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Der runde Vogelruf

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”Äh, warum sitzt ein solcher Engel so allein an meiner Seite, ohne dass ich ihn bemerke?” fragt Olof, nachdem Bitris eine halbe Ewigkeit neben ihm herumgesessen hat. Mindestens sieben Minuten! Sieben verdammte lange Minuten hat der Kerl sie warten lassen, bevor er sie anspricht! Sieben! Das sind vierhundertzwanzig Sekunden. Vierhundertzwanzig! Für eine Sache, die im Bruchteil von einer Sekunde entschieden werden kann. Entschieden werden muss!

”Darf ich ihnen vielleicht einen Drink anbieten?” fügt er pflichtbewusst hinzu, denn Bitris Hände sind leer. Ihre Lippen aber, die vollen roten, saftig roten, prallen, halbgeöffneten prallen roten Lippen, die sind trocken. Trocken! Staubtrocken! Ja, beinahe schon spröde!

Freilich kennt Olof aus dem deutschen Milliardärsblatt die gesellschaftlichen Umgangsformen, denen man als maskulines Exemplar eines Gastes in Armand d’Ors Place des Belles unterworfen ist. Sitzt man unmittelbar neben einer reizenden Person weiblichen Geschlechts, - und diese junge Dame neben ihm, verdammt, die ist weiblichen Geschlechts! – und ist diese reizende Person weiblichen Geschlechts ohne Drink – oh ja, ihre Finger sind leer, diese Finger, die so herrliche Dinge anstellen können, sind leer! - und sitzt diese traumhafte Fee auch noch alleine da, - oh Gott, es ist niemand sonst in der Nähe. Niemand! - und sitzt man selbst auch alleine da, dann muss, … muss! … man diese Person ohne die geringste Verzögerung sofort und auf der Stelle in Windeseile im selben Augenblick ansprechen und sie zu einem Drink ihrer Wahl einladen.

Jedwedes abweichende Handeln gilt als mangelnde Achtung vor dem weiblichen Geschlecht und vor Armand d’Ors Hausordnung, denn die basiert auf der Originalausgabe von Knigges ‚Über den Umgang mit Menschen‘ aus dem Jahre 1801. Aber wenn man Pech hat, so richtig übel viel Pech hat, dann kann das abweichende Verhalten von übelmeinenden Zeitgenossen sogar als Geiz … Geiz! … ausgelegt werden! Als Geiz! Wer aber einer derartigen Eigenschaft überführt wird, wer sich anmaßt, bei Armand d’Or aus Sparsamkeit ein Getränk zu verschmähen, und das nur deshalb, weil es ein wenig teurer ist als ein Mittelklasseauto, wer solch ein unsägliches Verhalten an den Tag legt, der darf im harmlosesten Falle mit übler Nachrede und ätzender Ironie rechnen. Im schlimmsten Fall wird er, wie der unglückliche Hugo Baldaus vor einem Jahr, auf der Stelle geteert und gefedert, auf eine Leiter gebunden und hinab in die Wohnsiedlung geworfen, wo er hingehört.

Und dabei ist Hugo Baldaus auch noch total unschuldig an der Situation gewesen. Unschuldig! Baldaus war an jenem verhängnisvollen Tage gar nicht in der Lage, sofortige Flirtbereitschaft an den Tag zu legen. Er war schlicht unfähig, seine Tischnachbarin sekundenschnell einzuladen! Weil er nämlich ganz einfach extrem indisponiert war. Speiübel war ihm. Von einem Virus oder von einem Drink oder von was auch immer. Würgspuckröchelrotzübel! Und deshalb hat er eben mal nicht bemerkt, dass Lululita getränkelos aber durstig unmittelbar neben ihm gesessen hat an jenem Abend im Juni des letzten Jahres. Weil ihm so verdammt übel gewesen ist, war er eben einmal nicht aufmerksam genug. Das muss man doch verstehen! Da muss man doch mal Abstriche machen. Verständnis haben! Verständnis! Nö. Lululita hat kein Verständnis gehabt. Kein bisschen! Keinen Fatz Verständnis für ihn und sein grünes Kotzgesicht. Die hat sofort empört gekreischt. Empört! Gekreischt! Und sie hat ihn geohrfeigt. Geohrfeigt. Schallend! Und geschimpft und gezetert hat sie. Kein Verständnis. Dieser Mann weigert sich, mir einen Drink zu spendieren. Er ist geizig! Geizig! Unmöglich, dass dieser Mann länger Gast bei Armand d’Or ist! Unmöglich! Da half es ihm auch nicht, dass er Lululita gleich eine Milliarde Euro überwiesen hat. Er war enttarnt. Als Geizhals. Ab in den Teertopf. Zack, runter in die Siedlung. Tschüss Hugo.

