Читать книгу Der Un-Magier - Geisterfeuer - Christopher Golden - Страница 6
ОглавлениеKapitel zwei
Für seinen Aufbruch hätte Timothy keinen besseren Zeitpunkt wählen können.
Tauchte doch gerade am anderen Ende des dichten, grünen Rasens in der Küchentür Carlyle auf, Leanders persönlicher Assistent. Der Mann war vor Wut knallrot im Gesicht, und als Timothy das sah, schnappte er sich blitzschnell den Rucksack, der neben ihm auf dem Boden lag und warf einen raschen Blick hinein, um sich zu vergewissern, daß er auch wirklich an alles gedacht hatte, was er für die Reise brauchen würde.
„Timothy Cade!“ schrie Carlyle.
„Ich glaube, Verlis und ich, wir brechen jetzt lieber schleunigst auf!“ raunte der Junge verschmitzt seinen Freunden und Cassandra zu. Dabei warf er dem Mädchen einen Seitenblick zu, der Cassandra durchaus nicht entging. Sofort blickte sie zur Seite und tat so, als studiere sie eingehend die Wolken, die hoch am Himmel über ihnen hinwegzogen.
Merkwürdig! dachte Timothy, wandte sich aber gleich wieder drängenderen Dingen zu.
„Bitte vergeßt nicht, den Wühler zurück in die Werkstatt zu bringen!“ bat er Sheridan, Ivar und Edgar.
„Keine Sorge, Timothy“, erwiderte Sheridan und ließ das Überdruckventil zischen. „Ich werde mich schon darum kümmern und noch dazu die Maschine so gründlich säubern, daß sie in Topform bereitsteht, wenn du zurückkommst.“
Ivar hatte bereits begonnen, den Wühler zurück auf den Karren mit Rädern zu befördern, auf dem die Freunde ihn aus der Werkstatt aufs Versuchsfeld geschafft hatten.
„Grundgütiger Magus!“ Carlyles Stimme klang schrill vor Entsetzen. „Was hast du mit dem Boden hier angestellt? Wenn Großmeister Maddox das erfährt ...“
„Was meinst du: Spricht er vom Loch da?“ Edgar hatte wieder seinen bevorzugten Platz auf Sheridans Kopf eingenommen. Wäre die Krähe imstande gewesen zu lächeln, dann hätte sie es bestimmt getan, da war sich Timothy vollkommen sicher.
„Ich glaube schon!“ Timothy entfernte sich, vorsorglich rückwärts gehend, von der Versammlung.
„Hrrrrm. Er klingt verärgert“, grollte Verlis und kratzte sich mit der Kralle am ledrigen Kinn. „Vielleicht solltest du ihm erklären, was ...“
Timothy packte den Wyrm am Ellbogen – wie kalt sich die rauhe, schuppige Haut anfühlte! „Vielleicht sollten wir hier so schnell wie möglich verschwinden!“
„Timothy!“ Carlyle hatte die kleine Gruppe fast erreicht. Er war immer noch hell erbost.
Edgar flog auf ihn zu und umkreiste den Kopf des gedrungenen Mannes, der ihn wild gestikulierend abzuwehren suchte. „Laß mich in Ruhe, Vogel, ich will nicht mit dir reden! Mit dem Jungen will ich reden!“
„Gut möglich, daß du recht hast“, meinte Verlis nachdenklich, öffnete die riesigen Schwingen und packte Timothy unter den Armen.
Als Verlis ihn aufhob und mit seinen schnell schlagenden Schwingen die Luft in Aufruhr versetzte, fühlte Timothy Cassandras Augen auf sich ruhen. Wieder einmal verspürte er dabei ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Magengegend.
„Das Glück sei mit euch!“ rief die Rothaarige laut genug, um das Dröhnen der Drachenflügel zu übertönen. Timothy winkte ihr zum Abschied zu – dann stieg Verlis senkrecht mit ihm himmelwärts.
Carlyle war mittlerweile bei dem Loch angekommen, das der Wühler in den Boden gerissen hatte und betrachtete es, hektisch und erzürnt gestikulierend. Wie es aussah, gaben sich Cassandra und Sheridan alle Mühe, den Mann zu beruhigen, hatten aber offenbar wenig Erfolg. Fast verspürte Timothy so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil er es den Freunden überließ, sich mit dem recht unangenehmen Gehilfen des Großmeisters auseinanderzusetzen.
Aber nur fast! dachte der Junge und kicherte leise vor sich hin.
Von seinen Flügeln getragen gelangte Verlis zur Vorderseite der Festung. Unwillkürlich fühlte er sich an seinen ersten Besuch in Himmelshafen erinnert, der noch nicht einmal so lange her war. Nur waren in der Zwischenzeit so viele Dinge geschehen, daß es Verlis vorkam, als läge zwischen jenem ersten Besuch und diesem Tag ein ganzes Leben. Auch Timothy fragte sich, was ihn wohl noch alles erwarten mochte, welche Wunder, welche Schrecken er noch erleben würde. Aufregende Zeiten für einen Jungen, der in fast völliger Einsamkeit aufgewachsen war!
„Da sind sie!“ schrie Timothy gegen den Wind an, der ihm um die Ohren fegte und gegen das laute Schlagen der großen Flügel. Er spürte, wie Verlis ihn fester unter den Armen packte.
Vor Himmelshafen warteten zwei Himmelskutschen, und um die Fahrzeuge drängten sich die Mitglieder der Expedition, die nach Tora’nah aufbrechen wollten. Bei ihrem Anblick senkte der Wyrm den Kopf und Timothy und er setzten zum Landeflug an.
