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Das Grau gebiert das Licht

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Der Sommer ist da, jene Zeit der Wärme und des Lichtes, der Bitris als einziger Zeit des Jahres etwas Positives abgewinnen kann. Er steht aus seinem Sessel auf, den er seit den ersten unschönen Herbsttagen des Vorjahres nicht mehr verlassen hat. Nun ist es endlich wieder an der Zeit sich zurechtzumachen. Die Sonne, die den ganzen Tag über mit erster Frühjahrswucht in sein Zimmer geflutet ist, hat in ihm eine ungeheure Energie aufgebaut. Eine bis zum Platzen anschwellende, immense Elementarkraft, die er nun, da es langsam Abend wird, herauslassen muss. Herauslassen. Muss.

Im Bad stellt er sich unter die Dusche, funkensprühend vor elektrischer Ladung. Ein großer schlanker Mann mit pechschwarzen, kurzgeschnittenen Haaren und merkwürdig glühenden Augen, die zugleich Sanftmut und Wildheit ausdrücken, Lethargie und Leidenschaft. Es sind die Augen eines ruhenden Vulkans.

Das seidig warme Wasser rinnt an ihm herab, Schaumbad, Shampoo, Duschgel, Badezusatz, Seife, Duftwasser und ätherische Öle vermengen sich auf seiner dunklen, samtzarten Haut zu einer glattglänzenden, nasenberückenden Patina. Der Duft der fünfhundert Rosen von Asthrachel umwölkt sein Haupt. Das Odeur von Coco Chanel, Christian Dior, Jean-Batist Grenouille und Jupp dem Moschusochsen bestürmen elegisch seine Sinne. Vollbrüstig saugt er ihn ein, den eigenen Geruch von Sommer und Leben, von unendlicher Erquickung und erregender Sinnlichkeit. Sein Leib ist ein Kunstwerk, ein wogendes olfaktorisches Weizenfeld zwischen Wasserdampf und blümchengekachelten Wänden. Es ist der Body des ultimativen Verführers. Die Verkörperung des Sommers.

Nach dem Duschen frottiert er sich gründlich trocken, föhnt, frisiert und onduliert. Die Nägel werden geschnitten, gefeilt, gelackt. Der schmale Bart und minimal hervorstehende Haare werden geschoren, die Brauen gezupft, der Ohrring poliert. Mit aller Sorgfalt werden sämtliche Körperfalten zum Schutz vor störenden Schweißausbrüchen imprägniert, die Fußsohlen gesalbt, die schmalen Finger gefettet, die Zähne gewachst. Zu guter Letzt wird der Penis im Verlauf einer tibetanischen Anbetungsprozedur durch das rituelle Auftragen euphorisierender Substanzen und das Ausstoßen guttural-maskuliner Vergötterungsgesänge intensiv auf kommende Freuden vorbereitet.

Für heute, den Beginn der Saison, wählt er seidene Unterwäsche, ein leichtes Sakko und marineblaue Jasper-Long-Hosen. Die rote Lederkrawatte wird mit einem eleganten Silverstrike-Knoten um den Hals gelegt. Als Schuh des Tages wählt er aus seinem achthundert Paare umfassenden Frühsommer-Fußbekleidungspool seine extra-weichen, hellbeigen Travani-Slipper aus mandelholzdurchwirktem und mit Goldstreifen vernähtem Mufflonleder.

Bevor er aufbricht, blickt er sich noch einmal in der Wohnung um. Hinten im Raum, in der dunkelsten Ecke, sitzt in seinem soeben verlassenen Sessel eine müde, abgearbeitete Gestalt in Wollpullover und dreckigem Overall. Diese Gestalt hat er gerade abgestreift. Diese verhasste, anödende Figur, der im Winter seine Seele gehört, die pflichtbewusst, pünktlich und fleißig ist. Der Schlosser Bitris, grau wie der Herbst, frostig und leblos wie der Winter, ungeraten wie der erste nasskalte Tag eines erwachenden Frühlings. Der wird von nun an seinen Platz im Sessel einnehmen, einsam, ungewaschen und nach Arbeit stinkend. So lange, bis der Sommersonne die Luft ausgehen wird und Bitris voll von verbittertem Hass zu ihm zurückkehren wird, um mit ihm für ein langes, halbes Jahr den Sitzplatz und das Leben zu tauschen.

Er tritt aus dem Haus. Mietskaserne. Das Haus ist eine Mietskaserne! Bitris Zorn wohnt in einer elenden Mietskaserne. Sein Bruder wohnt zur Miete. Mit anderen Mietparteien zusammen. In einer Mietskaserne. Und er somit auch. Er auch! Zumindest im Winter wohnt er dort, wenn Kälte ihn an den grauen Sessel fesselt.

Vor ihm am Straßenrand steht Bitris‘ Auto. Klein, hässlich, Kw-arm. Fabrikblau. Fabrikblau! Kein bisschen Chrom dran, kein Leder im Innern, kein Metallic-Lack. Reifen, die so schmal sind wie Wurstbrote! Nur ein einziger Auspuff. Einer nur! Damit kann man nicht schneller fahren als Hundertzwanzig Kilometer pro Stunde. Das ist wie Parken! Der Wagen fährt eben nicht schneller auf seinen vier Wurstbroten. Aber warum zum Teufel sollte man überhaupt damit fahren wollen? Das ist doch kein Auto. Das ist eine Zumutung mit Motor.