Harte Regeln bei Armand. Verdammt harte Regeln!

Das Schicksal Hugos will niemand erleiden, auch Olof nicht. Nein, Olof schon gar nicht. Schließlich ist er noch neu in der Szene, muss sich erst den Ruf eines unersättlichen Tigers erkämpfen, muss mit Geld und anzüglichen Bonmots erst in der Hierarchie der reichlich Schönen seinen Platz erklimmen. Außerdem sitzt er, Olof der Große, der aufstrebende Matador des Sommers, der künftige Partylöwe, der kommende sagenhafte Aufreißer dieser Saison, der Hirsch in Lauerstellung, der sitzt wirklich und wahrhaftig seit geschlagenen neunzehn Minuten und elf Sekunden alleine da. Neunzehn Minuten! Und elf Sekunden!!

Die hübsche Brünette nämlich, mit der er hierhergekommen ist, und der er eine geschlagene Stunde lang den mathematischen Beweis dafür erläutert hat, dass eine eindeutige wechselseitige Beziehung zwischen beeindruckenden Bilanzen und der Schwanzgröße besteht, die hat einen derartigen Gähnkrampf bekommen, dass sie seither den Mund nicht mehr schließen kann. Der armen Ilva von Bügelberg hat es derart die Kiefer auseinandergerissen, dass sich irgendetwas ausgehakt hat. Da ist plötzlich mitten in der breitmäuligen Gähnattacke etwas mit hörbarem Knacken aus den Gelenkschalen gesprungen, direkt im Bereich der Anguli mandibulae. Die Brünette hat ihr Maul so dermaßen weit aufreißen müssen, dass ein Knochen total verkantet ist. Und als sichtbares Ergebnis dieses Ungeschicks steht nun seit geraumer Zeit ihr Mund weit auf. Sehr weit sogar! Extrem weit, im Grunde genommen. Und er geht nicht mehr zu. Eine Scheißsituation ist das. Eine Scheißsituation.

Zum Glück ist für derlei Unannehmlichkeiten bei Armand stets ein Spezialist zur Stelle. Denn bei Armand ist für sämtliche denkbaren Eventualitäten ein Spezialist anwesend. Für offenstehende Mäuler ist das Professor Doktor Dobermeyer-Kallberg. Jawohl, der Dobermeyer-Kallberg! Dobermeyer-Kallberg ist der absolut anerkannteste Physiotherapeut der Welt. Er ist eine Koryphäe auf dem weiten Feld der Verspannungen. Und er ist zurzeit total angesagt. Er löst jedwede Verspannung mit unnachahmlicher Grandezza.

Dieses alles hat aber überhaupt nichts mit der Geschichte zu tun. Deswegen noch mal:

”Äh, warum sitzt ein solcher Engel so allein an meiner Seite, ohne dass ich ihn bemerke?” fragt Olof. ”Darf ich ihnen vielleicht einen Drink anbieten?”.

”Was denkst du, warum ich hier sitze?” faucht Bitris. „Natürlich darfst du mir etwas zu trinken bestellen.“

Niemals muss sie länger als fünf Sekunden ohne Drink auskommen, wenn sie sich einer Zielperson annähert. Aber volle sieben Minuten! Das ist eine Unverschämtheit, ein Affront. Dieser Olof bringt sie schon jetzt auf die Palme. Der lässt sie sieben Minuten auf dem Trockenen sitzen. Und dann hat er die Stirn, sie auch noch anzugrinsen! Sie verspürt den heftigen Drang, ihm dieses Grinsen mit den Fäusten in den Hals zurückzuschlagen. Dieses Grinsen, dieses einschläfernde, dicklippige Schweinegrinsen. Da würde sie am liebsten gleich reinhauen. Gleich mit der Faust reindreschen. Dreschen! Mit der Faust. Ihrer Faust! Fünf Finger aus blankem Stahl. Mit messerscharfen Krallen versehen. Messerscharfen Krallen! Raubtierpranken!

”Hm, sie sind direkt und ehrlich”, sagt Olof mit gezwungener Heiterkeit. ”Das gefällt mir.”

Es gefällt ihm gar nicht, denn er ist es gewohnt, dass man sich ihm in gebückter Haltung, dienernd den Boden leckend oder zumindest mit außerordentlichem Respekt nähert. Respekt scheint für die junge Dame neben ihm allerdings ein Fremdwort zu sein. Aber sie sieht nun einmal entzückend aus. Entzückend!

