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Kapitel eins

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In Verlis’ dickem, gehörnten Schädel summte und brummte es mit einer solchen Intensität, daß der Wyrm schon fürchtete, den Himmel über Tora’nah verlassen und landen zu müssen. Er taumelte in der Luft und wäre fast abgestürzt, ehe es ihm gelang, sich zusammenzureißen und die ledrigen Schwingen noch energischer einzusetzen, um sich erneut in die Lüfte zu schwingen. Das Herz hämmerte ihm heftig in der breiten Brust, sein ganzer Leib war wie elektrisiert von den Vorahnungen, die ihn plagten. Verlis witterte Gefahr. Er hatte dieses Summen und Brummen im Kopf schon einmal gespürt – als er einen Helm aus Malleum getragen hatte, einem Metall, das ihn unweigerlich mit anderen aus seiner Rasse in Verbindung brachte, mit den Nachfahren der Drachen der Vorzeit, die unter dem Namen Wyrmer bekannt waren. Nun aber schien es ganz so, als brauche er keinen Helm, um die Verbindung zu seinesgleichen zu spüren.

So schnell er konnte, schoß Verlis durch die Luft hinüber zu der magischen Barriere zwischen den Dimensionen, die Terra von Draconæ, der Welt, in die man die Wyrmer vor langer, langer Zeit verbannt hatte, trennte. Man nannte diese Barriere die Wasserscheide von Alhazred, auf deren anderer Seite sich eine wilde, wüste Wyrm-Zivilisation befand, in der ein General namens Raptus herrschte, ein Tyrann, der sich geschworen hatte, mit Hilfe seiner Zauberer den Schleier zwischen sich und Terra zu zerreißen und in die Welt der Magier einzumarschieren, um sie zu zerstören.

Von schlimmen Ahnungen geplagt, breitete Verlis die Schwingen aus und verharrte schwebend vor der mächtigen Barriere. Die Wasserscheide von Alhazred erstreckte sich schimmernd vom Erdboden bis zum Himmel, von einem Horizont zum nächsten, wie sie es seit Jahrhunderten tat. Aber nun schien ihr unheimliches Licht langsam zu verlöschen. Das Summen in Verlis’ Schädel wurde stärker. Vor Schmerz laut stöhnend wich er vor der magischen Barriere zurück. Das Licht der Wasserscheide flackerte, als für einen kurzen Moment alle Magie auf Terra erlosch.

Einen Moment lang nur, aber das genügte. Dann fiel die Barriere mit einem Geräusch wie berstendes Glas in sich zusammen. Nach all der langen Zeit war der Zauber zerstört, der sie aufrechterhalten hatte, und mit mordlüsternem Triumphgeschrei sickerten die barbarischen Wyrmer, die schon so lange versuchten, von der anderen Seite her durchzubrechen, nach Terra ein. Hinter ihnen war der Himmel über Dracomæ tiefschwarz von dunklen, geflügelten Gestalten. Die Wyrmer hatten begriffen, was gerade geschehen war und sammelten sich nun sturmwolkengleich zum Angriff.

Die erste Invasionswelle drängte vorsichtig und zu Fuß durch den großen Riß in dem Stoff, aus dem die Realität bestand. An den Rändern dieses dimensionalen Risses zischte und spuckte es. Verlis sah die Wyrmer kommen, mochte aber einen Augenblick lang seinen Augen nicht trauen. Konnte die Barriere wirklich zerstört sein? Dann erinnerte er sich an die Grubenarbeiter, die in der nahegelegenen Mine das wertvolle Metall Malleum förderten, und ihm wurde klar, daß deren Sicherheit in höchster Gefahr war.

Bei diesem Gedanken löste sich seine Erstarrung. Hoch aus dem Himmel stürzte sich Verlis auf die Eindringlinge und öffnete das riesige Maul. Ein Strom flüssigen Feuers ergoß sich aus seinem Inneren und tauchte die Unholde in ein Flammenmeer, während Verlis an ihnen vorbei davonflog. Diese Wyrmer mochten seine Artgenossen sein, aber sie waren überhaupt nicht wie er. Sie hatten seinen Klan, der einfach nur in Frieden irgendwo leben wollte, in einen blutigen Bürgerkrieg verwickelt. Für Verlis waren diese Wyrmer der Feind.

Zwei der Wyrmsoldaten schrien laut auf, als das Feuer, das Verlis gespuckt hatte, von ihnen Besitz ergriff. Die anderen lenkte der Angriff zumindest ein wenig ab, einige sogar soweit, daß sie an der Schwelle Terras ein wenig zögerten. Aber Verlis wußte, daß seine Attacke bestenfalls eine vorübergehende Ablenkung schaffen konnte. Wenn es ihm nur gelungen war, soviel Zeit herauszuschinden, daß er die Bergleute und Schmiede warnen konnte! Denn das, was sie alle am meisten gefürchtet hatten, war eingetreten.

Verlis’ Flügel peitschten hektisch die Luft, während der Wyrm über die uralte Heimstatt der Drachen der Vergangenheit hinwegschoß, verzweifelt bemüht, seine menschlichen Gefährten rechtzeitig zu warnen. Im Tiefflug glitt er über das Lager der Magier, in dem sich aber, wie er schon vermutet hatte, im Moment niemand befand. Die meisten Bergleute schufteten noch in den Gruben. Verlis flog noch schneller. Die Magier waren bei ihren Grabungen gefährlich nah an die Gräber seiner Vorfahren herangekommen, aber vom eigentlichen Gräberfeld der vorzeitlichen Drachen hatte er sie fernhalten können.

