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2. Von harten Köpfen und verstockten Herzen – Wie Tobias Merckle seine Berufung und sein Lebenswerk entdeckte

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Ein Gefängnis in den Südstaaten der USA, in der Stadt Atlanta/Georgia. Wir schreiben das Jahr 1990. Achtzig, vielleicht einhundert Männer sind zusammengekommen. Harte Kerle. Muskelpakete voller Tattoos. Kriminelle mit reichlich „Knasterfahrung“. Gescheiterte Existenzen, denen man ihr Scheitern ansieht. Aber auch viele unscheinbare Normalos, die man nicht hinter Gittern erwarten würde. Heute gibt’s ausnahmsweise mal eine kleine Abwechslung im tristen Alltag: Ein Besucher aus dem fernen Deutschland ist gekommen. Interessant. Auf alle Fälle spannender als die endlosen stumpfsinnigen Stunden in der Zelle. Die meisten Gefangenen hier sind deutlich älter, deutlich kräftiger gebaut, deutlich mehr vom Leben gezeichnet als der blasse junge Mann, der sie besuchen kommt. Ein schüchterner, schmaler Bursche um die zwanzig. Der gerade zum ersten Mal in seinem Leben ein Gefängnis von innen erlebt.

Eigentlich möchte Tobias Merckle hier ja nur einen Bekannten besuchen. Kennengelernt hat er den während seines freiwilligen Einsatzes in der Drogentherapie von Teen Challenge. Doch in der Menge der wartenden Knackis entdeckt er den Bekannten nur kurz aus der Ferne.

Die anderen Häftlinge fordern, dass Tobias sich vorstellt. Er soll erzählen, was er hier in Amerika macht. Warum er zu ihnen gekommen ist. Das will er tun. Und er nimmt sich vor, den Gefangenen dabei irgendeine Botschaft von Hoffnung, von Zuversicht, von Liebe zu vermitteln. Seit ein paar Monaten erst ist er in Amerika. Durch sein noch nicht sehr fließendes Englisch klingt die schwäbische Muttersprache durch.

Erst unsicher, langsam, Wort für Wort. Dann allmählich immer flüssiger und engagierter berichtet er den rauen Männern. Erzählt ganz persönlich und erreicht damit das Ohr und das Herz der Männer:

Letztlich ist ein Buch daran schuld, dass er in Amerika gelandet ist, sagt Tobias. Ein Weltbestseller (Gesamtauflage laut Amazon.de: dreißig Millionen in mehr als vierzig Sprachen). Geschrieben vom amerikanischen Pastor und Prediger David Wilkerson: Das Kreuz und die Messerhelden. Die spannende Geschichte des christlichen Hilfswerks Teen Challenge, das sich anfangs um Bandenmitglieder und Straßenkriminelle in New York kümmert und viele von ihnen beim Weg aus Drogen- und Alkoholabhängigkeit heraus begleitet. Heute ein Hilfswerk, das in mehr als tausend Einrichtungen überall auf der Welt aktiv ist. Das Wege aufzeigen möchte, auf denen viele der früheren Abhängigen auch den Glauben an Jesus Christus entdecken. Und eine ganz neue Freiheit für ihr Leben.

Sechzehn Jahre jung ist Tobias Merckle, als er dieses Buch in die Finger bekommt. Er verschlingt es geradezu. Obwohl die kaputte, kranke Welt, die darin beschrieben wird, so ganz anders ist als die idyllische Umgebung, in der er aufgewachsen ist. Das Städtchen Blaubeuren am Rand der Schwäbischen Alb, nicht weit weg von Ulm, bietet ihm den Rahmen für eine weitgehend unbeschwerte Kindheit.

Weil der Vater Unternehmer ist, gibt’s am Mittagstisch häufig Gespräche über Verantwortung: Verantwortung in der Firma, Verantwortung den Mitarbeitern gegenüber, auch Verantwortung für die Gesellschaft.