Entzückend? Das trifft es nicht im Geringsten. Ha, entzückend! Was ist das für ein ungenügendes Wort für dieses Geschöpf? Das klingt als Beschreibung für sie wie ein Furz im Opernchor. Ein die Realität beleidigendes Geröchel. Entzückend. Nein, das trifft nicht annährend die Wahrheit. Umwerfend ist sie, alles verschlingend, alles überstrahlend! Ein Stern, ein Funkeln, ein Leuchten. Sie ist das Licht. Ja, das Licht.

Sie ist das Licht!

”Dann bestell doch einfach etwas. Ich will einen Ange Déchu. Mit gequirltem Krabbenschaum”

”Hm, hm, gleich das teuerste Getränk auf Seite vierzehn der Getränkekarte, achte Position von unten. Du hast Geschmack. Das imponiert mir.”

Es imponiert ihm sogar sehr. Es schmerzt ihn geradezu, dreihundertachtzig Euro für ein 2 cl Glas mit einer undefinierbaren Flüssigkeit zu bezahlen, die nach nichts schmeckt, aber gerade voll Trendy ist. Andererseits beglückt ihn diese Sanftheit, mit der sie ihren Wunsch ausgesprochen hat, zutiefst. Ihre rosenblättrige Grazie strömt als heißer Schauer von seinem Hinterkopf über den Rücken, die Nieren, die Leber, die Harnleiter bis in die unergründlichen Tiefen der Sackausbuchtung seiner maßgeschneiderten Seidenunterhose. Diese Stimme, die durch seine Adern rinnt wie flüssiger Blütenstaub, diese kristallgrünen Augen, in denen so viel Wärme schlummert. Dieses engelhafte Wesen. Diese Weichheit. Diese wohlige Wärme, die um sie herum wallt wie der flirrende Flügelschlag eines Kolibris.

Wärme? Nein. Hitze. Hinter ihrem Busen wogt heiße Lava. In ihrem Inneren braust ein Vulkan. Er fühlt das, er sieht die Funken aus ihren Augen fliegen. Er spürt Glutschauer herüberbrausen. Elektrische Energie tritt aus ihrer Haut, durchrast seine Glieder, … sein Glied….

Ein Mädchen kommt herbei, setzt die bestellten Getränke auf das verschlungen, avantgardistische Glasfieber-Kunstgebinde, dem sein Schöpfer, der freischaffende Künstler Roman Tiker, den Namen ‚Tisch‘ gegeben hat. Sie kassiert ohne rot zu werden die Zeche und intoniert mit Inbrunst ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, denn das Armand d’Or - Place des Belles gilt als überaus kultivierte Kaschemme. Edel und kultiviert.

„So lauschet denn den Worten des großen Dichters Rainer Maria Rilke:

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein.“

Die Getränkeservicesolistin beendet ihr Gedicht. Sie lächelt verträumt. Die Hand bleibt bescheiden ausgestreckt. Sie hat geflissentlich überhört, dass Olof vier Hunderter mit der Bemerkung ‚Stimmt so‘ für Bitris Drink bezahlt hat. Zwanzig Euro Tipp sind nämlich eine Beleidigung für eine Getränkeservicesolistin. Sie müsste Olof in den Arsch treten, wenn sie diese Bemerkung ernst nehmen würde. Aber er ist noch neu bei Armand d’Or. Er genießt Greenhorn-Schutz. Deshalb ignoriert sie den Zwanziger, der ihr sowieso gehört. Denn Wechselgeld wird grundsätzlich nicht zurückgegeben. Das wird für Armand d’Ors drei Freundinnen gesammelt, die auf einen Swimmingpool sparen.

Olof sieht plötzlich viele Augen auf sich gerichtet. Er kann sich nämlich einmal kurz von Bitris losreißen, denn die Hand der Kellnerin ist genau vor seiner Nase. Sehr dicht, unmittelbar vor seiner Nase. Schon fast in der Nase. Und er bemerkt, dass alle zu ihm hinsehen, denn die offene Hand der Kellnerin deutet ein aufkommendes Drama an. Ein Drama aus Teer und Federn. Olof erkennt, dass er noch etwas drauflegen muss. Er erinnert sich. Verdammt, es fällt ihm siedend heiß ein. Gerade noch rechtzeitig. Gerade noch! Bei Armand d’Or gilt nicht die Zehn-Prozent-Trinkgeldregel. Hier erwartet man hundert Prozent. Mindestens.