In der Luft hing dröhnend und schwer der monotone Lärm der Wühlmaschine, die Timothy Cade entwickelt hatte. Als Verlis zu den Bergleuten hinunterschoß, sah er, wie sich das große metallene Gerät in den Hügel bohrte, um ein weiteres Loch zu schaffen, aus dem man dann das Malleum für die Rüstungen und Waffen schürfen konnte, die man für den Kampf gegen die Wyrmer benötigte.

Malleum abbauen, Rüstungen und Waffen daraus schmieden – das war ursprünglich einmal der Plan gewesen.

Aber nun lief ihnen die Zeit davon.

Als erstes entdeckte Verlis Walter Telford, den Koordinator des Projektes, der sich gerade erregt mit zwei weiteren Bergleuten unterhielt. Sie alle wirkten äußerst besorgt, und Verlis verstand durchaus, warum. Höchstwahrscheinlich hatten sie noch nicht mitbekommen, daß der Angriff der Wyrmer bereits stattfand, aber da sie alle von Magie durchdrungen waren, war ihnen gewiß nicht entgangen, daß die magische Matrix einen Moment lang geflackert hatte.

„Walter!“ schrie Verlis. Dampf drang ihm aus den Nüstern. Eisiger Wind peitschte an seinem Körper entlang.

Telford sah auf und hob die Hand. „Sei gegrüßt, Verlis“, rief er laut, um den Lärm der grabenden Maschine zu übertönen. „Du hast es wohl auch gespürt, nehme ich an? Hast du eine Vorstellung ...“

„Die Wasserscheide ist gefallen!“ unterbrach ihn der Wyrm mit lauter, hektischer Stimme, die sogar den Lärm des Wühlers übertönte. Flüssiges Feuer rann ihm aus dem Mund.

Telford trat einen Schritt zurück. Es war dem Mann anzusehen, daß er nicht sicher war, ob er Verlis richtig verstanden hatte. Rasch wandte er sich an einen der Arbeiter, mit denen er sich gerade unterhalten hatte, und flüsterte ihm etwas zu. Der rannte hinüber zum Wühler, vor dem er stehenblieb und mit den Armen fuchtelte, damit der Mann, der ihn lenkte, die Lärmmaschine abstellte.

„Bist du sicher, Verlis?“ rief Walter. Auf der Grabungsstelle wurde es still. Nach und nach stellten die Männer und Frauen sämtliche Arbeiten ein und versammelten sich um ihren Koordinator. „Bist du dir wirklich ganz sicher?“

„Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Barriere fiel!“ rief Verlis mit seiner tiefen, weit tragenden Stimme. „Ich weiß nicht, was den Fluß der Magie unterbrochen hat, aber durch die Unterbrechung haben Raptus und seine Zauberer die Lücke geschaffen, die sie brauchen. Die Wasserscheide von Alhazred ist eingerissen. Die Wyrmer aus Draconæ dringen ein!“

Bei diesen Worten schien Telford in den Boden versinken zu wollen. Mutlos ließ er den Kopf hängen. „Aber wir sind nicht bereit! Außer dem, was sich gerade in der Schmiede befindet, gibt es weder Waffen noch Rüstungen.“

Aus der Ferne war ein Grollen zu vernehmen, das unwillkürlich an ein Gewitter denken ließ. Verlis wußte jedoch: Ein Gewitter war das nicht.

Auch Telford vernahm den Lärm. Er hob den Kopf und reckte den Hals, um besser hören zu können. Die Umstehenden begannen, besorgt miteinander zu tuscheln, und einige machten bereits Anstalten, Maschine und Grube zu verlassen, um irgendwo Schutz zu suchen. In einiger Entfernung stand die Werkstatt, in der das Malleum verarbeitet wurde und aus der nun die Schmiede mit ihren dicken Schürzen und schweren Handschuhen heraustraten.

„Das ist kein Gewitter, habe ich recht?“ Telford sah hinauf zum schiefergrauen Himmel, der sich über dem Tal erstreckte, in dem sie sich befanden.

„Nein, das ist kein Gewitter“, bestätigte Verlis, in dessen Innerem ein heftiges Feuer tobte. Qualm quoll aus seinem Maul. Das Grollen kam näher.

„Los, Leute!“ Telford rannte zur Schmiede. Einige Bergleute folgten ihm, andere jedoch sahen in seinem Aufbrechen nur das Signal dafür, kopflos die Flucht zu ergreifen. Statt sich ihrem Koordinator anzuschließen, schlugen sie sich so schnell sie konnten einfach irgendwo in die Büsche. Vielleicht hofften sie, in einer Höhle Schutz finden zu können. Auf das Lager rannte niemand zu – das würde, wie alle ahnten, schon allzubald brennen.

Verlis stieg höher und hielt aus der Luft mit Telford und denjenigen Bergleuten Schritt, die tapfer genug waren, nicht verstört das Weite zu suchen. Häufig warf er einen besorgten Blick zurück. Finstere Gestalten zeichneten sich gegen den Himmel ab – Raptus’ Soldaten hatten sich nun ebenfalls in die Lüfte geschwungen. Weiter entfernt stieg am Horizont dunkler Qualm auf. In der kleinen Siedlung, die die Magier als Behelfslager errichtet hatten, gingen wohl gerade die ersten Hütten in Flammen auf.