Abenteuerlich schnell kam der Boden auf sie zugeschossen, und Timothy kniff instinktiv die Augen zusammen, mußte er doch befürchten, daß sie nicht in der Lage sein würden, rechtzeitig abzubremsen. Erst als es fast schon zu spät schien, breitete Verlis die Schwingen weit aus, womit er die Geschwindigkeit des Absturzes soweit drosselte, daß er sicher und sacht im Gleitflug auf dem Boden landen konnte.
Timothy rückte den Riemen der Umhängetasche zurecht, die er sich über die Schulter geworfen hatte und sah nach, ob deren Metallverschluß noch fest verschlossen war. Er wollte ganz sichergehen, daß er auf dem Flug mit Verlis keine seiner Notizen oder Zeichnungen verloren hatte. Alles schien in Ordnung.
Als Timothy aufblickte, sah er Leander auf sich zukommen, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Timothy freute sich darauf, dem Großmeister von den Erfolgen seiner neuesten Erfindung zu berichten und eilte dem Freund entgegen. Immerhin war es Leander gewesen, der ihn mit der schwierigen Aufgabe betraut hatte, eine Maschine zu entwerfen, die fähig war, Löcher in den Boden zu graben, ohne von Magie angetrieben zu werden.
Kaum in der Lage, seine freudige Erregung zu verbergen, rannte der Junge auf den stämmigen Magus zu. „Er hat funktioniert! Der Wühler! Er funktioniert!“ sprudelte er los, sobald Leander ihn hören konnte. „Ich habe ihn auf dem Gelände hinter der Festung ausprobiert, und alles hat wunderbar geklappt. Das Loch war glatt und tief. Gut, daß ich rechtzeitig aufgehört habe, denn ich hätte immer weitergraben können, und dann wäre ich durchgebrochen, und dann kam Carlyle und ...“
Timothys aufgeregtes Plappern fand ein jähes Ende, als Leander tadelnd auf den Zeitmesser deutete, den er am Handgelenk trug.
„Du bist spät dran!“ Leander war kurz angebunden und schien kaum in der Lage, seinen Zorn zu zügeln. Erneut verbarg er die großen Hände auf dem Rücken. „Hat Cassandra dir nicht Bescheid gesagt, daß wir fertig sind und aufbrechen wollen?“
Timothy hätte nun einfach Cassandra die Schuld für seine Verspätung in die Schuhe schieben können, wollte das Mädchen jedoch nicht in Schwierigkeiten bringen. „Sie hat Bescheid gesagt. Aber wir waren gerade dabei, meine Maschine auszuprobieren und ...“ Er unterbrach sich, denn beim Reden war ihm klargeworden, daß er eigentlich keine richtige Entschuldigung hatte. „Tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, daß ich dich habe warten lassen. Wir haben wohl einfach gar nicht mehr auf die Zeit geachtet.“
Der große Mann schwieg, und Timothy sah zu ihm auf und mußte feststellen, daß Leander in die Ferne starrte, wobei er sich mit den Fingern der rechten Hand gedankenverloren durchs kräftige rote Barthhaar strich.
„Leander?“ fragte Timothy leise, nachdem er einen Blick in die Richtung geworfen hatte, in die Maddox starrte, ohne dort irgend etwas erkennen zu können als blauen Himmel und tosendes Meer. „Ist ... alles in Ordnung?“
Der Großmeister zuckte zusammen, als hätte man ihn aus einem Traum gerissen. Erneut warf er einen tadelnden Blick auf seinen Zeitmesser. „Wir haben keine Zeit für diesen Unsinn!“ verkündete er ungehalten, wandte sich abrupt ab und eilte auf die anderen Mitglieder der Expedition und auf seine wartende Himmelskutsche zu. „Wir müssen sofort aufbrechen, wenn wir Tora’nah morgen erreichen wollen.“
Verlis trat neben Timothy. „Ist zwischen dir und dem Großmeister alles in Ordnung?“ erkundigte er sich besorgt.
Timothy antwortete nicht, denn er mußte sich Verlis’ Frage erst einmal durch den Kopf gehen lassen. In den vergangenen Tagen waren ihm durchaus Veränderungen im Wesen und im Verhalten seines Freundes und Mentors aufgefallen. Allerdings nichts, was ihm wirklichen Anlaß zur Besorgnis gegeben hätte. Leanders Auftritt eben war allerdings etwas vollkommen anderes.
„Ich bin nicht sicher!“ Nachdenklich sah Timothy zu, wie der Großmeister zu seiner Himmelskutsche ging, wo er sich kurz mit Kaiphas, seinem Navigationsmagus, unterhielt.
Nachdem Leander hinüber zur zweiten der wartenden Himmelskutschen gegangen war, um sich dort mit den anderen Expeditionsteilnehmern zu unterhalten, winkte Kaiphas Timothy und Verlis zu sich herüber.
„Meister Timothy!“ begrüßte er den Jungen mit einem knappen Nicken. Der Navigator hatte den unteren Teil seines Gesichts hinter einem Schleier verborgen, aber seine Stimme klang so freundlich, daß Timothy sicher sein konnte, daß der Mann seine Worte mit einem Lächeln begleitete. Also schien wenigstens einem der Anwesenden sein Anblick Freude zu machen. „Großer Verlis!“ wandte sich Kaiphas als nächstes ebenso freundlich an den Wyrm.
Verlis erwiderte den Gruß mit Flügelschlagen und indem er den gehörnten Kopf senkte.