Er seufzt heimlich. Verdammt teuer das Leben als Partylöwe. Er gibt ihr noch mal vierhundert. Sie schaut so glücklich aus. Als hätte sie gerade Liebe gemacht. So glücklich sieht sie aus. Sie kassiert das Trinkgeld, singt mit kristallklarer Stimme eine Strophe von ‚Amazing Grace‘. Dann verschwindet sie arschwackelnd in der goutierten Menge.

”Auf uns”, sagt Olof mutig. Er lässt sein Glas an das von Bitris klingen. Verbrennt sich beinahe die Finger an ihren.

Bitris säuft das Glas leer. In einem Zug. Sie hat gesehen, dass ihr Gegenüber einen ansehnlichen Berg von Kreditkarten, Geldscheinen und Barchips in seiner Börse in der Gesäßtasche aufbewahrt. Diese Börse will sie erobern. Mit allen Mitteln.

Mit dem Blick des finanziell Erledigten sieht Olof dem Achthundert-Euro-Drink hinterher, wie er in dem aufregend sinnlichen Mund verschwindet, denn er weiß, dass dieses berückende Zauberwesen noch einen trinken wird und dass er nicht in der Lage sein wird, ihr den zweiten, dritten und sogar zehnten Drink abzuschlagen. Zur Bestätigung gleiten seine wässrig, finanzhaifischig scharfen Augen über ihren Ausschnitt bis hinunter zu ihren Schenkeln, deren Anblick ihm die Schwitzflecken ins Hemd treibt und gleich wieder verdunsten lässt.

Bitris trägt ein geschlitztes, wadenlanges Cocktailkleid, elegant lässig geschnitten, mit Herzattacken auslösendem Ausschnitt. Der raffinierte Schlitz in diesem Kleid reicht bis über ihre Hüfte hinauf, zeigt warme, atmende Haut, die sich über paradiesische Rundungen wölbt, den Hals austrocknen lässt, die Blicke aller Augen an sich heranzieht und sie fest mit sich verklebt, ohne die Chance, sich jemals wieder lösen zu können. Ohne die Chance. Sich jemals wieder. Lösen zu können. Sie schlägt ein Bein über das andere, der Schlitz grinst Olof an, dieser anregend klaffende Schlitz, dieser immer breiter aufgleitende Schlitz, der über ihre Haut rutscht, die braun gebrannte Haut, die warme, aufregend warme, glatte, seidenweiche, so ungeheuer alles an sich reißende, verschlingende Haut. Der Schlitz lebt, er lächelt einladend, zwinkert ihm zu, er zeigt ihm, dass Bitris nichts anderes unter dem Cocktailkleid anhat, als Haut, ihre eigene, warme, einladende Haut, die seine Hände ruft, ihn ruft, in die er hineinsinken will, sie einatmen, auffressen, sich an ihr wärmen, erhitzen, verglühen will. Wie ein Stromstoß durchfährt ihn der Anblick des über ihren Leib gleitenden Kleides, während sie das Bein überschlägt, der knisternde, glatte Stoff, der sie überall berührt, der wie ein Vorhang, wie ein sich öffnender Vorhang, der herabfällt und der einen schwarzen, dichten Busch sich kräuselnder Haare aufblitzen lässt, bevor sich der sanft wogende Wind, das Kleid, wieder über ihren Leib schmiegt.

”Ich habe noch Durst”, sagt sie erwartungsgemäß. Und um ihre Beute einzulullen, fügt sie ein Lächeln hinzu. „Das war lecker.“

Ihre Zunge fährt über ihre Lippen, die jetzt feucht sind, feucht von der Flüssigkeit, benetzt vom Tau des Morgens, feucht glänzen, so voller saftig prallem Leben.

“Habe ich dich hier schon mal gesehen?” fragt er, lässig zwei Bestellfinger in die Richtung der Rilke-Interpretin hebend. Er weiß, dass sie ihn sieht. Jeder bezahlende Gast bei Armand d‘Or hat seine eigene Getränkeservicesolistin. Deshalb kann Olof blind bestellen. Er braucht die Getränkeservicesolistin nicht zu sehen. Er kann sie gar nicht sehen! Denn seine Pupillen sind mit den Kunststoffgläsern seiner Designerbrille verschmolzen. Tausend Grad heiß ist es neben Bitris. Sie ist die Sonne. Er kann nicht woanders hinsehen, als zu ihr, auch wenn er dabei blind zu werden droht. Blind. Na und?