Als Tobias von der Not der Bandenmitglieder in Amerika erfährt und liest, wie David Wilkerson und seine Organisation sich für sie einsetzen, fällt ein Samenkorn in sein Herz. Ein Samenkorn, das später aufgehen und reichlich Frucht tragen wird. Und das ihn dazu veranlasst, Verantwortung zu übernehmen. Eine Menge Verantwortung für Menschen, die Unterstützung brauchen.

Doch zunächst weiß der Teenager nicht recht, wie er nach dem Abitur ins richtige Leben starten soll. Bundeswehr oder Zivildienst? Tobias kann sich beides vorstellen. Er wägt ab. Eine klare Entscheidung aber fällt ihm schwer. Und so macht er gewissermaßen einen Deal mit Gott. „Ich bin bereit zum Bund zu gehen und dort meinen Wehrdienst abzuleisten, wie mein Vater es vorschlägt“, überlegt Tobias. „Aber falls ich da nicht hinmuss, stelle ich dieses Jahr Gott zur Verfügung.“

Ein paar Monate später, kurz vor seiner geplanten Einberufung, beschließt der Deutsche Bundestag eine Gesetzesänderung: Ab sofort sind junge Männer dann vom Wehrdienst freigestellt, wenn bereits zwei ältere Brüder bei der Bundeswehr gedient haben. Tobias hat genau zwei ältere Brüder. Und weil beide ihren Wehrdienst abgeleistet haben, hat er jetzt die Freiheit, Pläne zu machen.

Sein Vater würde es zwar gerne sehen, dass Tobias nach der Schule sofort mit einem Jurastudium beginnt, um anschließend in die Firma einsteigen zu können. Doch Tobias will zuvor das versprochene Jahr für Gott leisten. Freiwillig. Für eine wirklich sinnvolle Sache. Und so einigen sich Vater und Sohn auf einen Kompromiss: Tobias soll seinen Einsatz in den USA leisten. Und dabei fit in Englisch werden. Denn das wird ihm bei einem späteren Einstieg in die Firma helfen.

So landet der Neunzehnjährige nach den behüteten Jahren von Kindheit und Jugendzeit bei Teen Challenge in Chattanooga/Tennessee. Lebt vierundzwanzig Stunden am Tag mit Abhängigen zusammen, die hier einen Drogenentzug durchkämpfen. Arbeitet, lernt, feiert, lacht und weint mit ihnen zusammen. Schließt den Tag mit einem gemeinsamen Gebet ab.

Anfang September 1990 will Tobias einen der jungen Drogenabhängigen, den er bei Teen Challenge kennengelernt hat, im Gefängnis besuchen. Und genau deshalb steht er jetzt genau hier, vor der Gruppe von schweren Jungs, die alle eine Menge auf dem Kerbholz haben – Raubüberfälle, Drogenhandel, Einbrüche und und und.

Welche Hoffnungsbotschaft könnte er diesen hart gewordenen Männern auf die Schnelle vermitteln? Tobias stammelt erst seine kurze Vorstellung. Und macht dann eine schier unfassbare Erfahrung: Er erlebt keinerlei Berührungsängste mit diesen Kriminellen. Im Gegenteil. „Ich spürte, dass mich etwas regelrecht zu den Gefangenen hinzog. Es war ein Gefühl von Liebe für sie, über die ich bis dahin doch so gut wie nichts wusste.“

Über Gefühle sprechen fällt Tobias nicht eben leicht. Er wirkt stets beherrscht, in sich gekehrt, trocken, ein wenig spröde. Aber dieses einzigartige Gefühl damals im Knast hat er seitdem nicht mehr vergessen. Davon erzählt er bei den verschiedensten Gelegenheiten und Anlässen. Und jedes Mal geht dabei ein Leuchten übers ganze Gesicht. Weil genau mit diesem Schlüsselerlebnis die Berufung seines Lebens beginnt.