„Großmeister Maddox hat mich soeben davon in Kenntnis gesetzt, daß wir umgehend aufbrechen sollen“, sagte Kaiphas, indem er die langen Ärmel seines dunkelblauen Gewandes zurückschob, um den Zauber wirken zu können, der die Kutsche in die Lüfte heben und vorwärts bewegen würde. „Er hat mir auch gesagt, daß Verlis und du mit ihm zusammen im Innern der Kutsche reisen sollt.“
Der Fahrer wies auf den unteren Teil des Gefährtes, wobei sich ein Funke aus seinen Fingerspitzen löste. Langsam schwang die Tür des Fahrzeugs auf, um den beiden Zutritt zu gewähren.
Entsetzt tat der Wyrm einen Satz zurück, fort von der Himmelskutsche. „Ich werde ganz gewiß nicht in diesem Fahrzeug reisen!“ knurrte er und schüttelte den riesigen gehörnten Kopf. „Ich werde aus eigener Kraft nach Tora’nah fliegen.“
Kaiphas faltete die Hände im Schoß zusammen. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Großmeister Maddox hat Anweisung gegeben, daß du in der Kutsche reisen sollst.“
Vor Verlis’ geblähten Nüstern sammelten sich Rauchwölkchen. „Ich werde nicht in dieser ... dieser Kiste fliegen!“ zischte er erbost, und Timothy erkannte nur allzu deutlich, daß der Wyrm langsam, aber sicher sehr wütend wurde.
Beruhigend legte er dem Freund die Hand auf den Arm. „Kannst du uns erklären, warum Leander das so will?“ fragte er den Navigator, wobei er drauf achtete, möglichst leise zu sprechen, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Umherstehenden zu erregen.
Kaiphas legte die Hand vor den schleierbedeckten Mund. Offenbar mußte er nachdenken, ehe er bereit war zu antworten. „Ohne dir gegenüber respektlos sein zu wollen, großer Verlis, ist der Großmeister der Ansicht, du würdest ... zivilisierter wirken, wenn du auf dieselbe Art und Weise reist wie die anderen Teilnehmer der Expedition.“
„Zivilisierter?“ bellte Verlis, und zischende Fäden aus orangerotem Speichel, flüssiges Feuer, troffen ihm aus den Mundwinkeln.
„So beruhige dich doch!“ bat Timothy hastig, aber immer noch ganz leise. „Du weißt doch längst, was sie von dir halten – die anderen Magi im Parlament.“
„Sie denken, ich sei ein Monster!“ sagte Verlis empört. „Eine wilde Bestie, die eigentlich gar nicht unter ihnen weilen dürfte.“
„Genau“, sagte Timothy. „Nütze die Gelegenheit, um ihnen wieder einmal zu beweisen, wie sehr sie im Unrecht sind.“
Der Wyrm grinste höhnisch-verächtlich, was seine rasiermesserscharfen Zähne wunderbar zur Geltung brachte. „Aber in diesem ... diesem Ding da zu reisen!“ Mit verächtlicher Geste deutete er auf die Kutsche.
„Ich werde versuchen, dir die Reise so bequem und angenehm zu machen, wie es in meinen Kräften steht“, versicherte Kaiphas, indem er die Hände hob. In hohem Bogen ergoß sich indigoblaue Magie aus seinen Fingerspitzen.
Verlis sagte nichts, sondern starrte die Kutsche lediglich mit wütend funkelndem Blick an, als bereite er sich darauf vor, sie zu einem Wettkampf herauszufordern.
„Zeig ihnen, daß sie im Unrecht sind“, flüsterte Timothy erneut.
Leander kam herbei, ganz so, als hätte er die Mißstimmung gespürt.
„Gibt es irgendwelche Probleme?“ erkundigte er sich, indem er den Blick zwischen Timothy und Verlis hin- und hergleiten ließ.
Mittlerweile stand die kleine Gruppe auch bei recht vielen der anderen Repräsentanten des Parlaments, die an der Expedition teilnehmen wollten, im Mittelpunkt des Interesses und wurde aufs genaueste beobachtet. Timothy wurde unruhig – dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für einen von Verlis’ Wutanfällen. Auch so schon fürchtete sich das Parlament vor den Nachkommen der antiken Drachen. Ein Wyrm allein war schon schlimm genug, aber nun gab es Dutzende dieser Wesen auf Terra, die allesamt aus Verlis’ Klan stammten. Sie waren aus Draconæ geflohen, um Raptus’ Brutalität zu entkommen. Jetzt war wahrlich nicht die richtige Zeit, Probleme heraufzubeschwören.
„Nein“, verkündete Verlis ruhig, indem er sich anschickte, seine massige Gestalt durch die Tür der Himmelskutsche zu zwängen. „Es gibt kein Problem. Überhaupt keins.“
* * *
Timothy wußte nicht, ob es daran lag, daß er die ganze Nacht aufgeblieben war, um letzte Hand an den Prototyp des Wühlers zu legen, oder daran, daß er so erleichtert war, daß seine Grabmaschine wirklich funktionierte – er mußte feststellen, daß er sich unglaublich schläfrig zu fühlen begann, sobald sich die Himmelskutsche in die Lüfte gehoben und hoch über den Wolken ihren Weg nach Süden eingeschlagen hatte. Er versuchte mit aller Macht, gegen diese Müdigkeit anzugehen, spürte jedoch, wie ihm die Lider immer schwerer wurden, um schließlich ganz zuzufallen.
Nur einen kurzen Moment lang ausruhen! versprach er sich, als sein Kopf zurück gegen die Rückenlehne sank. Aber es dauerte nicht lange, bis er fest eingeschlafen war und wirre Träume ihn in ihre Welt hineinzogen, als hätte ihn die Strömung des smaragdgrünen Meeres in die Arme geschlossen, das die Insel Geduld umgab.
* * *
Er träumte von der Umarmung seines Vaters.