Das ist ein Schlurf XL! X wie ‚nix‘. Und L wie ‚langsam‘. Und Schlurf? Schlurf wie Pestpockenmalaria.

Oh Herr im Himmel, ein Schlurf! Eine lahme Tasse, ein Kotzbeutel aus Blech. Bitris heult gequält auf, schlägt mit der Faust auf das Dach, ist angeekelt. Er ist so über die Maßen angeekelt, als wäre das Fahrzeug ein gluckernder Haufen von Elefantenkacke in öligem Schleim. Angeekelt! Er ist empört. Empört, einen solchen Versagerwagen vorzufinden. Empört, ERNEUT einen solchen Versagerwagen vorzufinden! Eine Karre, wie er sie leider, leider immer wieder im Sommer vorfindet. Wieder, wieder, wieder, widerlich! Jeden Sommer ist es dasselbe. Ein Schlurf XL. Ein Schlurf!!

Er spuckt auf die Scheiben. Dieselben Scheiben, durch die sein Bruder Bitris einen langen, dunklen Winter lang nach draußen geglotzt und die Sonne gesucht hat. Er flucht, brüllt wie ein verletztes Tier, wirft eine Mülltonne gegen die Fahrertür.

Eine Beule mehr in dem Karren. Wie jedes Jahr. Er kann die Beulen zählen. Jede einzelne verdammte Beule steht für die Tatsache, dass ein Sommer nicht ewig währt. Jede Beule ist der Beleg dafür, dass er jedes verdammte Jahr, wenn er in den Sommer hinauszieht, eine beschissene Looser-Karre vor der Tür zu sehen bekommt. Jedes Jahr!

Das erste Gefährt, das er vorgefunden hat, vor was-weiß-ich wie vielen Jahren war das, das war ein Pisspott GT 11 mit sechzig PS und einer Klopapierrolle auf der Ablage. Die Rolle war von einer gehäkelten Mütze abgedeckt. Gehäkelt. Noch heute dreht sich ihm der Magen um, wenn er an dieses Automobil denkt. Noch heute verfolgt ihn der grauenhafte Anblick in seinen Tagträumen. Noch heute martert ihn die Erinnerung an das erbarmungslos hässliche Gebilde aus Blech und Plastik, dass bei seinem Bruder vor seiner Haustür gestanden hat … auf seinen Namen zugelassen! Auf seinen Namen! Auf Bitris Zorn!

Denn einer merkwürdigen Laune seiner Mutter folgend, hat sein Drillingsbruder nicht nur denselben Familiennamen wie er bekommen. Nein, er hat auch denselben Vornamen! Der Typ oben in dem von Spinnenweben überzogenen Sessel hat denselben Vornamen wie er selber. Bitris. Zorn. Bitris Zorn. Zorn! Als wären sie beide nur eine einzige Person. Nur eine! Nicht zwei von Grund auf verschiedene Personen. Eine nur. Aber das ist falsch! Vollkommen falsch. Er ist nicht Bitris! Er ist Bitris! Das ist ein ganz anderer, ein komplett anderer Mensch. Komplett!

Da gibt es ihn, den coolen Bringer, den Klassetyp. Bitris eben. Und da gibts auch noch den anderen. Seinen Bruder. Auch Bitris. Aber Versager-Bitris. Schlurf XL-Bitris. Pisspott-Bitris.

Diese fatale Namensgleichheit ist der einzige verdammte Grund, warum der Schlurf auf ihn zugelassen ist. Aus diesem einen Grunde ist der Schlurf XL auf seinen Namen zugelassen. Auf seinen! Namen!

Er spürt einen hypovolämischen Schock in sich aufsteigen. Eine multiple Allergie gegen Schlurf-Mobile. Völlige Blutgerinnung in den Adern. Lähmungen. Kotzattacken. Er muss fort von hier. Fort.

Bitris geht zu Fuß. Natürlich zu Fuß. Was sonst bleibt ihm anderes übrig? Selbst mit nur einem Bein würde er nicht in den Schlurf steigen. Niemals. Allerdings würde er mit nur einem Bein auch nicht in den Sommer hinausziehen. Denn als Behinderter wäre er genauso erledigt wie als Fahrer eines Schlurf XL. Die Gesellschaft, in der er verkehrt, kennt kein Mitleid mit denen, die nicht das Privileg haben, privilegiert zu sein.