Nun gilt es, das Wesen neben ihm, dieses börsenbarometrisch absolut abgehobene Genialweib an seiner Seite mit gezielter Information zu seiner Person und seinen Moneten an sich zu binden bis das der Tod sie scheide.

“Mich kennen sie ... kennst du vielleicht aus der Zeitung oder dem Fernsehen. Letztes Jahr war ich Börsenkönig. Fünftausend Prozent. Mister 5000-Prozent nennen mich die Medien. Na ja, was kann man dafür, wenn man Erfolg hat und berühmt wird. Dann ist eben ein gewisses Medieninteresse da. Fernsehen, Talkshows, Börsenberater, alle stehen bei dir auf der Matte.

- Wie macht man das, fünftausend Prozent? – Das fragen dich diese Fernsehtypen dann vor laufender Kamera. - Unsere Zuschauer wollen das auch machen. Die wollen auch ihr Vermögen um fünftausend Prozent erhöhen. –

Ha, als wenn das so einfach wäre, eine eigene Firma aus dem Nichts zu stampfen und in Null-Komma-Nichts zu einem Milliardenbetrieb auszubauen.

Milliardenbetrieb, sagte ich.“

„Geil“, sagt Bitris.

„Na ja, und man darf dann als der König der Börse den unerfahrenen Fernsehzuschauern sein Börsenkonzept erläutern. Immerhin, bei einigen Sendungen hatte ich eine Zehn-Prozent Einschaltquote. Das sind einige Millionen Haushalte. Millionen, sagte ich.“

„Geil“, sagt Bitris.

„Erfolg verkauft sich eben gut. Es wurden sogar, das ist kein Scherz, Poster von mir angefertigt. Wie ich auf einem Haufen mit Geldsäcken sitze. Als König ausstaffiert. Sehr beeindruckend. Und Fernsehen, Fernsehen, Fernsehen. Alle wollten sie mich haben. Jeder Sender schickte mir Einladungen zu Shows und Expertenrunden. Mister 5000-Prozent hierher, Mister 5000-Prozent dahin. So geht das. Es kamen sogar Bittbriefe von Sendern. Selbst der Finanzminister fragte an, wie man am besten Geld verdient. Dabei zahle ich doch überhaupt keine Steuern!

Ich kann dir sagen, das war beinahe mehr Stress, als meine allererste Milliarde zu verdienen.

Ich sagte: Milliarde.“

„Geil“, sagt Bitris.

„Tja, in diesem Lande hat man eben noch die Chance, es aus dem Nichts vom Erben einiger weniger Millionen zum gutsituierten Milliardär zu bringen. Klar, man braucht eiserne Disziplin und einen geregelten Tagesablauf. Ich zum Beispiel stehe jeden Morgen um sechs Uhr auf. Und ich gehe um zehn zu Bett. Jeden Tag! Da kann man die Uhr nach stellen. Nur wenn man solche einfachen Regeln beherzigt, dann ist die erste Milliarde auch nicht mehr weit. Obwohl, die erste Milliarde, - ich sagte: Milliarde, (Geil) - das ist doch immer die schwerste. Das sagen alle. Na ja, alle, die bereits eine Milliarde verdient haben. So viele gibt es von uns ja nicht. Kennst du vielleicht schon einen, der eine Milliarde verdient hat? Wohl kaum. Es gibt nur ganz wenige von uns. Elite sozusagen. Die absolute Elite. Das sind wir. Die Elite. Wir, die Milliardäre.

Milliardäre, sagte ich.“

„Geil“, sagt Bitris.

„Deshalb steht das Fernsehen auch ständig auf der Matte. Eliten ziehen. Erfolg ist der Garant für eine gigantische Einschaltquote. Vielleicht hast du auch eine der Sendungen mit mir gesehen. Eine lief zur besten Fernsehzeit. Viertel nach acht. Auf RAFF-7.”

Niemals zuvor hat Bitris eine derart langweilige Unterhaltung geführt, niemals in ihrem bisherigen Leben ist sie dermaßen angeödet worden. Eine wahnsinnige Müdigkeit flutet wie eine Ölpest durch ihre Adern. Eine noch nie dagewesene, lähmende Schwere, die ihre Sinne verdunkelt. Die Lider sinken bis fast auf ihre Nase herab. Wie mit Blei gefüllt sind sie. Ihre Lider. Mit Blei gefüllt. So schwer. So unendlich schwer. Ihr gesamtes Rückgrat beginnt sich zu zersetzen, die Nerven verkümmern, sie sackt in sich zusammen, kann das Wasser nicht mehr halten, wird schlaff wie ein Sack voller Exkremente, fließt als zähe Masse an der Sofalehne herunter. Ein explosionsartiger Gähnreiz zerreißt ihr beinahe die Mundwinkel. Sie denkt verzweifelt an das Schicksal ihrer Vorgängerin. Die sitzt noch immer auf der Tanzfläche bei der öffentlichen Behandlung durch den Onkel Doktor. Ihr Kleid hängt an der Garderobe. Die Unterwäsche auch. Dobermeyer-Kallberg macht eine Tiefentherapie. Sie ist bereits voll entspannt. Aber ihr Maul ist noch weit aufgerissen. Ihr Zahnarzt macht sich parallel gleich mit an die Arbeit.