„Wie sehr du mir gefehlt hast!“ Freudig rannte er über den Strand seiner interdimensionalen Zuflucht, um das Gesicht in den dicken Roben zu verbergen, die sein Vater trug. Ganz deutlich spürte er Argus Cades Arme um sich; sogar dessen Geruch drang ihm in die Nase, ein angenehmer Geruch nach alten Büchern und Pergamentrollen und nach den wunderbar würzigen Maddisblättern, die Argus Cade so oft in seiner Pfeife geraucht hatte. Dieser Geruch beruhigte Timothy auf der Stelle. Sofort fühlte er sich sicher und geborgen. Hier in den Armen seines Vaters konnte ihm niemand etwas anhaben, konnte ihm nichts geschehen.
Aber die Luft um ihn herum wurde plötzlich kalt und feucht, und als Timothy aufsah, mußte er feststellen, daß er gar nicht mehr am Strand von Geduld war, sondern ganz woanders. Wo er jetzt war, war es dämmrig. Alles hier schien aus Stein, und überall um sich herum konnte er das verzweifelte Stöhnen all derer hören, die man in den Kerker geworfen hatte, weil sie Verbrechen begangen hatten oder begangen haben sollen. Verbrechen gegen das Parlament der Magi – Verbrechen gegen die Welt.
Timothy kannte diesen Ort nur allzugut.
Abaddon.
Arkanum war die Hauptstadt Sunderlunds, das nach wie vor ein eigenständiges Land war, auch wenn Ländergrenzen nicht mehr allzuviel zu bedeuten hatten, seit das Parlament der Magi weltweit so sehr an Bedeutung gewonnen hatte. Aber immer noch verfügten die einzelnen Nationen über ein gewisses Maß an Souveränität, und unter anderem oblag ihnen die Unterbringung von Kriminellen. Das Hauptgefängnis Sunderlunds war Abaddon tief in den Fluten des Sunnis-Meeres gelegen. Dort hatte das Parlament einmal auch Verlis für kurze Zeit gefangengehalten, jedoch nicht irgendeines Verbrechens wegen, sondern einfach nur, weil er war, was er war. Timothy hatte ihn aus dem Kerker befreit. Abaddon war einer der schrecklichsten Orte, die der Junge je gesehen hatte, und er hatte gehofft, das Innere dieser furchterregenden Anlage nie wieder zu Gesicht zu bekommen, aber nun war er hier.
„Warum sind wir hier?“ fragte er.
„Weil du hier hingehörst“, antwortete eine grausame, kalte Stimme. Nicht die Stimme seines Vaters. Als Timothy aufblickte, sah er in ein haßverzerrtes Gesicht.
Konstabler Grimshaw zeigte beim Lächeln unglaublich scharfe Zähne, und als Timothy versuchte, sich aus seiner Umarmung loszureißen, packte er nur noch fester zu.
„Was ist denn, Jungchen?“ wollte er wissen. „Habe ich dir nicht auch gefehlt?“ Dann fing der Konstabler an zu lachen, eines der schauerlichsten Geräusche, die Timothy je gehört hatte.
* * *
Vor Schreck erwachte er. Verlis und Leander, die mit ihm in der Kutsche saßen, musterten ihn vorsichtig.
„Hast du geträumt?“ fragte der Wyrm, der Timothy gegenübersaß und unruhig auf seinem Sitz hin- und herrutschte, da er sich mit dem ganzen Flugarrangement auf dieser Reise immer noch nicht hatte anfreunden können.
„Das war eher ein Alptraum“, erwiderte Timothy, wischte sich kalten Schweiß von der Stirn und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer wieder in die Polster zurücksinken. „Ich habe von Argus geträumt.“
„Du hattest einen Alptraum, in dem dein Vater vorkam?“ Das konnte sich Verlis kaum vorstellen.
„Anfangs war es mein Vater, aber dann hat er sich in Konstabler Grimshaw verwandelt, und wir waren in Abaddon.“ Verlis neigte den gehörnten Kopf. „Verstehe! Das war dann wahrhaftig ein Alptraum.“
Timothy rieb sich den Schlaf aus den Augen. Leander war auf dem Sitz neben ihm eifrig damit beschäftigt, irgend etwas in einem übergroßen Journal zu notieren. Den Großmeister mit einem richtigen Schreibwerkzeug hantieren zu sehen war ein ungewöhnlicher Anblick, bediente er sich doch in der Regel eines Zaubers, wenn er etwas zu Pergament bringen wollte. Aber nun saß Timothy direkt neben dem Magus, und die merkwürdige, jegliche Magie negierende Aura, die den Jungen umgab, sorgte oft für totales Chaos beim Schreibzauber. Leander hatte feststellen müssen, daß es schlauer war, sich einer Feder zu bedienen, wenn er auf engem Raum mit Timothy beisammen war, insbesondere bei gemeinsamen Reisen.
Leander sah von seinem Gekritzel auf. „Um Grimshaw mußt du dir keine Sorgen machen. Weder im Traum noch in der Realität.“ Der Großmeister klappte das Journal zu. „Allem Anschein nach muß man den Mann mittlerweile zu den Vermißten zählen.“
Timothy spürte, wie ihm die Angst eiskalten Fingern gleich den Nacken hochkroch. Immer noch verschwanden Magi in der Stadt, und niemand vermochte herauszufinden, welches Schicksal diese Männer und Frauen ereilte. Neben der drohenden Invasion der Wyrmer war dies das Problem, das dem Parlament die größten Sorgen bereitete. Aber Grimshaw war ein böser Mann – wenn es nach Timothy ging, hatte er alles Schlechte verdient, was ihm zustieß. Sollte ihn dasselbe Schicksal ereilt haben wie die anderen verschwundenen Magi auch, so tat das Timothy gewiß nicht leid.