Telford führte seine Leute zur Schmiede, wo die Arbeiter, die dort beschäftigt waren, gerade durch die Tür drängten, Furcht und Neugier in den Gesichtern. Als Verlis landete, fiel sein Blick als erstes auf Charna Tayvis, die Vorarbeiterin der Schmiede, die aber ihrerseits nur Augen für Telford zu haben schien.

„Was ist los, Walter?“ fragte sie erregt. Charna war eine große Frau, die einen beherrschten, ausgeglichenen Eindruck machte. Ihr Antlitz war schwarz vom Rauch und von der Anstrengung ihrer Arbeit gezeichnet. Die Schmiede, die sich hinter ihr drängten, murrten bereits ärgerlich. Auch sie brannten darauf zu erfahren, was vor sich ging.

„Man greift uns an. Raptus ist der Durchbruch gelungen.“

Die Schmiede wirkten wie vom Donner gerührt. Kein Wunder: Raptus war ein gewalttätiger Wilder und geschickter Heerführer, grausam und gnadenlos. Verlis wußte das aus Erfahrung. Aber Telford ließ nicht zu, daß sich unter seinen Arbeitern Angst und Schrecken breitmachten.

„Tragt alles zusammen, was ihr fertig habt!“ wies er die Schmiede an. „Waffen, Helme, einfach alles aus Malleum, was ihr findet. Es darf kein einziges Stück verschwendet werden.“

Charna streifte sich die schweren Handschuhe ab, als sie vortrat. „Gerade vor zwei Tagen haben wir eine Menge Waffen und Rüstzeug nach Arkanum verschifft“, berichtete sie. „Genug, um eine ganze Einheit auszurüsten. Wir haben nur die Sachen hier, an denen wir gerade arbeiten.“

Einer der Bergleute – es war der, der Timothys Maschine bedient hatte –, drängte sich nach vorn. In seinen Augen flackerte Furcht, und Verlis roch deutlich die Panik, die dem Mann aus den Poren drang.

„Was soll nun werden?“ fragte er mit einem Blick zur oberen Begrenzung des kleinen Tales, in dem sie alle gearbeitet hatten. Das Grollen in der Luft war lauter geworden – es kam näher. „Wenn wir die Waffen zusammengetragen haben – was dann?“

Einer der Arbeiter hatte beim Verlassen der Schmiede eine Waffe in der Hand gehabt, an der er anscheinend gerade gearbeitet hatte, ein Speer aus Malleum mit einer sehr scharfen, ja, schon gemein scharfen Spitze. Das Material, aus dem er gearbeitet war, würde dafür sorgen, daß er auch noch durch die härteste Wyrmhaut drang, selbst durch die Rüstungen, die die Bestien angelegt hatten.

Telford ließ sich den Speer geben, um ihn prüfend in der Hand zu wiegen. „Dann benutzen wir die Waffen für den Zweck, für den sie bestimmt sind“, sagte er mit fester Stimme, wobei seine Augen prüfend auf den Gesichtern der Umstehenden ruhten. „Wir benutzen sie, um um unser Leben zu kämpfen.“

Sowohl die Bergleute als auch die Schmiede eilten in die Werkstatt, um sich dort mit Waffen und Rüstungen zu versorgen.

„Wie lange bleibt uns noch, bis sie über uns herfallen?“ Den Speer immer noch in der Hand baute sich Telford neben Verlis auf.

„Nicht mehr lange“, entgegnete Verlis, der besorgt beobachtete, wie der Himmel immer schwärzer wurde, weil jetzt das ganze Lager in Flammen stand. In dem Rauch kreisten unheilverkündende, geflügelte Gestalten. Das Knattern unzähliger Flügelpaare klang wie Donnergrollen. „Nicht mehr lange.“

* * *

Timothy kniete neben dem Leichnam Leander Maddox’, seines Freundes und Mentors, des Mannes, der sich seit dem Tod seines Vaters um ihn gekümmert hatte. Der Magus war ein großer Mann gewesen, sowohl was seine Gestalt als auch was sein Herz betraf, aber so, wie er jetzt hier am Boden lag, ohne einen Funken Leben, ohne Magie, wirkte er so klein. Cassandra, die zwischendurch zurück in den Abstellraum geklettert war, von wo aus sie und die anderen in das Geheimverlies hier unten geraten waren, hatte Timothys Laterne mit dem hungrigen Feuer mitgebracht. Für Tim war hungriges Feuer sauberes, reines Feuer. Es war nicht magisch, kein Geisterfeuer, gespeist von den Seelen toter Magi. Diese Welt fand nichts dabei, die Energien toter Magi weiterzuverwenden, im Gegenteil: Man fand, damit führe man nur magische Energie einem nützlichen Zweck zu. Aber Timothy war klar, daß der Geist der Magi in diesem Feuer gefangensaß, daß die Seelen der Toten so nicht weiterziehen konnten, daß ihnen die letzte, die endgültige Belohnung versagt blieb. Das fand er so schrecklich, daß es ihm schon kriminell vorkam.

Die Laterne mit dem hungrigen Feuer in der Hand kniete Cassandra an Timothys Seite und trauerte mit ihm um den Mann, der ihrer beider Lehrmeister und Beschützer gewesen war. Nicht weit von der kleinen Gruppe am Boden entfernt wartete Ivar, der letzte Krieger aus dem Stamme der Asura. Er hatte im Kampf gegen Alhazred Verletzungen erlitten, stand aber aufrecht mit gefalteten Händen da, als wolle er über Leanders sterblichen Überresten ein Gebet sprechen, und wirklich klang es, als stimme er leise einen Sprechgesang an, eine Beschwörung einer höheren Macht.

