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1. Ich sehe das Gute in dir – Von Visionären, Seehaus-Jungs, Hoffnungsträgern und einer sehr guten Idee

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Einmal Pizza, einmal Pasta, einmal einen Hamburger. Davor drei verschiedene Vorspeisen – zum Probieren. Und drei verschiedene Säfte – frisch gepresst natürlich. So gehört sich das hier in Kolumbien.

An einem lauschigen Novemberabend sitze ich bei sommerlichen Temperaturen von vielleicht 28 Grad gemeinsam mit zwei jungen Frauen in einem Straßenrestaurant in der kolumbianischen Millionenstadt Medellín.

Wir sind zu Fuß hier. Simone wohnt in der Gegend. Anna und ich (nur für ein paar Recherche-Tage) sind im Bürogebäude des kolumbianischen Zweiges von Prison Fellowship untergebracht. Alles hier in der Nähe, ein paar Hundert Meter weit weg.

Beim Spaziergang hierher konnte ich das Stadtviertel auf mich wirken lassen. Ungewöhnlich viel Verkehr drückt sich durch die nicht besonders breiten Straßen. Denn anderswo in Medellín wird heute demonstriert, protestiert, Krach geschlagen: im Zentrum und auf den breiten Zufahrtstraßen. Tausende, vielleicht Zehntausende von Menschen machen dort gerade ihrem Ärger Luft. Trommeln mit Kochlöffeln auf Pfannen oder Töpfe. Rufen Parolen. Fordern mehr soziale Gerechtigkeit, bessere Bildung, bessere berufliche Chancen, höhere Renten. Laute Hilfeschreie einer Gesellschaft, in der die Schere zwischen wenigen Reichen und sehr vielen Armen immer weiter auseinandergeht.

Wir wollten zur Feier des Tages (Anna hat heute Geburtstag) eigentlich in der Abenddämmerung mit einer Seilbahn über die Dächer der Stadt in die höchstgelegenen Viertel schweben, mit Traumblick über eine manchmal albtraumhafte Stadt, und anschließend unten in der City fein essen gehen. Doch kundige Einheimische haben uns abgeraten: aus Sorge um unsere Sicherheit. Niemand kann ermessen, ob die Demos nicht vielleicht auch so gewalttätig enden werden wie die vor ein paar Tagen in der Hauptstadt Bogota, wo es sogar Todesopfer gab. Deswegen sind wir hier gelandet, in diesem Stadtviertel. Ein wenig ab vom Schuss. Aber auch recht nett.

Auf unserem Weg sind mir einige große Ballen mit Plastikmüll in einer Ecke aufgefallen. Und die beiden jungen Männer, die dort gerade ihr Nachtquartier aufschlagen. Auch den schon etwas älteren Herrn habe ich wahrgenommen, der mitten auf dem Bürgersteig seinen Rausch ausschlief – auf einem zerschlissenen Pappkarton, notdürftig zugedeckt mit ein paar Zeitungen.

Kolumbien ist ein faszinierendes Land: farbenfroh, lebendig, kreativ und voller Rhythmus. So erlebe ich es, seit ich vor ein paar Tagen hier gelandet bin. Aber ich habe in dieser kurzen Zeit auch schon eine Ahnung von den gewaltigen sozialen Problemen im Land bekommen: beim Blick aus dem Fenster, bei Fahrten durch Stadt und Umgebung. Und jetzt gerade beim Spaziergang hierher.

Was ich ohne die beiden Frauen an meinem Tisch (und einige weitere auskunftsbereite Menschen) nicht auf Anhieb entdecken würde: Kolumbien ist durch und durch geprägt von Gewalt. Blutige Jahrzehnte stecken den Menschen in den Knochen: Diktatur. Guerillagruppen. Paramilitärs. Drogenbarone. Brutaler Hass. Gewalt. Lynchjustiz. Korruption. Unzählige Menschen haben ihr Leben verloren. Auch wenn sich inzwischen manches zum Guten entwickelt, wenn Regierung und ein Teil der Guerilla Frieden besiegelt haben (wenigstens auf dem Papier): Die Gewalt bleibt ein schlimmer Faktor in diesem Land. Morde sind immer noch an der Tagesordnung.

Eine Folge davon: Die Gefängnisse in Kolumbien sind absolut überfüllt mit Häftlingen. Die Verhältnisse in diesen Anstalten sind verheerend. Menschenverachtend. Himmelschreiend. Jeder Knast ist eine Brutstätte für Gewalt, ein wahres „Ausbildungszentrum“ für Kriminelle.

