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3. Die Last der Vergangenheit – Peter

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Diese Nacht wird Peter nie mehr vergessen. Der große Fehler, den er gemacht hat, wird ihn beschäftigen bis ans Ende seines Lebens. Auch dann noch, wenn er seine Haftstrafe abgesessen hat und wieder ein freier Mann ist. Denn Peter trägt Verantwortung dafür, dass ein junger Mensch wie er jene Nacht im Jahr 2017 nicht überlebt hat. Und das kam so:

Zum Sommerfest trifft sich die gesamte Jugend des Dorfes, in dem Peter lebt. Peter ist gerade fertig mit der Schule. Hat die Fachhochschulreife in der Tasche. Hat begonnen mit einem Bundesfreiwilligenjahr in einem Krankenhaus. Will sich anschließend zum Kinderpfleger ausbilden lassen. Kriminell ist Peter nicht. Aufgewachsen ist er in geordneten Verhältnissen. Aber er säuft. Nicht regelmäßig. Aber wenn, dann maßlos. Leider.

Genau das hat er auch beim Sommerfest vor. Deswegen hat er sein Auto sicherheitshalber bei einem Freund abgestellt. Dort will er übernachten. Und erst am nächsten Morgen weiterfahren.

Doch dann bitten ihn irgendwelche Bekannten, sie nachts noch heimzubringen – obwohl er sturzbetrunken ist. „Damals war ich nicht willensstark“, erinnert sich Peter (der für dieses Buch einen anderen Namen gewählt hat).

Was genau geschehen ist? Er weiß es nicht mehr. Hat nur noch Bruchstücke der verhängnisvollen Nacht im Kopf. Er muss die flüchtigen Bekannten ins Auto geladen haben. Losgefahren sein. Und dabei dann einen Jugendlichen übersehen haben, der einfach so auf der Straße lag. Vermutlich ebenfalls schwer alkoholisiert.

Peter überrollt ihn. Realisiert nicht, was er tut. Und fährt weiter. Gegen halb vier Uhr morgens landet er im Bett. Nur neunzig Minuten später weckt ihn die Polizei. Peter, sein Bruder und auch seine Schwester werden mit zur Wache genommen und verhört. Sie erfahren: Der Jugendliche ist an den Folgen des Unfalls gestorben.

Peter ahnt, dass sein Leben von nun an einen anderen Verlauf nehmen wird als geplant.

Peter wird zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt, u. a. wegen fahrlässiger Tötung und Fahrerflucht. Zwei Monate lang durchlebt er den monotonen Alltag im Jugendknast Adelsheim. Dann landet er im Seehaus – einer alternativen Form von Jugendgefängnis.

Von der Ankunft im Seehaus an bemerkt Peter: Hier weht ein vollkommen anderer Wind. Hier werden junge Straftäter nicht weggesperrt, nicht abgeschoben, nicht sich selbst überlassen. Hier werden sie als Menschen ernst genommen.

Und hier werden sie von Anfang an auf den Tag ihrer Entlassung vorbereitet. Hier müssen sie sich an einen sehr streng geregelten Tagesablauf gewöhnen. Müssen eine ganze Fülle von festen Regeln einhalten. Sind sie von frühmorgens bis spätabends unter Beobachtung. Müssen beim Sport mitmachen, müssen lernen, müssen arbeiten. Müssen sich daran gewöhnen, angemessen und höflich miteinander zu sprechen. Müssen auf Kraftausdrücke und Gewalt verzichten. Zusammenarbeiten statt gegeneinander zu kämpfen.

Und nur wer all das begreift und sich entsprechend verhält, kann sich kleine „Erleichterungen“ verdienen – er darf zu festgelegten Zeiten rauchen. Mit der Freundin telefonieren. Später einen Besuch zu Hause machen.

Wer sich im Seehaus auf die Welt „draußen“ vorbereiten will, der dient sich gewissermaßen hoch in einer Hierarchie mit jeweils festgeschriebenen Regeln und Erleichterungen.

Im Seehaus – das hat Peter schon in Adelsheim erfahren – sind nur Freiwillige. Freiwillige wie er, der ganz bewusst hierher wollte. Jugendliche Straftäter, die niemanden umgebracht haben und auch kein Sexualdelikt begangen haben. Die aus dem Jugendgefängnis heraus mit eigener Hand einen Antrag schreiben und abschicken mussten: Ich will meine Haftstrafe unter den harten Bedingungen des Seehauses angehen, statt sie im Gefängnis nur „abzusitzen“. Ich will es lernen, aus dem Kreislauf der Kriminalität auszusteigen.

Peter ist vom Elternhaus her Disziplin und Arbeit gewöhnt. Und so kommt er schnell zurecht mit den Regeln in der für ihn noch vollkommen fremden Seehaus-Welt. Schon im Jugendgefängnis in Adelsheim hat er die sogenannten „zwölf Grundlagen“ auswendig gelernt. Die Fundamente, die dafür sorgen, dass das Zusammenleben im Seehaus gelingt. Wer sich regelmäßig nicht an diese „Grundnormen“ hält, muss zurück ins Gefängnis. Wer sie akzeptiert, verinnerlicht und einübt, der kriegt die Chance, immer mehr kleine Freiheiten und Erleichterungen zu genießen.