Cassandra stellte die Laterne neben Leanders Leichnam ab und senkte den Kopf. „Es tut mir leid“, seufzte sie. „Ich kannte ihn nicht lange, aber doch lange genug, um zu wissen, daß er ein großer Mann war. Arkanum hat heute etwas sehr Wertvolles verloren.“

„Er wird vielen fehlen“, meinte Ivar mit rauher, kaum hörbarer Stimme. „Führer wie Leander braucht das Parlament der Magi heute mehr denn je.“

Timothy hörte die tröstenden Worte, die seine Freunde sprachen, vermochte selbst jedoch noch nichts zu sagen. Er trug so viele Erinnerungen an den Mann im Herzen, der jetzt tot vor ihm lag: Erinnerungen an die Anteilnahme in Leanders Augen, an die Ruhe und Stärke, die der Freund stets ausgestrahlt und mit denen er andere anzustecken vermocht hatte. Timothy erinnerte sich noch genau an die erste Begegnung mit dem Freund, daran, wie Leander aus Terra kommend durch das magische Portal in die Welt getreten war, in der ihn sein Vater seiner Behinderung wegen seit seiner Geburt versteckt hatte. Schon damals, beim ersten Anblick des kräftigen, bärtigen Magus mit der wilden, roten Löwenmähne, hatte Timothy gewußt, daß ein Freund vor ihm stand. Gut – das Böse hatte Leander im Griff gehabt, hatte den Mann manipuliert. Aber im Herzen war der Magus stets der Erinnerung an Timothys Vater Argus Cade treu geblieben, der sein eigener Lehrer und Mentor gewesen war.

Mit einem herzzerreißend traurigen Seufzer nahm Timothy Leanders kalte Finger in seine Hand. Endlich gelang es ihm, in Worte zu fassen, was sein Herz bewegte. „Leander hat sich immer irgendwie verantwortlich gefühlt“, sagte er leise, „für die Art, wie die Magi mich behandelten. Er gab sich die Schuld an ihrer Furcht, an ihrer Arroganz und Ignoranz. Ich bin auf Terra geboren, aber ich glaube, Leander hat sich oft gewünscht, er hätte mich gelassen, wo er mich fand – um mich vor all dem zu bewahren, dem ich ausgesetzt war, seit ich damals durch jene Tür in seine Welt hineingetreten bin.“

Nachdenklich betrachtete Timothy Leanders bleiches Gesicht. Ohne die Blutspritzer darauf hätte man meinen können, der große Magier schlafe nur.

Cassandra legte ihrem Freund tröstend die Hand auf die Schulter.

„Aber das hat er vollkommen falsch gesehen!“ fuhr Timothy fort. „Sicher, es gibt immer wieder mal Zeiten, da wünsche ich mir, ich könnte mich zurück nach Geduld begeben, um mich dort zu verstecken. Aber dann denke ich an das, was ich dann aufgeben müßte. Meine Inselheimat kommt mir so ... so unbedeutend vor, seit ich gesehen habe, was sich außerhalb ihrer Grenzen alles finden läßt.“

Eine Welle der Gefühle trieb ihm die Tränen in die Augen, aber es gelang ihm, sie nicht fließen zu lassen. „Du hast mir die Augen für die Wunder geöffnet, die hinter jener Tür lagen. Dafür werde ich dich immer lieben. Du wirst mir ganz schrecklich fehlen.“

Er beugte sich vor und hauchte einen Kuß auf die Braue des toten Gefährten. Dann stand er auf, damit ihn das Elend nicht doch noch übermannte. Er spürte die fürsorglichen Blicke, mit denen Cassandra und Ivar ihn beobachteten, und nickte den Freunden wortlos zu. Sie sollten sich um ihn keine Sorgen machen.

An der gegenüberliegenden Wand des großen Gemachs hing ein Wandteppich mit dem Wappen des Alhazred-Ordens. Timothy ging hin und riß ihn von dem Platz herunter, wo er wahrscheinlich jahrhundertelang gehangen hatte. Den kostbaren Wandteppich fest in beiden Händen haltend durchquerte der Junge das Zimmer und schwor sich, seine Trauer um Leander nicht auf ewig und alle Zeiten in seinem Herzen einzusperren, sie nicht bis ans Ende seiner Tage zu unterdrücken. Er würde sich die Zeit nehmen, den Verlust seines Beistandes zu beweinen – aber im Moment gab es zu viele andere Dinge, um die er sich kümmern mußte. Dinge, die wichtiger waren als sein Schmerz und seine Verzweiflung.

„Tim?“ fragte Cassandra vorsichtig. „Alles in Ordnung?“

„Vorn und hinten nicht!“ gestand er, indem er den Wandteppich über Leanders reglose Gestalt breitete. „Aber jetzt gibt es keinen Alhazred mehr. Seine finsteren Machenschaften mit all der Angst, die sie verbreiteten, sind vorbei, also wird alles bald besser werden. Es muß einfach so sein. Leander ist dafür gestorben!“

Noch ein letztes, stilles Lebewohl an Leander, dann trat Timothy zu Ivar. Der Asura ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Konfrontation mit Alhazred mitgenommen hatte. Dabei hatte er sicher starke Schmerzen. Der dunkle Magus hatte einige von Ivars Kräften geraubt; der Krieger würde einige Zeit brauchen, um sich wieder zu erholen. Als Timothy noch ein Kind gewesen war und auf der Insel Geduld gelebt hatte, war Ivar sein Freund gewesen und ein ebenso guter Lehrer wie später Leander. Sein Leben lang war Timothy von guten Freunden beschützt worden – nun war es an der Zeit, daß umgekehrt er auf die Freunde achtgab.