„Aber reden wir doch nicht über mich. Wen interessiert denn schon, wie einer seine Milliarden gemacht hat, wie viele Sportwagen er in den Garagen stehen hat, welche Jacht er diesen Sommer nutzt? Eine hübsche, junge Dame wie du es bist, hat gewiss noch keine Vorstellung davon, was siebzehn Milliarden an Aktien, Wertpapieren und Beteiligungen bedeuten. Was das für eine Verantwortung ist, sorgsam mit der gewaltigen Macht umzugehen, die einem diese ungeheuren Mittel verleihen, nicht wahr?“

„Geil“, gähnt Bitris.

„Eine hübsche, junge Dame wie du, die interessiert sich für die neueste Handtaschenkreation von Stralgud & Bijour, die farblich so ungemein exquisit mit ihrer splitternackten, weichen Haut harmoniert. Du möchtest doch gewiss viel lieber splitternackt auf dem Sonnendeck meiner … einer Hundert-Meter-Jacht im Mittelmeer liegen, die ich mir gleich morgen kaufen werde. Eine strahlende Schönheit wie du, die möchte in meinem … einem Luxusapartment in Monaco wohnen, das ich mir eigentlich mal zulegen könnte, und splitternackt im Pool herumplanschen. Die möchte in einem Sportwagen hinaus ins Grüne fahren und dort splitternackt im Gras meiner … einer privaten Parkanlage liegen und vögeln … Vögel über sich kreisen sehen, braun werden von der Sonne, die auf die junge, zarte, splitternackte Haut brennt, die ich dann eincremen werde mit Sonnenmilch und meinen entzückten Händen, die splitternackte, junge Haut, die glatte, warme, wunderschöne, splitternackte Haut. Eine junge Frau wie du es bist, die möchte Designerkleider auf der splitternackten Haut tragen, Kleider, die eng anliegen, die über die Haut streicheln und eng anliegen, nichts verhüllen, eng anliegen, mit Schlitz, der aufklafft, darunter splitternackt sein, unter dem eng anliegenden Designerkleid mit einem Schlitz der … “

Er wird von einem auf das Lieblichste vorgetragenen Rilke-Gedicht unterbrochen. Die Getränkeservicesolistin steht vor ihnen, zwei Gläser auf dem diamantbesetzten Tablett. Sie rettet Bitris vor dem Sturz in ewige Nacht.

„So lauschet denn den Worten des großen Dichters Rainer Maria Rilke:

Bangnis

Im welken Walde ist ein Vogelruf,

der sinnlos scheint in diesem welken Walde.

Und dennoch ruht der runde Vogelruf

in dieser Weile, die ihn schuf,

breit wie ein Himmel auf dem welken Walde.

Gefügig räumt sich alles in den Schrei:

Das ganze Land scheint lautlos drin zu liegen,

der große Wind scheint sich hineinzuschmiegen

und die Minute, welche weiter will,

ist bleich und still, als ob sie Dinge wüsste,

an denen jeder sterben müsste,

aus ihm herausgestiegen.“

“Was für ein romantischer Vers”, haucht Bitris, ganz zerflossen von der Poesie des Augenblicks, gefesselt von der Reinheit der vortragenden Stimme und der Schönheit der Worte. Sie springt auf, ist wieder mit erfrischendem, hervorquellendem Leben angefüllt. Sie flammt der Solistin derart glutvoll einen Zungenkuss auf den Mund, zwischen die Lippen, tief hinein in das hochschäumende Wesen, dass der eine sengende Hitze über die Wangen brandet und ihr für mehrere Minuten die Sinne schwinden.

“Und dennoch ruht der runde Vogelruf in dieser Weile die ihn schuf, breit wie ein Himmel auf dem welken Walde. Ich bin begeistert.”

Bitris lächelt so glücklich, dass ihr eine anregende Brust aus der Bluse rutscht. Nun ist auch Olof begeistert.