Der Junge sah aus dem Fenster. Unter ihnen lag dichtes Waldgebiet, der Wald von Yarrith. Diesen Wald hatte er immer schon einmal sehen wollen, hatte er doch gelesen, er erstrecke sich über eine gewaltige Fläche. Wie eine grüne Decke lag er unter den Reisenden, soweit das Auge reichte. Die Waldregion von Yarrith galt als einer der wenigen noch verbliebenen Urwälder Sunderlunds. „Lange dauert es nicht mehr.“ Auch Verlis starrte aus dem Fenster auf das dichte Grün. „Ich spüre, daß wir ganz in der Nähe sind.“
„Das kannst du spüren?“ wollte Timothy wissen.
Verlis nickte. „Hier.“ Er legte die krallenbewehrte Klaue auf die Brust, dorthin, wo seine Schuppen dichter waren und fast einem Brustpanzer glichen. „Der Geist eurer Toten lebt in der glühenden Energie des Geisterfeuers weiter, und auch die Geister der Wyrmer leben weiter. Die Verstorbenen lassen ein Teil ihres Ichs zurück, wenn sie ins jenseitige Land aufsteigen.“
Timothy hörte interessiert zu. Es gab für ihn noch so viel über Verlis und sein Volk zu erfahren, er wußte noch zu wenig über die Sitten der Wyrmer, über ihren Glauben und ihre Geschichte und hoffte sehr, eines Tages alles lernen zu können, was es diesbezüglich zu lernen gab.
„Tora’nah ist ein besonderer Ort“, erklärte Verlis, während sie weiterhin über das bewaldete Land flogen. „Ein spiritueller Ort. Hoffentlich werden wir dort die Antworten finden, die wir suchen.“
Timothy legte die Hand auf seinen Umhängebeutel, in dem sich die Notizen und Pläne für den Bau einer größeren Grabmaschine befanden. Solch eine Maschine würden sie brauchen, wenn sie in Tora’nah Bergbau betreiben wollten, und das wollten sie, glaubte das Parlament doch, im Boden Tora’nahs ließe sich die Lösung für eins ihrer größten Probleme finden.
„Das Material, das wir zum Bau eines Wühlers der richtigen Größe brauchen, befindet sich bereits in Tora’nah?“ fragte Timothy.
„Alles ist genauso, wie du es angeordnet hast“, beruhigte Leander den Jungen.
Timothy sah seine Zeichnungen und Notizen noch einmal durch. „Du meinst wirklich, das könnte klappen?“
Leander bedeutete dem Jungen, ihm seine Papiere auszuhändigen, eine Bitte, der Timothy nur zu gern nachkam. Jetzt war der Großmeister an der Reihe damit, die Zeichnungen und Notizen genauestens zu prüfen.
„Es funktioniert – wenn wir vorsichtig sind“, meinte er nach einer Weile. „Vorausgesetzt, deine Maschine arbeitet auch wirklich so, wie wir es uns erhoffen.“
Die antiken Wyrmer hatten in der Erde Tora’nahs ein sehr seltenes Erz abgebaut. Einer ihrer Wissenschaftler, ein Wyrm namens Malleus, hatte unter Tora’nah ein natürliches Vorkommen eines stark metallhaltigen Gesteins entdeckt, aus dem sich ein Metall mit außergewöhnlichen Eigenschaften gewinnen ließ. Es war ungewöhnlich weich und biegsam und ließ sich ausgesprochen gut verarbeiten – bis man es mit Magie in Berührung brachte. Sobald dies geschah, wurde das Metall, das nun nach seinem Entdecker unter der Bezeichnung Malleum bekannt war, zur härtesten Substanz auf dem gesamten Planeten. Malleum war unzerbrechlich, und es gab nichts, womit man es durchdringen konnte. Demnach konnte man das Erz nicht mit Hilfe von Magie aus der Erde holen, sondern mußte sich rein physischer Methoden bedienen. Versuchte man, malleumhaltiges Gestein mit Hilfe von Magie zu bergen, so wurde das Metall sofort hart und somit unbrauchbar. Dann konnte man daraus weder Waffen noch Rüstungen schmieden.
Nein, Malleum mußte man ohne Zuhilfenahme von Magie abbauen und im Schmiedefeuer bearbeiten, bis es die gewünschte Form erlangt hatte. Erst dann durfte man es mit Magie berühren, um alles Weiche, Biegsame, Geschmeidige an diesem Werkstoff hart und unzerbrechlich zu machen.
„Mit deinem Wühler sparen wir eine Menge Zeit“, meinte Verlis. „Wir wissen ja nicht, wann Raptus durch die Barriere bricht, und jede Sekunde ist kostbar. Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Je eher wir Waffen und Rüstungen aus Malleum schmieden können, desto besser. Bald herrscht wieder Krieg hier auf Terra.“
Der Wyrm drehte den Kopf und sah aus dem Fenster.
Timothy erbat sich seine Pläne zurück, um sie noch einmal mit frischem Blick zu studieren, denn ihm waren ein paar Verbesserungen eingefallen, mit dem sich der ganze Prozeß des Grabens noch vervollkommnen ließe. „Wißt ihr was?“ sagte er mehr zu sich selbst als zu seinen Mitreisenden, „ich glaube, wir könnten die Sache noch optimaler gestalten, noch effizienter.“
Schon hatte er sich die Feder ausgeborgt, mit der Leander geschrieben hatte, und fing an zu zeichnen.
So vergingen Stunden. Ein großes Stück Wegs war unter der Kutsche dahingezogen, ehe Timothy Cade den Kopf wieder von der Arbeit hob.