Was genau er damals zu den Strafgefangenen sagt? Tobias kann sich heute nicht mehr erinnern. Aber er weiß sehr wohl: Direkt nach seiner kurzen Ansprache findet er sich in der Zelle wieder, die sich drei Knackis teilen müssen. Was er sieht, ist kärglich: ein Dreistockbett. Ein kleiner Schrank. Ein winziger Tisch. In dieser trostlosen Umgebung müssen die drei praktisch die gesamte Haftzeit verbringen, erfährt Tobas. Ohne jede Ablenkung durch Schule, Ausbildung oder Arbeit.

Der Unternehmersohn Tobias ist in geordneten Verhältnissen groß geworden. Er erschrickt, als er hört, wie so ganz anders es hier zugeht: Er erfährt von den grausamen Subkulturen, die in amerikanischen Gefängnissen stark ausgeprägt sind. Von Banden innerhalb der Mauern, die andere Gefangene schikanieren, bedrohen, erpressen, missbrauchen. Von Drogen, Missbrauch, Gewalt sogar unter den Augen des Wachpersonals. Von Ungerechtigkeit. Willkür. Verzweiflung. Tobias begreift: Wer vorher noch kein echter Verbrecher war, der wird es unter solchen Bedingungen.

Tobias wird an diesem Tag tief erschüttert angesichts der Verhältnisse, die er zum ersten Mal in seinem Leben „live“ vor Augen hat. Er nimmt sich vor, eine Alternative zu schaffen zu den bisherigen Formen des Strafvollzugs für junge Leute.

Abends kniet er in seinem Zimmer bei Teen Challenge vor dem Schreibtisch. Wie jeden Abend liest er einen Abschnitt aus der Bibel. Und kann es kaum fassen, was er bei Hese kiel 2,3 ff. entdeckt. Denn all das, was da über das Volk Israel ausgesagt wird, könnte genauso auch über die Gefangenen gesagt werden, die er heute kennengelernt hat.

„Er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den Israeliten, zu dem abtrünnigen Volk, das von mir abtrünnig geworden ist. Sie und ihre Väter haben bis auf diesen heutigen Tag wider mich gesündigt. Und die Söhne, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. […] sie sind ein Haus des Widerspruchs […]. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen.“

Tobias liest und liest diesen Text, immer wieder. Und empfindet ihn als Bestätigung für seine künftige Lebensaufgabe. Genau passend zu dem, was er im Gefängnis erlebt hat.

Am nächsten Morgen erlebt er gleich noch eine Bestätigung. Wieder ist es ein Bibelvers, den der junge Mann aus Schwaben aufnimmt, als hätte Gott selbst diesen Satz an ihn ganz persönlich gerichtet:

2. Petrus 1,10: „Darum, liebe Brüder, bemüht euch desto mehr, eure Berufung und Erwählung festzumachen. Denn wenn ihr dies tut, werden sie nicht straucheln.“

Als Tobias Merckle mir knapp dreißig Jahre später von seiner ersten Knast-Erfahrung und den beiden Bibeltexten berichtet, blitzen seine Augen. Ich spüre: Damals hat er tatsächlich eine echte Berufung fürs ganze Leben bekommen. Die beiden Bibeltexte, denen er dabei begegnet ist, drückten dabei genau das aus, was in ihm vorging. Und seit diesem Tag hat er seine Berufung nicht ein einziges Mal infrage gestellt. Mit all seiner Kraft arbeitet er daran, dieser Berufung gerecht zu werden. Bringt seine Zeit ein. Seine Kreativität. Sein unternehmerisches Denken. Seine Verbindungen. Sein Geld. Selbst seine Lebensform ordnet er diesem Ziel unter. Tobias ist Single und kann so wie ein Mönch ganz und gar für Gott und die Menschen da sein.

Er ist ein Überzeugungstäter mit großen Visionen und konkreten Zielen. Er brennt lichterloh für sein Lebensanliegen. Wo immer er tätig wird, sollen Menschen eine zweite Chance bekommen. Soll nicht nur der Verbrecher in ihnen gesehen werden, der Gescheiterte, der Heimatlose, der Geflüchtete, der Außenseiter. Sondern der von Gott geliebte, einzigartig geschaffene Mensch.