”Wie sieht es aus”, bekommt er unter heiserem Gehuste heraus. ”Jetzt, wo du einen Wald erwähnst. Wie wäre es, wenn wir uns ein wenig in den Wald setzen würden? Es ist ein so schöner Abend.”

Und es verspricht ein noch schönerer Abend zu werden, fügen beide synchron, aber in hinterhältige Gedanken verstrickt, hinzu.

Der Wald ist ein riesiger, künstlicher Garten, der aus Stoffblumen und Plastikbäumen besteht und sich über das gesamte obere Stockwerk ausbreitet. Dort plätschert ein kleiner Bach und ein Computer simuliert Vogelstimmen und Blätterrauschen. Es ist überaus romantisch dort zu sitzen oder zu liegen. In den Wald zieht man sich zurück, wenn man in freier Natur vögeln will, ohne sich die Smokinghose oder das Designerkleid zu verschmutzen, wenn einen die Lust spontan zu einer Nummer in die Kunstgrasfederkernmatratzen treibt oder wenn man zumindest den Eindruck erwecken will, als wenn man zu all dem noch in der Lage ist.

Bitris lodernde Sinnlichkeit lässt Olofs Brille beschlagen. Er will. Er kann. Er ist entbrannt.

Sie will nicht. Bitris Blick gleitet stattdessen abschätzend an der Getränkeservicesolistin herab, die mit mehreren Schweißausbrüchen gleichzeitig zu kämpfen hat, weil ihr gerade glockenklingend ein zarter Orgasmus im Hirn explodiert. Auch sie ist entbrannt.

Aber erst gilt es für Bitris, den Mann an ihrer Seite um sein Geld zu erleichtern. Dafür ist der Wald okay. Dort kann sie Olof ungesehen die Brieftasche ziehen. Ehe der die Hosen oben hat, ist sie weg und hat mit ihrem Bruder wieder die Existenz getauscht. Ihr Bruder Bitris wird an ihrer Stelle aus der Toilette kommen, versehen mit dem Geld des Milliardärs, und kann sich Madalena vornehmen. Und sie selbst wird in ihrem Halbreich aus vom Licht gestreiften Schatten auf die Getränkeservicesolistin warten, die bereits bis zum Scheitel mit ihrer Glut angefüllt ist, die sie aber noch in dieser Nacht mit einem pyroklastischen Strom ihrer Liebe übergießen wird. Läuft gut heute. Wirklich gut. Unerklärlich ist da nur diese jäh aufsteigende Wut in ihrem sich nach Weichheit sehnenden Herzen. Diese urplötzlich hereinbrechende, knochenberstende Wut, die wie eine Rute aus Stacheldraht über ihren Nacken peitscht.

Diese Wut gilt Olof. Jenem Kerl, der glaubt, sie würde sich ihm hingeben, während er unmittelbar neben dem rosafarben implodierenden Geschöpf der Getränkeservicesolistin steht, und nicht sieht, blind ist. Er ist blind. Tot. Er sieht nicht jenes Wesen, das Bitris lächelnd hinterherschaut, umkränzt ist von hellen Farben. Olof steht zwischen ihr und Bitris. Dazwischen! Er behindert flügelschwingende Blicke der Liebe. Stört!

Bitris spürt die Augen des Mannes wie plattgelatschte Nacktschnecken über die Haut ihres Hinterns glibbern. Kalt und feucht-klebrig schlüpfen sie in den Schlitz ihres Kleides, unter das Kleid. Sie schüttelt sich. Spürt ihre Wut rasen. Dieser Typ ist ein unangenehmer, mickriger Sack, ein schmierig, schleimabsondernder Widerling, dem sie am liebsten in die Fresse hauen würde. Die Wut kloppt ihr mit Titanfäusten Bilder von Gräueltaten ein, ihre ganz persönliche Wut auf diesen Mann neben ihr, auf Olof den Milliardär. Dem würde sie liebend gerne mit dem Hacken ihres Schuhs die Nase platt drehen und mit dem Messer die miesen Ohren abschneiden und vielleicht noch das eine oder andere sonst. Ja, das würde sie am liebsten sofort tun. Und reindreschen in die Visage. Reindreschen. Es gibt sogar nichts, was sie im Augenblick lieber tun würde. Nichts! Das wäre die absolute Erfüllung des Abends. Der Höhepunkt des Jahres. Diesem miesen, dreckigen Typen, der sie flachlegen will, diesem …

So brausen ihre Gedanken als rotglühender Feuersturm durch die engen Windungen ihres Hirns. In ihr kocht nun tatsächlich ein Vulkan. In ihr glüht Wut. In ihr ist Höllenfeuer.