* * *
Sie nannten ihn die Wasserscheide von Alhazred – den Wall aus mystischer Energie, den das Parlament der Magi errichtet hatte, um die Trennung zwischen der andersdimensionalen Welt von Draconæ und Terra endgültig zu besiegeln. Die Barriere, die die Rasse der Wyrmer ein für allemal von der Welt der Magi fernhalten sollte. Der Wall erstreckte sich, soweit das Auge reichte: nach Süden und nach Norden, vom Boden bis in den Himmel. Um die Mauer herum schimmerte die Luft. Timothy hatte jene ferne, verbotene Welt einmal bereist, zusammen mit Verlis. Manchmal plagten ihn Alpträume, in denen die Vulkanstadt der Wyrmer und Raptus, ihr grausamer Oberbefehlshaber, eine erhebliche Rolle spielten. Timothy hatte mit eigenen Augen die Wyrm-Zauberer gesehen, die mit wütender Entschlossenheit daran arbeiteten, die schimmernde Barriere von ihrer Seite her einzureißen. Allein beim Gedanken daran lief es dem Jungen eiskalt den Rücken hinunter.
Offenbar setzte Kaiphas zur Landung im Lager von Tora’nah an, und nun konnte Timothy durch das Kutschenfenster auch die andere Himmelskutsche sehen, die mit ihnen gereist war. Das Land, dem sie sich näherten, war öde, voller Felsen und wenig einladend, ganz anders als die reichen, fruchtbaren Gebiete, die sie auf ihrem Weg überflogen hatten. Schon konnte Timothy das kleine Dorf erkennen, das die Arbeiter von Tora’nah für die Dauer der Bergbauaktivitäten errichtet hatten. Eines der Gebäude war ein großes, rechteckiges Gebilde mit hohen Schornsteinen.
„Was ist das?“ Timothy wies auf den rechteckigen Kasten. „Sind das die Wohnquartiere?“
„Das ist die Schmiede“, erklärte Leander. „Dort wollen wir das Malleum in Kriegsgerät umwandeln. Dies ist der wichtigste Teil des ganzen Unternehmens – von deinem Wühler einmal abgesehen.“
„Wir setzen zur Landung an!“ rief Kaiphas von seinem Sitz aus den Reisenden zu, und da spürte Timothy die rasante Abwärtsbewegung auch schon tief in seiner Magengrube. Der Junge liebte es inzwischen, in einer Himmelskutsche zu fliegen, hatte aber immer noch ein wenig Angst, wenn es ans Landen ging. Da er selbst keine Magie wirken konnte, hatte er nie gelernt, magischen Kräften zu vertrauen. Rasch warf er einen Seitenblick auf Verlis, der immer noch aus dem Fenster sah, während draußen die kalte, graue Landschaft immer näher kam.
„Als ich das letzte Mal hier war, war ich kaum mehr als ein Küken, frisch geschlüpft“, sagte der Wyrm leise. „Aber die Erinnerung daran, wie es hier einst war – vor dem Konflikt mit den Magi – ist immer noch unglaublich präsent.“
Sanft berührte die Unterseite der Himmelskutsche den unebenen Boden – ein deutlicher Beweis für Kaiphas’ Fahrkünste.
Leander öffnete die Kutschentür. „Das liegt alles in der Vergangenheit, Verlis“, sagte er, indem er ausstieg. „Jetzt wollen wir sehen, was wir gemeinsam tun können, um eine bessere Zukunft zu schmieden – eine bessere Zukunft für unsere beiden Rassen.“
Timothy kletterte Leander hinterher und wartete, bis auch Verlis sich umständlich aus der Kutsche geschält hatte. In Tora’nah war es viel kälter, als es in Himmelshafen gewesen war. Vor der Sonne hingen dicke Wolken. Zitternd schlug Timothy den Kragen hoch, wobei er nicht hätte sagen können, ob er wirklich nur der Kälte wegen fröstelte. Etwas Unheimliches haftete dem Ort an, irgend etwas, das der Junge als sehr beklemmend empfand.
„Wie war es hier vorher?“ erkundigte er sich bei seinem Freund. „Vor dem Krieg mit den Magi?“
Verlis breitete die Flügel aus, klappte sie wieder zusammen und sah sich um, wobei ihm Rauchwölkchen aus der Schnauze stiegen. „Damals war hier Leben – im Himmel, auf der Erde und im Fels. Aber all die Kämpfe und Schlachten, das ganze Ausmaß an Kampfmagie, das hier freigesetzt wurde ... das hat dazu geführt, daß das Land seine Seele verlor.“
Leander war zu den anderen Mitgliedern der Expeditionsgruppe hinübergegangen und hatte mit ihnen geredet, wobei allerdings niemand übersehen konnte, daß die Männer und Frauen, die das Parlament nach Tora’nah geschickt hatte, Verlis und Timothy keine Sekunde lang aus den Augen ließen. Auch Maddox bemerkte schließlich, daß sein Trupp ihm nicht gerade aufmerksam zuhörte und wie unhöflich sich die Parlamentsvertreter ihren Mitreisenden gegenüber verhielten. Eigentlich hätte er die Magier nun tadeln müssen – statt dessen warf er Verlis und Timothy einen wütenden Blick zu.
„Stimmt irgend etwas nicht?“ fragte er nicht ohne eine gewisse Schärfe im Ton.