„Wir bringen dich zu einem Heilkünstler“, sagte der Junge, „und dann müssen wir dafür sorgen, daß alle anderen erfahren, was hier unten geschehen ist.“

Cassandra nickte. Sie nahm die Laterne vom Boden auf und leuchtete der kleinen Gruppe den Weg zur Treppe, die in den Lagerraum führte, in dem sie den geheimen Zugang zu Alhazreds verborgenem Bau entdeckt hatten.

Der Aufstieg kam allen etwa dreimal so lang vor wie zuvor der Abstieg. Timothy hatte viel Zeit, sich über das Parlament der Magi und die Welt Terra den Kopf zu zerbrechen. Gut, Alhazred hatten sie überwältigt. Aber das half wenig gegen die Angst, die den Jungen beschlich, sobald er an die Bedrohung durch eine mögliche Invasion aus Draconæ dachte. Wenn er sich an seine Zeit als Gefangener in den Kerkern des tyrannischen Raptus erinnerte, liefen Timothy jedes Mal kalte Schauer den Rücken hinunter.

„Jetzt sind wir fast da, Ivar“, ermunterte er den Freund, den er stützen mußte, denn sonst hätte der Asura den Weg die steile Wendeltreppe hinauf nicht geschafft.

Sie waren gerade wieder um eine Windung gebogen und konnten über sich schon die Tür zum Lagerraum erkennen, als plötzlich eine Silhouette diese Tür verdunkelte, auf deren Kopf aufgeregt flatternd ein großer Vogel hockte. Inmitten all seines Kummers, all seiner Schmerzen empfand Timothy ein bißchen Trost bei diesem Anblick, denn die Silhouette war die Sheridans, des mechanischen Mannes, den der Junge selbst gebaut hatte, während der Vogel Edgar war, die schwarzgefiederte Krähe, die der Hausgenosse seines Vaters gewesen war. Auch wenn Timothy selbst ja kein Magus war, war Edgar dennoch zu seinem Vertrauten geworden.

„Krah!“ schrie Edgar. „Krah, sie sind es. Bei den Schwanzfedern meiner Vorfahren, sie sind es wirklich!“

„Timothy, du lebst!“ Sheridan streckte die segmentierten Metallarme aus, um der kleinen Gruppe bei der letzten Etappe des Aufstiegs zu helfen. Er klapperte, wenn er sich bewegte, und aus einem Austrittsventil seitlich an seinem Kopf entwich Dampf.

An jedem anderen Tag hätte Timothy diese Bemerkung bestimmt mit einem Witz gekontert, denn immerhin stellte Sheridan eine Tatsache fest, die nicht zu übersehen war. Aber an der Sorge, die der mechanische Mann um seinen Erschaffer empfand, war nichts Belustigendes. Nicht alle, die in den Bauch Himmelshafens hinabgestiegen waren, um gegen Alhazred zu kämpfen, kehrten lebend zurück.

Cassandra mit der Laterne trat zuerst durch die Tür des Abstellraums, dann half Timothy Ivar hindurch. Die ganze Zeit bestürmten die besorgten Gefährten die kleine Gruppe mit erregten Fragen. Im Abstellraum hatte sich ein halbes Dutzend Magi versammelt, alle aus dem Alhazred-Orden. Cassandra war jetzt Großmeisterin, von daher hielten sie ehrerbietig Abstand zu Timothy. Sie würden sich nur gegen ihn stellen, wenn sie sich dazu gezwungen sahen.

„Zephyrus sei Dank, Euch ist nichts passiert!“ rief Kaiphas, der Navigationsmagus, der Leander so gut und so lange gedient hatte. Wer sich dem Studium der Navigationsmagie verschrieben hatte, verbarg sein Gesicht zum großen Teil hinter einem Schleier, aber dennoch erkannte Timothy die Erleichterung in den Augen des Mannes. Fast schaffte er es nicht, dessen Blick zu erwidern.

Stirnrunzelnd sah der Navigationsmagus noch einmal in das dunkle Treppenhaus. „Wo ist Meister Leander?“ wollte er wissen.

„Ja“, krähte Edgar. Die Krähe faltete die Flügel zusammen, hielt den Kopf schräg und sah Timothy von ihrem Sitz hoch auf Sheridans Schulter prüfend an. „Wo ist er? Bewacht er Alhazred oder ...“

Dann aber erkannten alle den Ausdruck in Timothys Augen, und die Trauer, die sich über die Versammelten senkte, hätte dem Jungen fast das Herz zerrissen. Bitte, laß mich jetzt stark sein, dachte er. Laß mich für meine Freunde stark sein.

„Alhazred ist tot, wirklich tot“, sagte er. „Aber Leander ... wenn er nicht gekommen wäre, genau im richtigen Moment ... wäre keiner von uns mehr am Leben. Doch der Preis ...“Timothy schaffte es kaum, die Worte über die Lippen zu bringen. „Leander ist tot.“

Alle standen wie vom Donner gerührt, niemand bewegte sich, niemand sprach. Kaiphas schloß die Augen und wandte sich ab, ließ den Kopf hängen. Edgar flatterte mit den Flügeln und riß den Schnabel auf, als wolle er etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Sheridans Augen glühten trübe und schwach, er ließ die Arme hängen, als hätte er sich heruntergefahren. Die anderen Alhazred-Magi flüsterten leise miteinander, wobei einige von ihnen Timothy mit offenem Mißtrauen beäugten.