Anna und Simone, mit denen ich heute zu Abend esse, nehmen diesen Zustand nicht hin. Beide Frauen haben sich schon in ihrer ursprünglichen Heimat Deutschland in Studium und Beruf konzentriert auf die Frage: Wie kann man Menschen, die straffällig geworden sind, am besten zurück in die Gesellschaft begleiten?

Simone, Ende zwanzig, arbeitete im heimischen Baden-Württemberg als Bewährungshelferin. Und entwickelt hier in Kolumbien Resozialisierungssprogramme für den kolumbianischen Zweig der internationalen Gefangenenhilfsorganisation Prison Fellowship. Zweieinhalb Jahre Kolumbien-Erfahrung hat sie bereits. In ein paar Monaten soll es zurückgehen nach Deutschland.

Die Hamburgerin Anna, ein paar Jahre älter und erst seit wenigen Monaten in Kolumbien, hat zum Thema „Integration von Straffälligen in die Gesellschaft“ ebenfalls schon viel studiert und viel Erfahrung gesammelt. Anna ist hier, um ein ehrgeiziges Projekt zu begleiten: Jugendstrafvollzug in freier Form. Auf einem malerisch gelegenen Bauernhof mit mehr als viertausend Avocado-Bäumen – ohne Mauern und Stacheldraht. Mit einem straffen sozialen Trainingsprogramm. Und mit der Hoffnung, dass jugendliche Straftäter so besser in die kolumbianische Gesellschaft zurückfinden als nach verlorenen Jahren im Jugendknast.

In Deutschland gibt es bereits einige solcher Projekte: Seit 2011 das Seehaus in Leipzig und schon seit 2003 das in Leonberg. Im Leonberger Seehaus hat Anna eine Weile mitgearbeitet. Sich um die jungen Strafgefangenen – die „Jungs“, wie man sie im Seehaus nennt – gekümmert. Stärken und Schwächen, Chancen und Grenzen des Seehaus-Konzepts kennengelernt. Nun soll hier in der kolumbianischen Gesellschaft etwas Ähnliches entstehen – ein Haus der zweiten Chance, das jungen Leuten zurück in die Gesellschaft hilft.

Auch wenn Gefängnisse nicht mein Spezialgebiet sind: Ich könnte den beiden charmanten Fachfrauen Anna und Simone stundenlang zuhören. Sie beobachten die Lage in Kolumbien mit offenen Augen. Sie kennen die möglichen Stolpersteine und die zu erwartenden Schwierigkeiten – und sie entwickeln und verfolgen gemeinsam mit den einheimischen Prison Fellowship-Mitarbeitern Ideen und Programme, die Hilfe bringen und das Leben vieler Menschen verändern könnten.

In ihren Augen spiegelt sich die Hoffnung darauf wider, dass die Welt nicht so böse und gewalttätig bleiben muss, wie sie ist. Das Engagement der Frauen hat eng mit ihrem christlichen Glauben zu tun: Beide haben die Aufforderung Jesu gehört. Und wollen jetzt in ihrem speziellen Lebensbereich Salz und Licht sein. Ich finde die beiden beeindruckend. Mut machend. Ansteckend.

„Worum genau soll es eigentlich gehen in dem Buch, das du schreibst?“, fragt Simone mich wie aus heiterem Himmel. Dass ich hier bin, um Gespräche zu führen, um Informationen zu sammeln, um einen Eindruck der Prison Fellowship-Arbeit hier in Kolumbien zu bekommen, das hat sich herumgesprochen. Dass aus diesen Recherchen ein Buch entstehen soll, wissen die beiden. Jetzt wollen sie es konkreter wissen. Und quetschen mich aus.

Ich fange an zu erzählen. Und merke, dass Simones Frage gar nicht so leicht in ein, zwei Sätzen zu beantworten ist:

Im Auftrag des Brunnen Verlages will ich das Leonberger Seehaus vorstellen, sein Konzept, seine Mitarbeiter, eine Reihe der Jungs, die dort gerade ihre Gefängnisstrafe „absitzen“.