Timothy sah Verlis an, der aber immer noch vom Anblick der Ruinen einer einst so blühenden Gesellschaft und seinen Erinnerungen an vergangene Zeiten abgelenkt schien. Schon wollte der Junge für sich und den Wyrm antworten – da sprach Verlis: „Hier stimmt vieles nicht“, sagte er an den Großmeister und die anderen Repräsentanten des Parlaments gerichtet. „Vieles hat sich ... verändert, seit ich zuletzt hier wandelte.“
Plötzlich erhob sich ein eiskalter Wind, und die Art, wie die Böe über die öde Landschaft strich, ließ unwillkürlich an ein Klagelied denken. Die Versammlung dort bei den Himmelskutschen schien das Weinen des Windes von Tora’nah zu bedrücken. Die Magi ließen ihr Tuscheln untereinander sein, und die Spannung, die geherrscht hatte, löste sich auf. Mit dem traurigen Lied des Windes in den Ohren erinnerte sich Timothy an das, was ihm Verlis gerade eben erst von den Toten seines Volkes erzählt hatte und fragte sich, ob er hier den Stimmen derer lauschte, die ihr Schicksal beklagten.
Eine Bewegung rechts von ihm lenkte ihn ab. Er trat ein wenig zur Seite, um einen besseren Ausblick zu haben und erkannte auf einem kleinen Hügel in der Nähe ein Dorf aus Hütten, ein Lager, das die ersten vom Parlament vorausgeschickten Arbeiter errichtet hatten. Diese Leute kamen nun herbeigeeilt, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
„Willkommen!“ rief ein großer Mann mit dichten, grauen Locken. „Du bist wohl Timothy!“ Er verneigte sich. „Ich bin Walter Telford, der Projektleiter hier, und ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Über dein Geschick als Erfinder habe ich die erstaunlichsten Dinge vernommen!“
Timothy war der Mann auf Anhieb sympathisch. Wie freundlich er sie begrüßte, und er schien auch gar keinen Anstoß an Timothys ... Behinderung zu nehmen. Der Junge verneigte sich ebenfalls. „Auch ich freue mich, dich kennenzulernen.“
„Walter!“ rief Leander von hinten und eilte den anderen Mitgliedern der Expedition voraus auf den Projektleiter zu. „Schön, dich wiederzusehen!“
Die beiden Männer umarmten einander herzlich.
„Geht es dir gut?“ fragte Telford. „Du siehst blaß aus, mein Freund. Sag mir bloß nicht, das Leben eines Großmeisters sei zu anstrengend für dich!“
Telford lachte laut und gutgelaunt und nahm den kräftigen Magier noch einmal liebevoll in die Arme. Timothy fand es beruhigend, daß sich auch noch andere um Leanders Gesundheit zu sorgen schienen.
„Eine Nebenwirkung der Position, fürchte ich“, wischte Leander die Besorgnis des Freundes mit einer Geste beiseite, um rasch das Thema zu wechseln. „Du kannst dir ausmalen, wie überrascht und erfreut ich war, als man mir sagte, du würdest die Operation hier leiten. Ich hätte gedacht, man habe dich schon vor Jahren in den wohlverdienten Ruhestand entlassen!“
Telfords Kommentar war ein lautes, vergnügtes Lachen, das in der düsteren Landschaft von Tora’nah allerdings ein wenig fehl am Platze wirkte.
Timothy sah sich nach Verlis um. Der Wyrm stand allein vor der Wasserscheide von Alhazred. Timothy trat näher an ihn heran, achtete jedoch darauf, nicht zu nah an die Barriere zu kommen, um womöglich mit seiner Aura eine Negierung des uralten Zaubers zu bewirken.
„Verlis?“
„Raptus ist auf der anderen Seite“, sagte der Wyrm, ohne sich umzudrehen. Er streckte die Klauenhand aus und legte sie an die schimmernde Wand. „Ich spüre seinen Zorn, fühle ihn wüten. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um diese Barriere einzureißen.“
Timothy wollte schon noch nähertreten, überlegte es sich aber anders und blieb, wo er war. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden ihn aufhalten.“
Der Wyrm senkte den gehörnten Kopf und seufzte; kleine Feuerstöße traten ihm aus den Nüstern. „Ich wünschte sehr, ich könnte deine Zuversicht teilen, Timothy. Aber ich spüre nur drohendes Unheil.“
Die Unterhaltung der beiden wurde unterbrochen, als von hinten Schritte erklangen. Timothy drehte sich um und sah Telford auf sich zukommen.
„Timothy?“ rief der Projektleiter. „Ich wollte gerade allen zeigen, wo wir sie untergebracht haben. Was ist mit euch? Wollt ihr nicht auch kommen?“
Timothy lächelte. Der Mann gefiel ihm immer besser. Telford behandelte sowohl ihn als auch Verlis als normale, vollwertige Mitglieder der Expedition, nicht als Mißgeburten. Er sah den Wyrm fragend an. Verlis stand immer noch an der schimmernden Barriere, und Timothy hatte das Gefühl, der Freund wäre gerne eine Weile allein gewesen.
„Wenn es recht ist, zeige ich Verlis später, wo er wohnt“, sagte er. „Aber ich komme sehr gern mit dir.“
Telford lächelte und bat Timothy mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Gehorsam begleitete der Junge ihn zurück zum Lager. Die Hütten dort waren klein, aber gemütlich und verfügten über ein Bett und einen Schreibtisch, an dem man gut arbeiten konnte. Das Quartier von Verlis befand sich direkt neben dem Timothys.
Telford ließ Timothy allein, damit der Junge sich einrichten konnte, und empfahl ihm, ein wenig zu schlafen, um sich von der langen Reise auszuruhen. Er begleitete seinen Rat mit einem herzhaften Lachen und fügte hinzu, Timothy sollte die Gelegenheit nutzen und bald zu Bett gehen, denn sie hätten vor, ihn hart ranzunehmen. Die Matratze auf dem schmalen Feldbett war zwar hart und klumpig, erwies sich jedoch als erstaunlich bequem. Schon bald schlief Timothy tief und fest.
