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II. Geschichte der Grundrechte

1. Aufklärung und Herrschaftsordnung

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant, 1784).

Kant, Lessing, Herder, Voltaire, Locke und andere Aufklärer glaubten, durch den Gebrauch des Verstandes, der Vernunft, die mittelalterliche Herrschaftsordnung nach Ständen zu verändern.


In der Gegenwart finden sich ähnliche Hierarchien in Diktaturen, an deren Spitze etwa ein politischer, religiöser, militärischer Herrscher steht, ein „Führer“, ein „Geliebter Führer“, „Großer Vorsitzender“, „Duce“, „Máximo Líder“, „Generalissimus“, „Retter des Vaterlandes“ usw.

Die Untertanen haben keine oder kaum Freiheits-, Gleichheits- oder Schutzrechte wie im europäischen Mittelalter:

Ungleichheit:

Durch Geburt und „von Gottes Gnaden“ unabänderlich vorbestimmt.

Unfreiheit:

persönlich:verkäuflicher Besitz des Herrschers, ortsgebunden, bis in den intimen Bereich vom Willen des Herrn abhängig
wirtschaftlich:kein Grundbesitz für das Volk, nur Pacht, Lehen, gegen Verpflichtungen zu Abgaben, Diensten, Frondienste
religiös:Herrscher bestimmt die Religion (heute auch Ideologie).
politisch:Herrschaft ist gottgewollt, vorbestimmt, absolut, richtig.

Schutzlosigkeit:

Die absolute Macht liegt beim Herrscher durch die Gewalteneinheit:

– Er legt seine Gesetze selber fest → Abgaben, Steuern, Dienste,

– setzt seine Gesetze selber durch → Verwaltung, Polizei, Militär,

– richtet und urteilt eigenmächtig gemäß seinen Gesetzen.

Ziele der Aufklärung:

– Die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.

– Allen Menschen ihre angeborenen Menschenrechte zurückzugeben.

2. Menschenrechte – Naturrechte

Menschenrechte gelten

– als Naturrechte: Rechte, die der menschlichen Natur angeboren, unveränderlich, unveräußerlich innewohnen,

universell für alle Menschen in allen Völkern, Staaten und Kulturen – allein auf Grund des weltlichen „Menschseins“,

unabhängig von Weltanschauungen, Ideologien oder Religionen, unabhängig von Herrschaftsordnungen, staatlichen Gesetzen, Titeln.

Jeder Mensch besitzt für sich – als Individuum –

– Freiheit und Selbstbestimmung,

– Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum u. a. Schutzrechte

– in gleicher Weise.

Als materielles überstaatliches Recht hat der Staat Naturrechte zu gewährleisten. Sie stehen dem positiven1 Recht gegenüber; den vom Staat gesetzten Normen, die er gewähren oder verwehren kann.

Die Idee der Naturrechte findet ihre konkrete rechtliche Umsetzung in den Grund- und Menschenrechten demokratischer Verfassungen ab 1776.

3. Amerikanische Unabhängigkeitserklärung – 1776

1620 landeten religiös verfolgte Puritaner aus England in Amerika. Hunderttausende politisch, religiös, rassistisch verfolgte Europäer folgten.

1776: Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (gekürzt zitiert):

Staatliche Unabhängigkeit vom Mutterland England

Grundrechte gelten nur für Weiße. Sie schreiben fest,

dass alle Menschen gleich geschaffen sind,

dass sie mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind,

dass dazu Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören.

Zur Sicherung dieser Rechte werden Regierungen eingesetzt, die ihre Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten.

Es ist das Recht des Volkes, eine neue Regierung einzusetzen, wenn immer eine Regierung die Rechte der Regierten missachtet.

4. Französische Revolution – 1789 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

Als der französische König erneut Steuererhöhungen ankündigte, rief das Volk, der 3. Stand, zur Revolution gegen die Herrschaft des Adels auf. Leibeigenschaft, Standesunterschiede, Adelsvorrechte wurden abgeschafft.

Am 14. 7. 1789 wurde die Bastille, die königliche Festung in Paris, gestürmt. Heute ist der 14. Juli Nationalfeiertag in Frankreich.

Die Ziele der Französischen Revolution

„Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“

Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ vom 4. 8. 1789 legt fest:

– „Die Menschen sind frei und gleich … geboren und bleiben es.“

– Brüderlichkeit hindert die Ausübung der Freiheit zum Schaden anderer.

– Geschützt werden Leben, Eigentum, Sicherheit bei Haft u. a. Rechte.

– Die Grundrechte

– sind gesetzlich geschützt und einklagbar,

– binden die vom Volk gewählte Legislative, Exekutive und Judikative.

5. Deutsche Revolution und Paulskirchenverfassung – 1848/49

In den Befreiungskriegen, die die europäischen Mächte gegen Napoleon führten, unterstützte in den „deutschen“ Kleinstaaten das Bürgertum die adeligen Machthaber in der Hoffnung auf nationale Einheit, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit, auf

„Einigkeit und Recht und Freiheit“.

