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Teil Eins 1
ОглавлениеNur Trixie erwartet ihn am Tor zur Einfahrt. Stabil auf die Vorderpfoten gestützt, sitzt sie da und beobachtet etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wahrscheinlich eine Iguana, denkt Clyde, oder ein Aguti, so, wie die Hündin guckt. Er zieht die Handbremse an und wirft einen Blick in dieselbe Richtung wie die Hündin, kann aber nichts entdecken. Auf der anderen Straßenseite ist nichts als Busch: Wildnis bis hinunter zum Fluss, und jenseits des Flusses noch mehr Busch, bis hin zu den Kakaoplantagen. Das Laub glänzt von dem bisschen Regen, der gerade gefallen ist, der Asphalt dampft. Clyde geht zum Tor, zieht sein T-Shirt aus, wischt sich den Schweiß aus Gesicht und Nacken.
Er hatte sich kurz gewaschen, bevor er den Nachhauseweg antrat, aber der Fabrikgeruch hängt ihm immer noch an – in den Haaren, in der Kleidung, in den Hautfalten. »Ölgeruch« nennen die Leute das oder »petrochemischer Geruch«, wenn sie ein bisschen besser Bescheid wissen. Clyde weiß, dass er heute nach Schmieröl, Ammoniak und faulen Eiern riecht, weil er nachmittags mit dem Ingenieur in der Fabrik unterwegs war – sie haben Ventile verschlossen, Kammern geöffnet, in kleinen Plastiktüten Proben gesammelt, die Kammern wieder geschlossen und die Ventile wieder geöffnet. Normalerweise trägt er bei der Arbeit nicht seine eigenen Sachen, sondern einen blauen Overall, und eigentlich duscht er auch, bevor er nach Hause fährt. Aber seit dem Einbruch vor ein paar Wochen arbeitet er – zumindest vorübergehend – doch lieber nur tagsüber, damit er nachts zu Hause bei Joy und den Jungs sein kann. Mit Schichtdienst ist zwar mehr Geld zu verdienen, aber Joy sagt, sie fühlt sich sicherer, wenn er im Haus ist.
Brownie und Jab-Jab kommen zum Tor getrottet, ihre Schnauzen orangerot von der staubigen Erde unterm Haus. »Hey! Habt ihr gepennt?«, fragt Clyde. Sie strecken sich, schnauben und hecheln ihn zur Begrüßung breit lächelnd an. »Ihr Faulpelze!« Clyde klopft ihnen durch das Tor hindurch das Fell. »Ihr seid so faul!« Doch sie lächeln und wedeln mit dem Schwanz: Sie spüren, dass er nicht sauer auf sie ist. Und überhaupt, denkt Clyde, wozu sollen sie auch tagsüber wach sein? Ist doch viel besser, wenn sie tagsüber schlafen und dafür nachts wach sind. Nicht einmal Wachhunde kommen vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf aus.
»Weg da, weg da«, ruft er, als er den Riegel anhebt. Die beiden Mischlinge weichen zurück auf den trockenen Grasstreifen neben der Einfahrt, während die bullige Rottweilerin Trixie sich auf alle viere stellt und den Punkt fixiert, an dem die beiden Torhälften zusammentreffen.
»Was ist los?«, fragt Clyde. »Du kommst nicht raus auf die Straße.« Wieder sieht er über die Schulter auf der Suche nach dem, was Trixie zu beunruhigen scheint. Die Sonne ist hinter den Bäumen untergegangen, die Straße liegt schattig, kühl und ruhig da. Die Vögel schlafen bereits – bis auf den Schwefeltyrann im Guavenbaum gleich neben dem Tor, diesen Schreihals, der immer als Letztes zur Ruhe geht. »Na, noch auf?«, sagt Clyde. »Alle anderen sind schon längst im Bett!« Der Vogel zwinkert, dreht seinen gestreiften Kopf keck nach hier und da, und als würde er plötzlich begreifen, wie er sich zum Narren macht, schwingt er sich auf und verschwindet.
Clyde öffnet das Tor einen winzigen Spalt und packt Trixie beim Halsband, um sie wegzuschieben. »Ich muss das Auto reinfahren!«, erklärt er. Sie knurrt. Leise. Den Blick auf den Boden gerichtet. Er weiß, wenn er auch nur ein kleines bisschen nachgibt, wird sie auf die Straße hinausschießen, und sie werden den Rest des Abends damit verbringen, sie wieder einzufangen.