„Was ist da unten passiert, Junge?“ fragte Edgar endlich, wobei er heftig mit den Flügeln schlagend einen neuen Platz auf Sheridans Kopf aufsuchte. „Es muß furchtbar gewesen sein. Die ganze Insel drohte abzustürzen. Wir dachten, unser letztes Stündlein hätte geschlagen.“

„Es war grauenhaft“, stimmte ihm der mechanische Mann zu. „Wie kann es angehen, daß solch mächtige, geschickt gewirkte Zauber versagen?“

Die Männer aus dem Alhazred-Orden hörten nicht auf, Timothy argwöhnisch zu betrachten, als seien sie sicher, daß er für den Vorfall verantwortlich war. Wer anders als der Unmagier kam denn in Frage!

Sie hatten mit ihrem Verdacht ja durchaus recht.

„Es lag an Alhazred“, begann Timothy zu erklären. „Er nahm die Seelenenergie der Geisterfeuer in sich auf und schaffte es, sich mit der magischen Matrix zu verbinden. Er sog diese Magie in sich auf, wodurch er die Matrix schwächte und selbst immer stärker wurde. Sein Ziel war, die gesamte Matrix unter seine Kontrolle zu bringen, um die Magie der gesamten Welt zu befehligen. Leander versuchte, ihn aufzuhalten, aber Alhazred war zu stark. Wenn ich nicht getan hätte, was ich tat ...“

„Was hast du denn getan, Timothy?“ fragte der schwarze Vogel in besorgtem Flüsterton.

„Ich ... ich habe die Matrix berührt“, erklärte der Junge. „Ich habe die Matrix berührt, und ich glaube, ich habe sie einen Moment lang abgeschaltet.“

Die Magi steckten die Köpfe zusammen und tuschelten erregt miteinander. Der Argwohn, den sie gehegt hatten, verwandelte sich in ihren Köpfen gerade zu einer Gewißheit, die sie mit abgrundtiefer Furcht erfüllte. Der bloße Gedanke daran, was Timothy getan hatte, jagte ihnen Schauer den Rücken hinunter.

„Ach du meine Güte!“ flüsterte Sheridan.

„Na ja, bewirkt hast du etwas“, meinte Edgar. „Ich hatte vorhin einen Moment lang das Gefühl, die ganze Sache geht den Bach runter.“

Timothy sah sich um. Der Abstellraum befand sich in einem chaotischen Zustand. Regale waren umgestürzt, überall lagen die Trümmer der Gegenstände, die sich darauf befunden hatten. „Ist auch niemandem etwas zugestoßen?“ erkundigte sich der Junge nervös. „Ist in Himmelshafen sonst soweit alles in Ordnung?“

„Bis auf etwas Unordnung scheint weiter nichts passiert zu sein“, antwortete Kaiphas. „Aber nicht nur Himmelshafen wurde in Mitleidenschaft gezogen. Wir alle haben einen Moment lang gespürt, wie unsere Magie uns verließ.“

Timothy wurde beinahe schwindelig bei dem Gedanken an das Ungeheuerliche, das er bewerkstelligt hatte. Er hatte ja nicht geahnt, wozu er fähig war! Einen Moment lang bekam er fast Angst vor sich selbst.

„Timothy hat geleistet, was erforderlich war“, sagte Cassandra mit ernster, befehlsgewohnter Stimme, einer Stimme, der man unwillkürlich zuhörte und gehorchte. Das war auch nur richtig so, denn nun, nach Leanders Tod, war das Mädchen die einzige, wahre Großmeisterin ihres Ordens. „Wäre er nicht gewesen, hätte nichts und niemand Alhazred aufhalten können.“ Aufmerksam sah sie sich um, denn sie wollte ganz sicher sein, daß ihr wirklich alle zuhörten. „Ohne Timothy wären wir jetzt alle Sklaven Alhazreds, und unsere Magie stünde unter seinem Befehl“, sagte sie.

Dann wandte sie sich an einen der Alhazred-Magi. „Bringt Ivar sofort zu einem Arzt!“ befahl sie.

Der Angesprochene verneigte sich tief, ehe er sich vorsichtig dem Asura-Krieger näherte. Ivar zögerte. Er sah Timothy an.

„Mach dir um mich keine Sorgen, alter Freund“, versicherte der Junge. „Mir passiert schon nichts, solange du fort bist.“

Ivar nickte und gestattete, daß man ihn aus dem Zimmer führte. Er und sein Begleiter waren gerade verschwunden, als Carlyle, persönlicher Assistent des Großmeisters des Alhazred-Ordens, aufgeregt ins Zimmer gestürzt kam, dicht gefolgt von weiteren Alhazred-Magi.

„Den Göttern sei Dank!“ sagte er, indem er die Hand auf die Brust legte. Carlyle, für gewöhnlich ein umständlicher, launenhafter kleiner Mann, hatte sich in der aktuellen Krise als wertvoller Verbündeter erwiesen – und noch dazu zu erkennen gegeben, daß er einst Kampfmagus gewesen war. „Als Himmelshafen zu fallen begann, befürchtete ich das Schlimmste.“

Dann schwieg er, betrachtete nachdenklich das Häuflein vor sich, zählte in Gedanken die Häupter der Anwesenden und runzelte die Stirn. „Was ist mit Großmeister Maddox?“

Timothy hätte die ganze traurige Geschichte bestimmt nicht noch einmal erzählen können und war sehr dankbar, als ihm Kaiphas diese Aufgabe abnahm.