Dennoch stellte der Wiener Kongress nach dem Sieg über Napoleon die feudalen Herrschaftsverhältnisse wieder her (Restauration).

In der Märzrevolution von 1848 wurde der Adel entmachtet und eine verfassunggebende deutsche Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche gewählt. Die Volksvertreter aus den 39 deutschen Einzelstaaten einigten sich auf einen ausführlichen Grundrechtskatalog für die

Paulskirchenverfassung

Alle Deutschen besitzen angeborene und unveräußerliche Grundrechte.

– Die Grundrechte sind vom Staat zu gewährleisten.

Freiheitsrechte beziehen sich auf die Person, Glauben und Gewissen, Meinung und Presse, Vereinigungen, Versammlungen, Freizügigkeit u. a.

Schutzrechte beziehen sich auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum, Brief- und Postverkehr, Wohnung, Freiheitsentzug u. a.

Gleichheitsrechte sind nicht nur angeboren; der (Rechts-)Staat ist verpflichtet, Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen.

Der Adel als Stand ist mit seinen Vorrechten auf höhere Ämter aufgehoben.

Jedem Bürger stehen bei entsprechender Qualifikation alle öffentlichen Ämter zu.

Allgemeine Schulen sind ein erster Schritt zur Chancengleichheit.

Da der Adel die Revolution blutig niederschlug, trat die Paulskirchenverfassung nicht in Kraft. Sie wurde für das Grundgesetz zum Vorbild.

6. Deutsche Reichsverfassung – 1871

Deutschlands nationale Einigung vollendeten die deutschen Fürsten 1871 im Krieg gegen Frankreich mit der Krönung Wilhelm I. in Versailles. Die Verfassung des Kaiserreichs enthält keine Grundrechte. Sie werden in den Länderverfassungen und Gesetzen (StPO, Gewerbeordnung u. a.) gewährt.

7. Weimarer Reichsverfassung (WRV) – 1919

1918 war Deutschland besiegt. Der Kaiser musste abdanken. Die junge Demokratie musste den Versailler Vertrag, das „Friedensdiktat“, unterschreiben. Extreme Linke und Rechte bekämpften die „ungeliebte“ Demokratie radikal. Die WRV wurde in dieser Zeit äußerster Unruhen in der Stadt Weimar erarbeitet. Sie gibt der staatlichen Gewalt eine starke Stellung:

– Grundrechte sind im 2. Teil den Staatsorganen im 1. Teil nachgeordnet.

– Grundrechte gelten als Bürgerrechte nur für Deutsche.

– Sie werden im Rahmen der Gesetze gewährt, nicht gewährleistet.

– Die staatliche Gewalt ist damit nur mittelbar an die Grundrechte gebunden, die keine oberste Rechtsnorm sind.

– Staatliche Eingriffe in die Grundrechte sind nur auf dem allgemeinen Rechtsweg einklagbar.

– Bei erheblicher Störung (!) oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kann der Reichspräsident Grundrechte außer Kraft setzen.

1933 ermöglichte die ausschließlich gesetzliche Gewährung der Grundrechte den Nationalsozialisten, ihre Abschaffung als Recht zu propagieren.

8. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) – 23. 5. 1949

1945: Deutschland musste als Folge der rücksichtslosen Kriegsführung und der millionenfachen Vernichtung „nichtarischen“ Lebens durch das NS-Regime „bedingungslos“, damit ohne Rechte kapitulieren.

1949 spaltete der Ost-West-Konflikt Deutschland in zwei Staaten. Um den provisorischen Charakter beider Staaten und den Willen zur deutschen Wiedervereinigung zu betonen, benannte die verfassungsgebende Versammlung, der Parlamentarische Rat, die neue Verfassung: „Grundgesetz“.

In Abgrenzung zur WRV, die die Machtergreifung der NSDAP begünstigte, schränkte das Grundgesetz die staatliche Gewalt stärker ein.

Das Grundgesetz

– betont die unantastbare Menschenwürde und die unverletzlichen und unveräußerlichen Grundrechte im 1. Artikel.

– Die Grundrechte sind Menschenrechte bis auf die in Art. 8, 9, 11, 12 GG.

– Die Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht, als oberste Rechtsnormen jedem Gesetz übergeordnet.

– Die Grundrechte binden die drei Gewalten, die Gesetzgebung, vollziehende und rechtsprechende Gewalt – Art. 1 GG und 20 GG.

– Diese Grundsätze und der Wesenskern der Grundrechte sind unantastbar.

– Staatliche Eingriffe in die Grundrechte kann jedermann bis vor das Bundesverfassungsgericht als unabhängigem Staatsorgan verfolgen.

1 Lat.: ponere (positum) setzen, stellen, legen.

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