Aber sie tut nichts. Hat sich in der Gewalt. Sie hat es ihrem Bruder versprochen. Versprochen hat sie es. Keine Gewalttaten. Keine unnötigen Härten. Kein Aufsehen. Das ist das Wichtigste. Kein Aufsehen.

”Ist okay. Gehen wir”, sagt sie stattdessen.

Sie steht auf, wackelte mit den Hüften, dass Olof ein Liter Schweiß aus den Haaren fließt und zwei Liter aus den Achseln. Er ordert Champagner in den Wald. Er lechzt nach ihr, rennt ihr nach, diesem Po, direkt vor seinen Augen, dieser Rundung, zwei Stufen über ihm, diesen Hüften, die so wahnsinnig vor seinen entzückten Augen schwingen, ihren Bäckchen, runden, wahnsinnig leicht schwingenden Bäckchen, nach links schwingenden Bäckchen, nach rechts schwingenden Bäckchen, seine Augen fluppen wie an Gummibändern hinter den schwingenden Bäckchen her, links, rechts, jeder Schritt ein sanftes Schwingen, ein Gleiten, ein Gebet zu einer allmächtigen Gottheit, eine Offenbarung, eine süße Bewegung, ein sanftes Schaukeln und Schwingen, ein Schluck Odem für die Augen. Schwingende Bäckchen. Tanzende Hüften. Flimmernde Luft.

Und diese Beinen, oh Herrgott, diese Beine! Diese Beinen, die lang und elegant in den Himmel ragten. Nein, nicht in den Himmel. Nur bis zu jener Stelle, wo sie sich vereinen zu unsagbar angenehmen Formen, zu einer Stelle, die der aufgehende Schlitz bei jedem ihrer Schritte und jedem Schwung ein kleines Stück weiter … einer Stelle, die sich so angenehm zart abhebt von diesem schrecklichen, verhüllenden Stoff des Kleides, diesem garstigen Kleid, das seinen Blick auf Distanz hält, seinen Blick, der sich hineinbohren will in … diese Formen, diese kleine helle Stelle, diesen Ort, braungebrannte Haut, dieser ...

„Was ist? Beeil dich“, sagt sie von oben herab.

”Du verlierst keine Zeit. Das gefällt mir”, schnauft Olof.

Sie geht vor ihm her, schnell, zielstrebig. Göttlich. Verfolgt von Blicken. Ausgezogen von Blicken. Männer erheben sich von den Stühlen. Starren ihr nach. Geben Standing Ovation. Prasselndes Applausklatschen. Jubel. Hochrufe. Das alles gilt ihr. Und ihm, Olof. Seine Brust wird breiter. Seine Gestalt wächst um einen Meter. Sie starren ihm nach. Neidvoll. Neidvoll! Ihm huldigend als demjenigen, der dieses feenhafte Geistwesen innerhalb der nächsten halben Stunde flachlegen wird. Ihm, Olof, dem voran sie eilt, ungeduldig, es kaum erwarten könnend, mit ihm, Olof, in den Wald zu gelangen, wiegt sie sich leicht wie eine Feder die Treppe hinauf. Die Treppe. Hinauf. Vor seinen Augen.

”Ich habe eben Durst … und ich habe Hunger”, sagt sie. Kehlig. Erotisches Timbre. Gurrendes Versprechen. Vielversprechend. Alles, alles versprechend.

Und auf der Bühne des Lokals, der erhobenen Fläche, wo Musiker aufspielen, Menschen tanzen, GoGo-Girls steppen, GoGo-Boys springen, da steht Charlotte Elvira von Prachtmannsberg, die Kellnerin, die Getränkeservicesolistin, die, von Bitris Kuss erleuchtet, mit blanker Brust und lieblicher Stimme das erste selbstverfasste Gedicht ihres in Kürze erscheinenden Poesiebandes vorträgt. Nein, sie zelebriert es in die atemlose Stille verzückter Gesichter hinein, den faszinierten Lauschern zum Genuss, dem verzauberten Publikum in die blumenumkränzten Sinne.

„Seelen sprühen Funkenbänder

Bittersüße speist den Mund

Glut durchfährt meine Gewänder

Glocke webt der Liebe Kund‘

Zarter Hauch durchwirkt das Antlitz

taufte mich mit seinem Kuss

hebt das Kind zum Götterwohnsitz

Immerdar es bleiben muss.“

Frenetischer Beifall.

Schwesterchen Zorn

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