Clyde lässt den Riegel wieder fallen und rüttelt am Tor. »Paul!«, ruft er. »Paul! Komm her und halt den Hund fest!«
Am Fenster bewegt sich etwas – ein Winken, gleich kommt jemand –, dann erscheint Peter auf der Veranda. Zwar sind die Jungs Zwillinge, aber selbst auf die zehn Meter Entfernung kann Clyde sehen, dass das nicht Paul ist, sondern Peter. Paul schleicht immer so herum – als wäre er am liebsten unsichtbar, findet Clyde –, wohingegen Peter aufrecht marschiert, die Arme ein klein wenig im Abstand zum Körper, nicht an ihn gedrückt, als ob er nicht wüsste, was er mit ihnen anfangen soll. Peter ist erst dreizehn, aber schon fast genauso groß wie Clyde und genauso behaart. Er hat die Schuluniform abgelegt und Shorts angezogen, die Druckstellen von seinen Socken sind noch zu sehen.
»Hey«, sagt Peter und kommt die Stufen herunter. Er eilt über den heißen Beton zum Gras – braun und verdorrt durch die Trockenzeit.
»Wo ist Paul?«
»Unterwegs.«
»Unterwegs? Wohin?«
»Weiß nicht. Zum Fluss, glaube ich.«
»Halt mal den Hund, ich will das Auto reinfahren.«
Peter hält Trixie, während Clyde den Wagen in den Carport lenkt, den Wellblechverschlag seitlich des Hauses. Als er sie loslässt, entfernt sie sich ein paar Schritte von ihm und schüttelt sich, als hätte sie gerade im Kanalrohr gebadet. Dann nimmt sie wieder ihre Position am Tor ein und beobachtet den Busch jenseits der Straße.
Als Clyde ins Wohnzimmer kommt, sitzt Joy direkt vor einem Ventilator. Die Laken, mit denen sie nach dem Einbruch das Sofa und den Sessel abgedeckt haben, liegen schön glatt und ordentlich, trotzdem sieht es hier drinnen fürchterlich aus. Joy wirkt müde und überhitzt, das fettige Haar hat sie zurückgebunden, ihre nackten Füße sind schwarz vor Dreck. Er fühlt sich selbst zu schmutzig, um sie zur Begrüßung zu küssen.
»Kein Wasser?«, fragt er.
»Nope.«
»Seit wann? Heute früh?«
»Gegen Mittag«, sagt sie. »Hab gesehen, dass der Druck nachlässt, und schnell die Töpfe aufgefüllt.« Sie redet weiter, während Clyde in die Küche geht und sein Schlüsselbund ablegt. Er verscheucht die Fliegen von den Tellern, die sich im Waschbecken stapeln. »Ich konnte nichts kochen«, ruft sie. »Hab Roti aus der Kühltruhe genommen und ein bisschen Choka dazu gemacht. Eigentlich wollte ich ein Curry machen, aber ich konnte ja nicht kochen.«
Er kommt zurück ins Wohnzimmer und guckt unter die Deckel der Pyrex-Schüsseln auf dem Tisch: geschmorte Aubergine mit reichlich Zwiebeln und Knoblauch, wie er es am liebsten mag, etwas Gurkensalat und in ein Geschirrtuch gewickeltes warmes Fladenbrot. »Kein Problem. Das hier ist doch super!« Er sagt das betont gut gelaunt, damit sie sich nicht schlecht fühlt wegen des einfachen Abendessens.
In einem Eimer im Badezimmer wäscht er sich die Hände, dann zieht er ein sauberes T-Shirt an. Das muss für heute reichen, Duschen ist nicht drin. Zurück im Wohnzimmer zieht er den Stuhl vom Tischende hervor, doch Joy rührt sich nicht. Sie bleibt auf der Sofaecke sitzen, spielt mit ihrem Ehering an der linken Hand, dreht ihn, schiebt ihn zum Fingerknöchel hoch und wieder zurück.
»Was ist los?«, fragt er.
Ihr Blick huscht zur Uhr an der Wand hinter Clyde.
»Was?«, fragt er.
»Ich frag mich, wieso Paul noch nicht zurück ist.«
Er setzt sich, nimmt einen Roti-Fladen aus dem Tuch und legt ihn auf den Teller. »Er wird schon wiederkommen, wenn er so weit ist.«
»Aber es wird schon dunkel«, sagt Joy.
