habe diese ganze Quängelei so dick satt, wie ich es Dir gar nicht sagen kann! Wir können ja auch in Berlin bleiben und im Grunewald spazieren gehen!
Der Teufel hol die ganze ekelhafte Wirtschaft! Also ich bitte mir aus, daß Ihr nächsten Donnerstag zu Hause seid – nicht länger mehr die armen geplagten Schwiegereltern abfresst, Handtücher abnützt, Bettwäsche ruiniert etc.
Hier ist’s auch hübsch, Bubi wird sich im zoologischen Garten noch sehr gut amüsieren, man kann heute auf dem Balkon sitzen – kurz und gut: es ist genug und definitiv Schluss für alle Zeiten. Mir ist nunmehr die Geduld gerissen! Das Haus ist nicht feucht! Nein! Bitte befühl mal die Wände auf der Nordseite.
... liebes Kind, hab ein Einsehen und komme bald. Brauchst Du noch Geld? Soll ich Dir noch 100 Mark oder mehr schicken? Lebe wohl für heute und denk auch ab und zu mal an die Wünsche Deines Dich herzlich grüssenden Mannes. Bin sowieso mißvergnügt, weil mir nichts einfällt: nun auch noch der ganze Verwandtentratsch!
R!
Marquartstein, 12. Okt. 01
Lieber Richard!
Soeben Deine Karte vom Freitag. – Ich möchte wissen, warum ich und das Kind die ganze Zeit in Berlin sitzen sollten, wo Du immer unterwegs sein mußt. Ich bin froh und dankbar und vergnügt, daß ich hier so gut sein kann und Du mißgönnst es einem. Daß Du ein Egoist bist, hast Du nicht gestohlen, ich bin nun auch so geworden und befinde mich ebenfalls wohl dabei.
Habe ein Einsehen und lasse uns noch diese Woche hier, lieber Richard, wenigstens solange das Wetter so schön; bitte schreib darüber.
Daß ich gern mit meinen Eltern bin, kannst Du nicht verhindern und Deine nächstjährigen Maßregeln, mit denen Du drohst, lassen mich kalt und ich werde sie stets zu umgehen wissen! Tatsache ist, daß ich, wie Du in Berlin schon wußtest und ich Dir nur immer wieder aufs Neue sagen und versichern kann, daß ich ungern und gezwungen zu Dir gehe und daß ich am zufriedensten und ruhigsten hier bin, ob mit, ob ohne Eltern.
10 Großvater Franz mit Enkel Franz
Mehr kann ich dazu nicht sagen, und wenn Du es nicht glaubst, dies ist nicht zu ändern. Aber gerne habe ich dich nicht mehr und ich kann Dich auch nicht mehr so lieben wie früher, bei mir ist’s aus – ohne Grund – aber ich bin fertig mit Dir und das Leben neben Dir ist mir eine Last und eine Lüge. Du hast’s nicht verdient um mich, gewiß, aber ich kann mich nicht mehr zwingen und sehe eigentlich nicht ein, wozu ich noch zurück soll, zu neuen Szenen, Alterationen, die man so schön vermeiden kann!
Willst Du mir nicht in diesem Sinne antworten, dann schicke ich Dir Bubi mit Martha allein; sei noch das eine Mal nachgiebig und gut; aber für mich bist Du, Dein Beruf etc., eine Qual. Wenn ich’s sage, glaubst Du’s nicht, jetzt kann ich nur mehr handeln.
Pauline