Er pfeift. Kein Regen, milde, warme Luft, ein Duft von Blüten und Leben schwängert die beginnende, aufblühende Nacht. Grillen begrüßen den Neuankömmling, Rosen wachsen aus Hecken, versprühen gold-rote Fontänen, der Asphalt unter seinen Sohlen klingt nach Musik. Über ihm die Bäume, schattenschwer, von Lichtstrahlen durchbrochen, schwirrend, rauschend, ein selbst im Dunkeln leuchtendes, alles bedeckendes Grün. Die Sterne knistern wie Pergament am Himmel. Es sind Sommersterne. Sie verkörpern einen warmen Lebenshauch aus dem Leib der Sonne. Vorbei die Zeit, da kalte Eiskugeln am Nachthimmel hingen. Vorbei die Zeit, da gefrorene Kristalle aus brettharter Winterschwärze herabstrahlten. Kristalle, die wie tödlicher Stahl auf dem Nacken lasteten. Auf Bitris Nacken.

Er geht zügig an allem vorüber, ohne sich umzusehen, ohne sich für irgendetwas oder irgendjemanden zu interessieren. Denn nichts lässt ihn schneller erbrechen, als der Anblick seiner Siedlung. Nichts ödet ihn so sehr an, wie seine Gegend, wo er seit Jahren wohnt. Nein, wo er haust! Wo er hausen muss, weil sein im Sessel sitzendes Alter Ego nichts Wesentliches zustande bringt. Weil er kein Geld verdient, sich mit ein paar Tausendern im Monat abspeisen lässt. Mit ein paar Tausendern! Im Monat! Dieses armselige Gehalt reicht nur zum Fernsehglotzen in einer Mietwohnung und zu einem Schlurf vor der Tür. Bitter ist das. So verdammt bitter, dass ihm die Magensäure hochkommt. Und was ist sein Bruder? Was ist sein Bruder Bitris? Er ist zufrieden! Er ist mit seinem Gehalt und seinem Leben zufrieden. Zufrieden! Ja wie armselig muss denn ein Mensch sein, wenn er mit sowas zufrieden ist? Das kann doch nur einer sein, der im Winter lebt. Im Winter!

Sein Bruder ist der Winter.

Deswegen muss er, Bitris Zorn, in diesem dreckigen Viertel vor sich hin vegetieren, in dem er allerdings eigentlich gar nicht wohnt, weil sein Bruder hier wohnt und er selber hingegen nur im Sommer da ist, aber natürlich sofort immer weggeht, sobald es Sommer wird. Denn niemals könnte er in dem Viertel überleben, in dem sein Bruder wohnt. Dieses Viertel ließe ihn binnen Tagen an der grauen Fäulnis dahinsiechen. In diesem Viertel stürbe er den schwarzen Tod, wenn er länger als ein paar Stunden bliebe. Es ist ein Karo-Einfach-Mittelklasse-Viertel. Bestehend aus altersschwachen Mietshäusern, gerade erst renoviert, aber schon wieder vom Einsturz bedroht. Eine Arbeitersiedlung aus grauem und rotem Stein, auf einer Industriemülldeponie errichtet. Einfamilienhäuschen aus dem Fertigbaukatalog! Keine einzige Villa steht hier! Keine einzige. Kein Pool, kein Park, kein Lamborghini. Nur ödes, zufriedenes Mittelmaß. Eine Zumutung. Eine Zumutung!

Aber selbst hier ist Leben. Selbst hier in der Ödnis der Kreiswohnbauwüste. Selbst hier, wo eine Bruchbude wie die andere aussieht. Wo ein Vorgarten dem anderen gleicht, wie ein Scheißhaufen dem nächsten. Jawohl, Vorgärten. Vorgärten! Mit frischer Petersilie und Gartenzwergen vollgestopfte Erdteile, wo fettleibige Muttchen Kartoffeln ziehen und weißhäutige Dummköpfe in Jogginghosen mit einem Wasserschlauch ihre Mittelklasseautos penetrieren. Aber selbst hier drängt der Sommer ungestüm den Mief von vollgepissten Unterhosen und schweißigen Wollsocken fort, selbst hier lacht das verblasste, in allen Winkeln und Ritzen versteckte Licht über die trostlose Eintönigkeit des Winters. Selbst hier quillt die Wärme aus schwarz starrenden Kellerlöchern und staubigen Fensterhöhlen, um den Sonnenwanderer zu umschmeicheln.

Die Straße biegt sich, gesäumt von Alleebäumen, in einer grazilen Kurve gen Himmel. Er folgt ihr leichten Schrittes, von Nachtlichtern übergossen, die alle Düsternis mit silbrigen Händen verdecken. Er kann die Helligkeit greifen, spürt sie auf den Lippen, der Zunge, in jeder Zelle seiner Haut. Das ist der Sommer. Er bläst ihm Sonnenwinde entgegen, lässt Lichtpartikel um ihn herum tanzen, wandelt die Nacht zu einer hell durchfluteten Arena des Lebens.

Das ist der Sommer, der aus Trägheit Tatendrang macht, der Leiber herumweht im glühend heißen Wirbel. Leiber, die suchen, die erleben wollen, die kurzzeitig aneinander hängen bleiben, sich aussaugen, berühren, sich gegeneinander befriedigen. Der lebendige Sommer, der die Hitze ausgehungerter Körper verschmelzt, sie miteinander rasen macht, Lust und Geilheit durch alle Poren strömen lässt.

Das ist der Sommer, auf den Bitris gewartet hat. Einen ganzen Winter lang. Gewartet. Gewartet.

Schwesterchen Zorn

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