Peter kommt herein, sieht die beiden an und setzt sich. Clyde nimmt vom Auberginen-Choka und verteilt es mit der Rückseite des Löffels auf seinem Teller, damit es nach mehr aussieht.
»Ich dachte, ich könnte ja mal bei Romesh anrufen«, sagt Joy. »Mal hören, ob er vielleicht bei ihnen ist.« Romesh ist ihr jüngerer Bruder. Mit seiner Familie wohnt er keinen Kilometer die Straße rauf in einem zweistöckigen Haus mit Teppichen und Klimaanlagen. Sie sieht Clyde dabei zu, wie er einen Streifen von seinem Brot abreißt. »Wenn du nichts dagegen hast?«
Er schiebt das Essen in den Mund und kaut, die Unterarme auf der Tischkante, und starrt finster vor sich hin. Peter senkt den Blick und isst.
»Hm?«, macht sie, nachdem Clyde heruntergeschluckt hat. »Hast du was dagegen?«
»Ich? Wieso sollte ich was dagegen haben?«
»Ich ruf mal eben schnell an«, sagt sie.
Paul ist nicht bei ihnen. Joy legt auf und setzt sich zu den beiden an den Tisch. Schweigend essen sie.
Nach dem Essen bringt Clyde seinen Teller in die Küche, aber dort ist kein Platz zum Abstellen. Das Spülbecken quillt über vor schmutzigem Geschirr, auf den Arbeitsflächen stehen überall mit Wasser gefüllte Kochtöpfe, Schüsseln, Eiscremebehälter. Clyde verscheucht die Fliegen.
»Ich mach das schon, Clyde.« Joy nimmt ihm den Teller ab. »Setz du dich ruhig nach draußen. Möchtest du ein Bier? Im Kühlschrank müssten ein paar Flaschen Carib sein.«
»Ich muss morgen früh zur Arbeit«, sagt er.
»Na ja, eins wird dich schon nicht umbringen. Oder? Eins geht doch?«
»Nee. Lieber nur Eiswasser. Haben wir Eis?«
»Massenweise«, sagt sie. »Geh ruhig schon raus und setz dich, Clyde. Ich bring dir dein Wasser.«
Clyde setzt sich auf einen der Stühle auf der Veranda und zündet eine Zigarette an. Von nebenan hört er die Siebenuhrnachrichten – die übliche Mischung aus Ministerlügen, Verkehrsunfällen, Vergewaltigungen, Entführungen und so weiter. Jeden Tag dieselben Geschichten.
Brownie und Jab-Jab erscheinen an dem schmiedeeisernen Tor am oberen Ende der Treppe und wedeln mit dem Schwanz. Jetzt, wo es Abend wird, sind sie ganz besonders wachsam. Clyde verrenkt sich den Hals: Die Straßenlaterne funktioniert schon seit Jahren nicht mehr, aber er kann Trixies gedrungene Gestalt in der Einfahrt gerade noch so erkennen.
»Haben die Hunde zu fressen bekommen?«, fragt Clyde seine Frau, als sie ihm das Eiswasser bringt und sich neben ihn setzt.
»Ich glaube nicht. Ich glaube, Paul ist diese Woche dran mit Füttern. Darum frage ich mich ja, wo er bleibt.«
»Hat er was gesagt? Bevor er weg ist?«
»Nein. Glaub nicht. Seit dem Einbruch hat er ja insgesamt kaum ein Wort geredet. Oder was meinst du? Er ist ganz durcheinander deswegen.«
»Na ja. Durcheinander? Oder beleidigt?«
»Durcheinander.«
»Willst du mir damit sagen, dass ich zu streng mit ihm war?«
»Nein, will ich nicht. Ich sage nur, dass ihr Streit hattet, stimmt doch? Und er war danach ganz durcheinander.«
Clyde verschränkt die Hände vor dem Bauch und lässt den Blick wandern, über den Vorgarten hinweg. Er befreit die Füße aus den Schlappen und legt einen Fuß aufs Knie. Seit Jahren erzählt Joy ihm, dass er zu streng ist mit dem Jungen – also, was denkt sie jetzt? War er zu streng? Oder nicht streng genug? Er trinkt einen Schluck Wasser und stellt das Glas zurück auf den Untersetzer. Er sieht wieder zum Vorgarten, wippt mit dem Fuß. Jab-Jab stellt die Ohren auf, als es im Busch raschelt, und trottet dann die Stufen runter, um der Sache nachzugehen.