* * *
Er war nicht sicher, was ihn geweckt hatte, aber als er die Augen aufschlug, spürte er deutlich, daß irgend etwas nicht stimmte. Es war inzwischen dunkel geworden, und als Timothy nun aufstand, fragte er sich, wie lange er wohl geschlafen haben mochte. Eilig holte er eine kleine Laterne aus seinem Beutel, die in der Lage war, hungriges Feuer zu beherbergen, und leuchtete sein kleines Wohnquartier aus, in der Hoffnung, das ungute Gefühl schnell verscheuchen zu können, das ihn beschlichen hatte. Flackernd warf die Lampe ein unruhiges Licht in die tintenschwarzen Pfützen aus Dunkelheit.
In einer Ecke bewegte sich etwas, huschte geschwind von einem Fleck Dunkelheit zum nächsten, wollte unentdeckt bleiben. Erschrocken schrie Timothy auf – um ein Haar hätte er auch noch die Laterne fallen lassen. Das huschende Etwas war ein Tier und eigentlich viel zu groß, um sich so schnell und heimlich bewegen zu können. Manchmal erhaschte der Junge sogar einen Blick auf das Tier: Es sah fast kahl aus, seine Haut schien von einem kränklichen, blassen Blau.
Als das unbekannte Wesen unter sein Feldbett sauste, wich Timothy zurück. Zu gern hätte er um Hilfe gerufen, aber er ließ es sein, weil er wußte, daß die Parlamentarier und wohl auch einige der Arbeiter im Lager ihn genau beobachteten und nur darauf warteten, daß er etwas Dummes tat. Er wollte auf keinen Fall einen unnötigen Aufruhr veranstalten – immerhin mochte es sich bei dem Eindringling um ein harmloses Tier handeln, das hier in der Gegend wild lebte. Nein, Timothy würde selbst mit der Sache fertig werden – es sei denn, er gelangte zu der Erkenntnis, daß er wirklich in Gefahr schwebte.
Rasch riß der Junge die Bettdecke hoch und sprang mit einem Satz auf das Feldbett, wo er sich hinkauerte. Die Decke hielt er so, daß er den unerwünschten Besucher damit, sollte dieser zu fliehen versuchen, wie in einem Netz fangen konnte. Als das Tier nicht sofort aus seinem Versteck auftauchte, begann Timothy, auf dem Bett auf und ab zu hüpfen, um es zu verscheuchen. Einen Moment fürchtete er, er würde sich etwas suchen müssen, um damit unter dem Bett herumzustochern, aber da schoß das blaßhäutige Wesen endlich unter der Pritsche hervor.
Mit einem Schrei der Erregung, der jedoch auch ein Angstschrei war, sprang Timothy vom Bett. Er landete auf dem Boden, ging in die Hocke und warf die Bettdecke über den Eindringling. Zuletzt setzte er sich auf die Decke, um das Tier endgültig an der Flucht zu hindern.
Das Wesen war viel stärker, als Timothy gedacht hatte. Es wehrte sich verzweifelt, wand sich, knurrte, zischte, versuchte mit allen Mitteln zu entkommen. Timothy wurde zur Seite geschleudert, und ehe er sich wieder aufgerappelt hatte, war ihm das Tier auch schon entkommen und bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die Tür zu. Timothy war fast umgehend wieder auf den Beinen und wollte die Verfolgung aufnehmen, als er feststellen mußte, daß das Tier verschwunden war. Verdutzt starrte er auf die Hüttentür, die im Abendwind auf- und zuschlug.
Wie ist das Biest hier hereingekommen? fragte sich Timothy. Er hätte schwören können, daß Walter die Tür beim Weggehen hinter sich zugezogen hatte. Als der Junge zur Tür eilte, weil er hoffte, draußen sehen zu können, in welche Richtung das Biest floh, stieß er mit Leander zusammen.
„Hilfe!“ schrie Timothy, schwer erschüttert durch das plötzliche Auftauchen des stämmigen Magus.
„Was im Namen der sieben Mystiker ist denn los?“ wollte Leander wissen.
Timothy schaute an ihm vorbei. „Hast du es gesehen? Hast du das ... das Tier gesehen, das gerade hier hinauslief? Es war in meiner Hütte, und ich habe es verscheucht. Ich weiß nicht, was es war!“
Leander sah sich flüchtig um, richtete den Blick aber fast umgehend wieder auf Timothy. „Ich habe nichts gesehen“, meinte er, indem er dem Jungen die Hand auf die Schulter legte. „Ich stehe jetzt schon eine ganze Weile hier, weil ich die klare Nachtluft genießen möchte.“
„Aber ...“
„Ich hörte dich schreien und wollte nachsehen, was los ist.“
Timothy sah Leander flehentlich in die Augen. „Aber ich habe es gesehen! Mit dieser Decke habe ich versucht, es zu fangen!“ Er hielt sein Bettzeug hoch, als könne er dem Erzmagus damit etwas beweisen.
Leander schüttelte den Kopf. „Das war ganz gewiß ein Alptraum, Junge. Der Ortswechsel und die Tatsache, daß deine Aufgabe hier von so großer Bedeutung ist, werden der Grund dafür sein.“
Einen wirklich winzigen Augenblick lang hätte Timothy dem Freund fast geglaubt. Hätte sich einreden lassen, daß er sich das alles nur eingebildet hatte, daß er immer noch halb schlief, halb träumte. Aber dann sah er die langen Risse in der Bettdecke, Risse, die ganz eindeutig von sehr scharfen Krallen stammten.