„Mein Herr ist im Gefecht mit Alhazred gefallen“, erklärte der Navigationsmagus. „Ich werde hinabsteigen und seinen Leichnam bergen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging auf die Treppe zu, die in die Tiefe führte.

Carlyle war anzusehen, wie sehr ihn diese Botschaft traf. Er ließ die Schultern hängen, schien in sich zusammenzusacken, verzog das Gesicht, als könne er nur mühsam die Tränen zurückhalten. „Kaiphas?“ rief er dem Navigationsmagus nach. „Gestatte, daß der Orden dir hilft!“ Er deutete auf den Rest der Alhazred-Magi, von denen daraufhin einige ebenfalls durch die Geheimtür enteilten.

„Was für ein dunkler Tag“, fügte der Assistent des Großmeisters fast wie zu sich selbst hinzu.

Timothy hatte Carlyle eigentlich immer als ermüdend empfunden, während der Krise der letzten Tage jedoch an dem Mann auch neue Seiten entdeckt. Der Assistent des Großmeisters vermochte allerhand mehr vorzuweisen, als Timothy anfänglich für möglich gehalten hatte.

Jetzt riß er sich sichtlich zusammen, schob seinen Kummer beiseite, wie man einen Umhang fallenläßt, und machte sich daran, Cassandra Bericht zu erstatten. Er informierte sie über die Lieferung Malleum-Waffen, die am frühen Morgen aus Tora’nah im Hauptquartier des Parlaments eingetroffen war und erklärte, daß durch den kurzen, abrupten Sturz Himmelshafens zwar schreckliche Unordnung entstanden, es aber offenbar zu keinerlei schwerwiegenden baulichen Schäden gekommen war. Zumindest hatten die Inspektoren keine solchen Schäden entdecken können.

Timothy hatte nur mit halbem Ohr hingehört. Versonnen folgte er dem Weg einer Spinne, die über den Zimmerboden kroch. Der Anblick ließ ihn an ein weiteres Element des Bösen denken, das unter ihnen weilte.

„Was ist mit Grimshaw?“ wollte er wissen.

„Um den Irren mach dir keine Sorgen“, krächzte Edgar. „Als die Magie kurz ausging, hat der Sicherheitsdienst dafür gesorgt, daß er schön blieb, wo er war, und als ich das letzte Mal nachgesehen habe, saß der Schuft immer noch ordentlich hinter Schloß und Riegel.“

„Wo er auch hingehört, wenn ich das mal so sagen darf!“ ergänzte Sheridan und unterstrich seine Worte mit einem lauten Pfiff aus dem Austrittsventil.

Timothy aber sah weiter Carlyle an. Er wartete auf eine offizielle Bestätigung.

Carlyle nickte. „Der ehemalige Wachtmeister Grimshaw befindet sich nach wie vor in einer Gefängniszelle und wird dort auch verbleiben, bis man ihn wegen seiner Verbrechen vor Gericht stellt.“

Timothy atmete beruhigt auf. Er hoffte auf einen Augenblick Ruhe, wollte zu sich kommen, wollte in Frieden um den Verlust seines Freundes trauern. Nur mußte er allzubald feststellen, daß die kleine Pause, die ihm vergönnt war, lediglich die Ruhe vor dem Sturm darstellte.

* * *

Ehe Carlyle das Gemach betrat, in dem Fürst Romulus von der Legion Nocturnus ihn zu einer Besprechung erwartete, blieb er kurz stehen, um sich zu sammeln.

Er beschwor einen Spiegel herauf, in dem er sich prüfend betrachtete, unglücklich über die tiefen Ränder unter seinen Augen und die Blässe seiner Lippen. Dem persönlichen Assistenten eines Großmeisters des Alhazred-Ordens war keine ruhige Minute beschert. Er hatte dafür zu sorgen, daß alles reibungslos verlief, und wer das garantieren wollte, mußte ein gewisses Maß an Opfern bringen. Opfer und Disziplin – das waren Dinge, über die Carlyle in seinen Jahren als Kampfmagus allerhand gelernt hatte.

Im Kopf des umständlichen kleinen Magus überschlugen sich die Gedanken. Wieviel war aber auch in den letzten Monaten passiert – seit dieser Cade-Junge gekommen war. Einerseits erstaunlich, andererseits aber auch erschreckend, wie sehr die Ankunft eines Menschen alles verändern kann. Wenn jemand Carlyle vor, sagen wir einmal vor einem Jahr, prophezeit hätte, ganz Arkanum – nein, die ganze Welt! – würde durch das Eintreffen eines einzigen Kindes in Aufruhr und Chaos gestürzt werden, dann hätte er darüber nur lauthals gelacht und den, der das behauptete, für verrückt erklärt.

Aber so ist es gewesen, sann er jetzt vor sich hin, während er sich in der schimmernden Spiegelfläche prüfend betrachtete. Timothys Rückkehr nach Terra schien der Auslöser all der Veränderungen gewesen zu sein, durch die die Welt sich nun gezwungen sah, tapfer einen unheimlichen Pfad ins Unbekannte einzuschlagen. Noch hatte sich Carlyle nicht entscheiden können, ob er das gut fand oder nicht.