Der Einbruch war genau heute vor zwei Wochen. Als Clyde nach Hause kam, stand die Haustür offen, alles war dunkel. Er saß im Auto und umklammerte das Lenkrad. Bereitete sich auf das Schlimmste vor. »BLUTBAD«, stand fast jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen. Oder: »WEITERES BLUTBAD« oder »WANN HÖRT DAS ENDLICH AUF?«. Zwei Nachbarn, Mr Chin Lee und Mr Bartholomew, bewaffnet mit Macheten und Stöcken, gingen mit ihm hinein. Sie fanden Joy und die Jungs zusammengepfercht auf dem Küchenboden, sie waren mit Lappen geknebelt, die Hände und Füße gefesselt mit Draht. »Gott sei Dank, sie leben!«, sagte Mr Chin Lee. »Sie sind alle noch am Leben!« Clyde saß in einer Zimmerecke und hielt sich den Kopf, während die Nachbarn mit Drahtzangen, Essen, Dettol und Eis herbeikamen. Mr Bartholomew rief seine Frau an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Sie waren nur gefesselt. Keiner tot.«
Am nächsten Morgen wachte er bereits mit Kopfschmerzen auf. Er hatte kurz aufstehen, Joy ihren Tee machen und wieder ins Bett gehen wollen, doch als er in die Küche kam, zerquetschte er mit dem nackten Fuß eine Made. Der ganze Boden war voll davon. Paul arbeitete sich bereits mit einem Stück Zeitung durch die Küche, er trug Flipflops. »Einen Scheißtag zu spät!«, sagte Clyde. Paul schwieg, vielleicht bückte er sich noch ein bisschen tiefer. Clyde spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. »Einen Scheißtag zu spät draußen, der Müll, und schon passiert hier so eine Scheiße!« Er biss sich auf die Zunge, doch im Kopf schimpfte er weiter: Und dann ist auch noch Joys Schmuck weg, das Haus wurde komplett durchwühlt, und ihm geht ein Arbeitstag durch die Lappen. Und dann Paul und seine Blödheit! Seine ewige beschissene Blödheit! »Also, diese Party in Port of Spain könnt ihr euch abschminken«, platzte es aus Clyde hervor. Seit Wochen redeten die Jungs von nichts anderem als dieser Party: Clyde sollte sie nachmittags nach Port of Spain fahren und um Mitternacht wieder abholen. »Hier geht niemand auf irgendeine Party!« Er wartete. Schäumte vor Wut. Aber es kam keine Antwort.
»Hast du dazu gar nichts zu sagen?« Doch Paul stand einfach nur da mit seinem üblichen leeren Blick. Clyde musste sich beherrschen, dem Jungen keine Ohrfeige zu verpassen, um ihn wach zu rütteln. »Weißt du was?«, hörte Clyde seine eigene Stimme. »Vielleicht hätten wir dich damals doch nach St. Ann’s bringen sollen.« Paul schwieg, aber eine minimale Veränderung in seiner Haltung – vielleicht sanken seine Schultern ein wenig, oder er neigte etwas den Kopf – verrieten Clyde, dass der Junge ihn gehört und verstanden hatte.
Clyde drückt seine Zigarette aus. In den Nachrichten geht es jetzt um die Ölpreise. Er schlüpft wieder in seine Schlappen und geht ins Haus – durch den dunklen Flur, durch das Wohnzimmer, dann durch die Küche in den kleinen Flur vor den Schlafzimmern. Er klopft bei den Jungs an.
»Ja?«, ruft Peter. Seine Stimme ist tief wie die eines Mannes.
»Ich bin’s.«
Peter öffnet die Tür und tritt einen Schritt zurück, um Clyde hereinzulassen. Auf dem Bett hinter ihm liegen ein aufgeschlagenes Schulbuch, ein Schreibheft, verschiedene Stifte und Bleistifte, Lineale. Die Laken sind glatt, unberührt. Die khakifarbene Schulhose liegt ordentlich auf der Bettkante, das hellblaue Hemd zerknäult neben der Schultasche auf dem Boden.
»Hast du mal in seine Schultasche geguckt?«, fragt Clyde.
»Soll ich? Wozu?«
»Guck halt mal«, sagt Clyde.