Und natürlich den Mann, der das Seehaus-Konzept erfunden hat und der das Haus bis heute prägt und leitet: Tobias Merckle, Spross einer bekannten Unternehmerfamilie, Sozialpädagoge, Chef des deutschen Zweiges der internationalen Organisation Prison Fellowship, großzügiger Stifter und so manches mehr. Tobias will nicht im Mittelpunkt des Buches stehen, das hat er mehrfach betont. Er ist zwar Visionär, Geldgeber, Motor, engagiertester Mitarbeiter bei einer ganze Reihe ähnlich gelagerter Projekte in verschiedenen Ländern der Welt. Aber er investiert seine Zeit lieber in Menschen als in Medienpräsenz. Er beschäftigt sich lieber mit neuen Konzepten für seine Schützlinge als mit Talkshowauftritten. Er wirkt eher schüchtern als strahlend – aber gerade deshalb ist er vermutlich der einzige Mensch auf dieser Welt, der solch ungewöhnliche Konzepte und Hilfsangebote starten und so konsequent durchziehen könnte.

Und doch wird es im Buch viel um ihn gehen. Um seine Anliegen. Seine Visionen. Seine Hoffnungen. Seine Hilfsprojekte. Denn zum ziemlich ungewöhnlichen Ideenstrauß von Tobias Merckle gehört nicht nur das Seehaus. Auf seinem frucht baren Mist gewachsen sind auch die Hoffnungsträger Stiftung, das Konzept der Hoffnungshäuser sowie die Hoffnungs-Patenschaften.

Anna und Simone kennen Tobias. Und sie kennen all diese Stichworte und können sich darunter einiges vorstellen:

Die Hoffnungsträger Stiftung will – wie ihr Name sagt – Hoffnung stiften. Hoffnung gerade in „hoffnungslos“ wirkenden Gegenden der Welt, wo Armut und Elend besonders groß und die Zukunftsaussichten besonders schlecht sind. Hoffnung in gebeutelten Staaten wie Indien, Kambodscha und Sambia. Und eben auch Kolumbien. Hier, wo Gewalt und Blutvergießen zur Normalität gehören, wo die innere Sicherheit wackelt und die Wirtschaft taumelt.

Hoffnung will die Stiftung zum Beispiel den Angehörigen von Menschen bringen, die gerade im Gefängnis sitzen – die Hoffnungsträger vermitteln Patenschaften. Paten in Deutschland spenden Monat für Monat Geld. Das kommt einem betroffenen Kind zum Beispiel in Kolumbien zugute. Mit dem Geld werden Schulkleidung und Bücher bezahlt, Arztbesuche und so manches mehr. So bekommt das Kind eines Knackis eine Chance fürs Leben.

Hoffnung und Zukunft wollen die Hoffnungsträger aber auch Strafgefangenen in kolumbianischen Gefängnissen vermitteln. Beispielsweise durch Begegnungen und Versöhnungsgespräche zwischen Tätern und Opfern.

Und schließlich unterstützen die Hoffnungsträger hier in Kolumbien einige von Gewalttaten und Massakern besonders hart getroffene Kommunen. Und sorgen dafür, dass dort in einem langen Prozess Täter und Opfer zusammenkommen und dass „Dörfer der Versöhnung“ entstehen.

Doch nicht nur im Ausland will die Stiftung Hoffnung und Versöhnung vorantreiben. Auch in Deutschland setzt sie Zeichen:

Sie konzipiert und baut sogenannte „Hoffnungshäuser“: Oasen, in denen Deutsche und Migranten zusammenleben, einander kennenlernen, eine stabile Gemeinschaft bilden können. Orte der Begegnung, die Integration möglich machen, bevor es zu Vorurteilen, Ausgrenzungen, Abgrenzungen kommen könnte.

„Aus meiner Sicht hängt das alles irgendwie mit allem zusammen – Seehaus, Stiftung, Hoffnungshäuser“, schließe ich meinen kurzen thematischen Rundumschlag ab. Und schaue auf der Suche nach Verständnis abwechselnd Anna und Simone an. Beide nicken. Die Erkenntnis, die ich erst in den letzten Tagen gewonnen habe, ist für sie schon lange selbstverständlich.

„All das gehört zusammen. In der Person und im Anliegen von Tobias Merckle. Aber eben auch in einem Konzept mit weitreichender Perspektive. Und mit vielen verschiedenen Bestandteilen. Deswegen will ich in meinem Buch viele spannende Menschen vorstellen, die mit Seehaus oder Hoffnungsträgern zu tun haben. In kurzen Reportagen, die wie Puzzleteilchen gestaltet sind. Wer sich eines nach dem anderen von diesen Teilen vornimmt und betrachtet, bekommt dann am Ende ein gutes Gesamtbild. Ein Bild voller Hoffnung und Versöhnung. Ein Bild, das Mut machen und anstecken kann.“

Anna und Simone nicken weiter. Sie stimmen mir zu und wünschen dem Projekt viel Erfolg. Sieht so aus, als würden sie sich für mein Buch interessieren. Ich muss mir unbedingt notieren, dass die beiden ein Exemplar bekommen, wenn das Buch erscheint, geht mir durch den Kopf.