Er winkte mit der Hand, wodurch er dem magischen Spiegel befahl, sich aufzulösen, als sei dieser aus Rauch gemacht. Jetzt war nicht die richtige Zeit für derartige Grübeleien! Jetzt galt es, die Aufgaben zu erledigen, für die er zuständig war: sicherzustellen, daß in Himmelshafen alles so lief, wie es laufen sollte. Oder doch zumindest dafür zu sorgen, daß es nach außen hin den Anschein hatte, alles sei so, wie es sein sollte.

„Fürst Romulus!“ Als sich die große Doppeltür öffnete, verneigte Carlyle sich tief. „Es tut mir sehr leid, daß ich Euch habe warten lassen, aber hier ist im Moment alles ein wenig ... in Unordnung.“

Der Großmeister der Legion Nocturnus hatte auf dem Balkon gestanden, drehte sich beim Klang von Carlyles Stimme aber sofort um und trat in den Raum. Der Hüne war in voller Rüstung erschienen und bot einen wahrhaft furchterregenden Anblick.

„Was geht hier vor, mein Herr?“ bellte er, indem er hektisch die großen Hände, die in mit schwarzen Nieten beschlagenen Handschuhen steckten, öffnete und schloß. „Wer hat hier jetzt das Sagen? Was ist mit dem Jungen und mit Maddox, und was war das für ein ... Flackern ... in der Matrix?“

Der Führer der Legion Nocturnus war ein Stück größer als Carlyle. So sah sich der persönliche Assistent gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, um in die Augen sehen zu können, die ihn aus der Dunkelheit des großen gehörnten Helms des Fürsten heraus wütend anfunkelten.

„Ich habe dieses Flackern ganz deutlich gespürt, und ich war sicher nicht der einzige!“ fuhr Romulus fort. „Wir alle werden es gespürt haben. Meine Himmelskutsche sackte ein Stück Richtung Meer ab. Während dies geschah, konnte ich Himmelshafen stürzen sehen ...“

Als Romulus näher heranrückte, stieg Carlyle der fast animalische Geruch in die Nase, den der Körper des riesigen Mannes verströmte.

„Ich habe diesen ... Verlust von Magie schon einmal erlebt, Carlyle“, sagte Romulus. „Als Timothy Cade mich berührte. Ich verlange eine Erklärung.“

Carlyle fühlte, wie sich einer eisernen Faust gleich eine schreckliche Angst um sein Herz legte. Ich habe die Matrix berührt, hatte der Knabe gesagt. Timothys ... Behinderung hatte dazu geführt, daß sich Carlyle in Gegenwart des Jungen immer etwas unsicher fühlte. Aber jetzt war er mehr als unsicher, jetzt war er zutiefst bestürzt.

„Ach ja, das Flackern.“ Carlyle bemühte sich um einen beiläufigen Ton und hoffte, mit angemessen klarer, fester Stimme zu sprechen. „Ich glaube, dafür ist der junge Cade verantwortlich. Er hat seine Talente genutzt, um zu verhindern, daß Alhazred uns alle versklavt.“

Romulus zuckte zurück, als hätte Carlyle versucht, ihn zu ohrfeigen. „Seine Talente genutzt?“ zischte er mit einem unheimlichen Widerhall in seinem Helm. „Wißt Ihr eigentlich, was Ihr sagt?“

Carlyle war nicht ganz sicher, aber er hätte schwören können, daß in der Frage des Großmeisters eine Spur Angst mitschwang.

„Durchaus“, entgegnete er vorsichtig. „Aber Cassandra – ich meine natürlich Großmeisterin Nikodemus – sagte, wenn der Junge es nicht getan hätte, dann hätte Alhazred ...“

„Er hat die Matrix berührt!“ Romulus packte Carlyle bei der Robe und zog den kleinen Mann näher zu sich heran. „Die bösartigen Kräfte dieses Knaben Cade sind über die Mauern von Himmelshafen hinausgedrungen. Fragt sich nur, wie weit!“

Carlyle sorgte dafür, daß eine Ladung magischer Energie durch seinen Leib schoß. Romulus stöhnte auf, als ein blauer Funke aufzuckte und ihn zwang, die Kleidung des Assistenten loszulassen.

„Ich verstehe Eure Besorgnis, Großmeister.“ Carlyle strich sich umständlich die Robe glatt. „Aber Timothy Cade hat zu unser aller Verteidigung so gehandelt, und bislang sind noch keine Berichte über schwerwiegende Folgen seines Wirkens eingetroffen.“

In diesem Moment fing die Luft zwischen den beiden Magi zu schimmern an, ganz, als wolle sie Carlyles Worte Lügen strafen. Das Gesicht von Alethea Borgias, der Stimme des Parlaments, tauchte auf, um mit ernster Miene ein magisches Kommuniqué vorzutragen.

„Fürst Romulus!“ rief die Stimme.

Der riesige Großmeister der Legion Nocturnus neigte ehrerbietig den Kopf. „Zu Euren Diensten.“

„Die Wasserscheide von Alhazred ist gefallen“, berichtete die Stimme, wobei sie über das letzte Wort beinahe gestolpert wäre, so als könne Alethea nicht recht glauben, was sie da vorzutragen hatte. „Die Wyrmer sind durchgebrochen und greifen unser Bergbauvorhaben in Tora’nah an.“

Romulus starrte Carlyle wütend an. „Was habt Ihr da eben gesagt – keine schwerwiegenden Folgen?“

Der Un-Magier - Wyrmkrieg

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