Er bleibt bei der Tür stehen und sieht Peter dabei zu, wie er ein paar Bücher aus der Tasche zieht und kurz aufblättert. »Ich glaub nicht, dass da irgendwas ist. Wonach soll ich denn suchen?« Er wühlt tiefer in der Tasche, holt hervor, was er darin findet: eine vertrocknete Bromelienblüte, einige Steine von Salzpflaumen, Schokoriegelpapier, einen zerkauten Strohhalm, ein paar Münzen. Peter blickt Clyde an, die leere Schultasche in der Hand, dann legt der Junge die Bücher wieder hinein.
»Komm«, sagt Clyde, als Peter alles wieder eingeräumt hat. Peter wirft einen Blick auf die Bücher und Hefte auf seinem Bett und folgt Clyde dann hinaus auf die Veranda.
Inzwischen ist es richtig dunkel geworden – die Fledermäuse sind unterwegs. Joy schaltet das Licht ein, eine Neonröhre, die flackert und Clyde Kopfschmerzen bereitet, aber wenigstens hält sie die Fledermäuse auf Abstand. Als Paul kleiner war, hat er immer gesagt, in dem Licht würden alle Gesichter ganz grün aussehen. Recht hat er, denkt Clyde, als er sich wieder auf den Verandastuhl setzt und nach seinen du Mauriers greift: Irgendwie sehen alle darin krank aus. Nicht braun, wie sonst, sondern ausgeblichen, ermattet. Die Insekten, die nun die Röhre anfliegen, lassen kleine Schatten über ihre Gesichter huschen.
»Erzähl mal, was heute Nachmittag war«, sagt Clyde. »Wann ist er los?«
»Gleich nachdem wir von der Schule zurück waren. So um halb fünf.«
»Und was hat er gesagt?«
»Nichts. Hat mich gefragt, ob ich mit zum Fluss will, ich hab nein gesagt, da ist er allein gegangen.«
Über ihnen fliegen die Insekten mit leisem Dotzen immer wieder gegen die Lampe. Joy zupft an ihrem T-Shirt, das ihr am Bauch klebt.
»Hatte er irgendwas mit?«, fragt Clyde.
»Nein.«
»Schuhe an?«
»Glaub nicht.«
»Ich hab unterwegs die anderen Jungs gesehen«, sagt Clyde. »Beim Fußballspielen neben der Tankstelle. Haben gefragt, ob Peter kommen und mitspielen will, aber von Paul kein Wort.«
»Ruf doch mal bei den Nachbarn an«, sagt Joy. »Und frag da, ob sie ihn gesehen haben.«
Sie hören die Nachrichten aus aller Welt, die Börsenkurse. Kaum beginnt der Wetterbericht, steht Clyde auf. Wen interessiert in der Trockenzeit schon der Wetterbericht? Zehn Minuten lang wird einem erklärt, dass es am nächsten Tag wieder heiß sein und nicht regnen wird. Peter und Joy folgen Clyde ins Wohnzimmer und sehen ihm dabei zu, wie er die Nummer der nächsten Nachbarn, der Chin Lees, wählt.
»Schönen guten Abend!«, sagt Clyde, als Mr Chin Lee abnimmt. Er stimmt einen jovialen Ton an und entschuldigt sich für die späte Störung. »Wollte bloß mal hören, ob ihr wieder Wasser habt? Habt ihr mal den Hahn aufgedreht?«
Er lässt den Blick von Joy zu Peter wandern, während er Mr Chin Lee zuhört. Die Chin Lees haben einen Wassertank, und Mr Chin Lee bietet Clyde etwas von ihrem Wasser an. »Nein, nein«, sagt Clyde. »Joy hat heute Morgen gehamstert, solange noch Druck war. Aber wenn es alle ist, schicken wir Peter mit einem Eimer rüber.« Sie wollten schon auflegen, dann: »Ach, übrigens – Paul ist nicht zufällig bei euch?«
Doch Mr Chin Lee hat ihn nicht gesehen. Clyde sagt ihm, er solle sich keine Sorgen machen, Paul würde bestimmt nur in der Gegend herumstreunen und hätte darüber die Zeit vergessen.
Er versucht es beim Nachbarn ein Haus weiter, dann noch ein Haus weiter, ganz am Ende der Straße. Joy bringt ihm das Telefonbuch, und er ruft Leute in den neueren Vierteln an, obwohl er keine Ahnung hat, ob Paul mit irgendjemandem dort befreundet ist. Keiner hat ihn gesehen. Er legt auf, die drei sehen einander schweigend an.