Inzwischen sind die Vorspeisen verputzt. Simone scheint ihren ultradicken Hamburger zu genießen. Anna und ich sind nur mäßig glücklich mit der nicht besonders originell abgeschmeckten Käsesoße zur Pasta beziehungsweise mit dem sehr dicken und staubtrockenen Pizzaboden. Aber egal, in netter Gesellschaft und bei einem so wichtigen Thema vergeht die Zeit wie im Flug.

Plötzlich erwische ich mich dabei, wie ich den beiden eine Frage stelle, die mich schon länger beschäftigt. Und die für mein Buch ganz wichtig ist: „Wenn ihr die Arbeit von Tobias Merckle und seiner verschiedenen Betätigungsfelder in einem Satz zusammenfassen müsstet – wie würde dieser Satz lauten?“

Beide Frauen lassen sich die knifflige Frage einen Moment durch den Kopf gehen. Dann antwortet Simone: „Es gibt keine hoffnungslosen Fälle, jeder Mensch verdient eine Chance und soll sie bekommen. Davon ist Tobias Merckle überzeugt, und das will er in seinen verschiedenen Projekten umsetzen.“

Ein sehr guter Vorschlag, finde ich. So könnte man Anliegen und Konzept der verschiedenen Initiativen zusammenfassen, die ich in meinem Buch vorstellen will: eine Chance für jede und jeden. Eine zweite Chance. Und dann vielleicht noch eine dritte und vierte. Auch für scheinbar „hoffnungslose Fälle“ wie Strafgefangene, Kinder aus extrem armen Familien, Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse. Sie alle sollen um Gottes willen gesehen, verstanden und gefördert werden. Und können dadurch zu Hoffnungsträgern werden.

Anna nickt. Auch ihr gefällt Simones Vorschlag. Dann erinnert sich Anna plötzlich an einen Satz aus Südafrika, den sie einmal von einer geistlichen Begleiterin gehört hat: „Sawubona. Ich sehe das Gute in dir.“

„Sawubona“ sagen die Zulu als Begrüßung. Und so formulieren sie gerade auch dann, wenn ihr Gegenüber einen Fehler gemacht hat. Wenn er etwas gestohlen hat. Oder zugeschlagen, zerstört, missbraucht.

Dann wird der Übeltäter, so berichtet Anna, in einen Kreis gestellt. Sein Vergehen wird nicht verschwiegen, sondern ausgesprochen. Aber es gilt dabei eben auch: „Wir sehen das Gute in dir.“ Und wir wollen dir deshalb helfen, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren. Deine Schuld zu bereuen. Ein anderes Verhalten einzuüben. Deine Chance zu nutzen. Einen Neuanfang zu wagen, eine Versöhnung: Ja, du verdienst eine zweite Chance. Zu deinem Wohl und zum Wohl der Allgemeinheit.

Mensch, das ist es. Ganz genau. In meinem Hirn gehen innerlich ein paar leuchtende Feuerwerke hoch. Vermutlich kann man ihren Schein in meinen Augen erkennen. „Jeder verdient eine zweite Chance“ – so lässt sich all das trefflich zusammenfassen, worum es in diesem Buch gehen soll.

Der Kellner in dem kleinen Lokal schaut nun schon zum dritten Mal bei uns vorbei und fragt, ob noch irgendetwas fehlt. Ich sehe mich kurz um und stelle fest: Wir sind die letzten Kunden. Er will offenbar Feierabend machen.

Ich zahle. Bedanke mich bei Anna und Simone für den wunderbaren Abend. Für all das, was ich gelernt habe über sie und die Projekte, in die sie so viel Liebe, Zeit, Kraft und Kompetenz stecken. Und besonders bedanke ich mich für ihre Ideen zum Buch.

Was die Speisen angeht, kann ich dieses Lokal (dessen Name ich hier geflissentlich verschweige) nicht uneingeschränkt weiterempfehlen. Immerhin, die Säfte waren große Klasse.

Die besondere Atmosphäre an diesem Ort aber hat mich auf dem Weg zum fertigen Buch einen großen Schritt vorangebracht. Danke, Anna und Simone. Und: Gott sei Dank für diese besondere Runde.

Jeder verdient eine zweite Chance

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