Einige der Regeln scheinen genau zugeschnitten zu sein auf Peter und das Verbrechen, das ihn hierhergebracht hat:

„Grundnorm 1: Wir verletzen niemanden – weder durch Worte noch durch Taten.

Grundnorm 5: Wir übernehmen Verantwortung für uns selbst, andere und das Seehaus Leonberg.

Grundnorm 6: Wir werden nichts tun, das uns selbst oder das Seehaus Leonberg in ein schlechtes Licht rückt.

Grundnorm 8: Wir nehmen keine berauschenden Substanzen ein.

Grundnorm 11: Wir akzeptieren Konfrontation und Kritik.“

Peter begreift schnell: Was das Bürgerliche Gesetzbuch für die deutsche Gesellschaft und die „Zehn Gebote“ für das Leben eines Christen sind – das sind die zwölf Grundnormen im Seehaus-Alltag.

Auf diese Vorgaben und auch das stramme Trainingsprogramm will er sich einlassen. Leidenschaftlich. Engagiert. Ohne Wenn und Aber. Er wird dankbar, dass seine Eltern ihm klare Regeln und Ordnungen vorgelebt und beigebracht haben und er sich so relativ leicht ins streng geordnete Seehaus-Leben einfindet.

Vom ersten Tag an akzeptiert Peter diese Grundnormen. Und all die konkreten Anordnungen für seinen Tagesablauf, die daraus folgen. Stunde für Stunde, Tag für Tag arbeitet Peter sich so langsam, aber stetig hoch. Vom „Neuling“ wird er bald zum „Leo-Anwärter“. Und von dieser Stufe aus weiter bis zum „Löwen“ und zum „Löwen-Plus“. Je mehr er sich bewährt oder je höher die Hierarchie-Stufe, desto mehr Freiheiten: Freiheiten wie Besuche zu Hause, Ausgang, eigenes Handy, Freizeit zum Telefonieren, Besuch im Sportverein usw.

Bewähren und damit hochdienen kann Peter sich dadurch, dass er aktiv mitmacht. Pünktlich zum Joggen und zur Arbeit erscheint. Zuverlässig ist. Freundlich. Ordentlich. Motiviert. Beherrscht.

Lauter Herausforderungen, die Peter gut bewältigt.

Dreimal wird er sogar mit dem begehrten und selten verliehenen „Sozialpreis“ geehrt. Unter anderem dafür, dass er für einen Tag ins damals neu eröffnete Seehaus in Sachsen fährt und den Jugendlichen dort aus seiner Erfahrung heraus ins Gewissen redet. Noch einmal geehrt wird Peter, weil er sich rührend um frisch geborene Lämmer im Tierkindergarten des Seehauses kümmert und sie regelmäßig füttert – zuverlässig alle zwei Stunden. Und zwar rund um die Uhr.

Peter hat eine Menge gelernt im Seehaus. Er fühlt sich gut vorbereitet auf das Leben „draußen“: „Ich freue mich, dass ich bald wieder nach Hause darf“, erzählt er mir wenige Tage vor seiner Entlassung.

Im Seehaus hat er das erste Lehrjahr als Zimmermann gut abgeschlossen. Bei einem Handwerksbetrieb im Ort, aus dem er stammt, kann er dadurch gleich im zweiten Lehrjahr einsteigen. Sich dort bewähren. Und dann auch übernommen werden. Seine Familie steht zu ihm – durch dick und dünn. Auf ihre Unterstützung kann er sich verlassen.

Trotzdem hat Peter auch ein wenig Angst vor dem Schritt nach „draußen“.

Zum einen, weil er nach seiner Verurteilung aufgelaufene hohe Schulden abtragen muss. Schulden von etlichen Tausend Euro.

Zum anderen, weil es zu einem Gespräch kommen soll zwischen den Hinterbliebenen des Opfers und ihm. Ein Gespräch, zu dem er wirklich bereit ist, vor dem er aber noch Angst hat. „Das Leben im Gefängnis war furchtbar“, erzählt Peter mir. „Aber viel schlimmer ist es für mich, diese Verantwortung tragen zu müssen, dass ich am Tod dieses Jungen schuld bin.“

Diese Schuld bedrückt Peter sehr. Er schämt sich für sein Verhalten in der folgenschweren Alkoholnacht. Er leidet darunter, das Leben eines unschuldigen jungen Menschen zerstört zu haben.

Zu Hause in seiner alten Heimat hat Peter die christliche Botschaft von Schuld und Vergebung gehört. Er ist getauft und konfirmiert worden. Der Glaube an Gott bedeutet ihm viel, schon vor seiner Zeit im Seehaus. Auch wenn er ihn nicht „offen vor sich herträgt“, wie er mir erklärt. In den schlimmsten Tagen im Gefängnis aber habe er gebetet. Das habe geholfen.

Jetzt im Seehaus besucht er regelmäßig den Gottesdienst. Dass er Christ ist, trage er nicht demonstrativ vor sich her, bekennt Peter. Aber sein Glaube bedeutet ihm viel. Theoretisch weiß er, dass Jesus ihm die schwere Schuld vergeben hat, die er so bitter bereut. Doch bisher – so scheint mir – kann Peter sich selbst nicht wirklich vergeben, was er getan hat. Und auch sein Glaube an den liebevollen, Vergebung anbietenden Jesus hilft Peter dabei nicht. Noch nicht.

Jeder verdient eine zweite Chance

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