Ich höre Tobias Merckle zu. Lerne ihn immer ein bisschen mehr kennen. Und begreife allmählich: Diese verschiedenen Faktoren bzw. die Erfahrungen von vor langer Zeit haben seine Persönlichkeit zu dem heranreifen lassen, der er heute ist.

Im Bild gesprochen: Das „Schaufenster“ dieses außergewöhnlichen Mannes ist eher spartanisch eingerichtet. Es deutet nur an, welchen Reichtum es „im Laden“ zu entdecken gibt. Und genau diesen Reichtum möchte ich mit diesem Buch vorstellen.

Tobias Merckle hat ganz feine Antennen für die riesengroßen Probleme der Menschen im Strafvollzug. Und genauso auch für andere Außenseiter der Gesellschaft, die dringend Hilfe brauchen. Ihm ist sonnenklar: Solche Menschen einfach auszugrenzen oder wegzusperren, löst keine Probleme. Weder für die Gefangenen. Noch für die Gesellschaft, die vor ihnen geschützt werden soll. Denn Gefängnisse sorgen nicht für eine Verbesserung der Lage, nicht für eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Im Gegenteil: Sie sind oft eine „Schule des Verbrechens“. Viele kriminelle Karrieren beginnen ausgerechnet im Jugendgefängnis.

Selbst in Deutschland ist das so. Obwohl sich hier doch viele engagierte Gefängnismitarbeiter für die Inhaftierten einsetzen und ihnen im Bereich Ausbildung und Schule viele Angebote machen. Die „Subkultur“ aber – die negative Gemeinschaftskultur vieler junger Häftlinge – zerstört oft alles wieder, was Anstaltsleitung, Psychologen und andere Mitarbeiter aufzubauen versuchen. Ein Gefängnis ist eben nicht der ideale Ort, um Menschen Verantwortung beizubringen und sie auf ein Leben ohne Straftaten vorzubereiten.

Tobias Merckle will und kann das nicht hinnehmen. Auf erstaunliche Weise empfindet er ein Gefühl der Liebe für die Gefangenen. Er liest den Hinweis durch den Propheten Hesekiel auf den besonderen Auftrag für die halsstarrigen und verhärteten Köpfe. Und erlebt schließlich die Bestätigung durch den Petrusbrief: Das ist deine Berufung.

Für Tobias ist danach vollkommen eindeutig klar: Ich bin gemeint.

Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Äußerlich ändert sich zwar erst einmal gar nichts – Tobias Merckle arbeitet weiterhin als Helfer in der Drogentherapie bei Teen Challenge mit. Drei Monate später endet seine Dienstzeit dort. Er besucht eine spezielle Silvesterfeier von Teen Challenge, bei der an die sechshundert Männer zusammenkommen. Einige von ihnen erzählen aus ihrem Leben. Erschütternd, wie sie durch Alkohol oder Drogen auf die schiefe Bahn gerieten, alles verloren, auf der Straße landeten. Ein ehemaliger Abhängiger berichtet von seinem absoluten Tiefpunkt. Dass er sich selbst mit einer abgesägten Schrotflinte umbringen wollte. Wie er im letzten Moment gefunden wurde, mit schweren inneren Verletzungen und in einer Lache von Blut. Ärzte konnten ihm helfen. Sein Leben retten. Anschließend landet der Junkie bei Teen Challenge. Und feiert jetzt zum ersten Mal in seinem Leben einen Silvesterabend voller Hoffnung für das nächste Jahr.

Tobias Merckle hört zu und staunt. Die Lektion dieses Abends passt für ihn genau zu seiner Berufung, die er ein Vierteljahr vorher erlebt hat: „Gott gibt jedem Menschen eine Chance“.

Von jetzt an will er seinen Beitrag dazu leisten, dass viele Menschen das erleben können.

Jeder verdient eine zweite Chance

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