»Soll ich ihn suchen gehen?«, fragt Peter.
»Weißt du denn, wo er sein könnte?«
»Eigentlich nicht. Früher ist er oft zum Fluss gegangen, aber ich weiß nicht, ob er das immer noch macht.«
»Du weißt es nicht?«
»Nein.«
»Und wer könnte es wissen? Ist er mit irgendjemandem hier in der Gegend befreundet?«
Peter schüttelt zögerlich den Kopf.
»Komm schon«, sagt Joy. »Vielleicht wissen die was. Mit wem?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Sag’s trotzdem.«
»Vielleicht Sando.«
»Sando?«, fragt Clyde. Der Mann heißt eigentlich ganz anders, ganz normal, aber heutzutage haben sie alle diese blöden Spitznamen.
»Ich sag doch, ich bin mir nicht sicher.«
»Aber es muss doch einen Grund geben, dass er dir einfällt. Du meinst doch den Typen mit den Dreadlocks? Der ständig mit Sonnenbrille rumläuft?«
Peter nickt.
»Und wieso glaubst du, dass er was über Paul wissen könnte?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Was ist es dann? Was haben die beiden miteinander zu tun?«
»Ich weiß es nicht. Er ist mir bloß aufgefallen, morgens im Maxi-Taxi. Da tut Sando, als wären sie Freunde oder so.«
»Ach ja?«, sagt Clyde. Der Mann meint also, sie wären Freunde? Mit dem hat Paul zu tun? Der Mann ist über dreißig und macht den ganzen Tag nichts anderes, als im panyard Frauen anzuquatschen und Gras zu rauchen.
»Ich glaub nicht, dass Paul irgendwas macht«, sagt Peter schnell. »Er nimmt keine Drogen oder so, falls es das ist, was du denkst.«
»Na ja.« Clyde stellt sich bereits vor, wie er Paul unsanft nach Hause schleift. »Ich werd schon dahinterkommen, wenn er wieder da ist.« Und dieser Sando? Er wird sich diesen Nichtsnutz vorknöpfen und ihn fragen, was er mit seinem Sohn zu schaffen hat. Was er mit einem Dreizehnjährigen zu schaffen hat!
»Ich finde, ihr beiden solltet rüber in den Busch gehen und nach ihm suchen«, sagt Joy. »Peter kann dir den Weg zeigen. Und Peter könnte auch nach Paul rufen. Wenn Paul sich versteckt, wird er eher rauskommen, wenn er Peters Stimme hört.«
Clyde trommelt die Fingerspitzen gegeneinander und denkt nach. Warum sollte er Peter mitten in der Nacht mit in den Busch schleppen, nur um Paul einen Gefallen zu tun? Schlimm genug, dass überhaupt jemand losmuss, um nach ihm zu suchen, da reicht ja wohl einer! Und nach dem Einbruch und allem will er Joy auch nicht allein zu Hause lassen. »Nein. Ich gehe allein los«, sagt Clyde. »Peter, du bleibst hier bei Mummy.«
Peter holt ihm eine Taschenlampe, und Clyde zieht eine lange Hose und Schuhe an. Shorts und Schlappen sind nicht das Richtige für den Busch jenseits der Straße. Früher, als er klein war, ist er immer barfuß rübergegangen – bei Tageslicht kam man gut durch, konnte den Ameisenhaufen, scharfen Steinen, Stacheln und was es sonst so gab, ausweichen. Aber es ist lange her, dass er zuletzt da war, und außerdem – wer weiß, was nachts da unterwegs ist? Schlangen, Frösche, Agutis, die ganzen nachtaktiven Viecher oder Geister oder was auch immer. La Diablesse und Papa Bois und wie sie alle heißen. Nicht, dass er an diesen Quatsch glauben würde. Aber auch er findet, dass sich die Menschen in einem Gebiet aufhalten sollten und die Geister in einem anderen. Allein die Vorstellung, jetzt durch den dunklen Busch zu marschieren, fühlt sich nach einer Grenzüberschreitung an. Aber wie üblich bleibt ihm nichts anderes übrig. Während Clyde sich im Schlafzimmer die Schuhe zubindet, denkt er: Das ist das letzte Mal. Das letzte Mal, dass er für dieses Kind übers Stöckchen springt. Nächste Woche, wenn die Wogen sich geglättet haben, denkt Clyde, wird er sich mit dem Jungen zusammensetzen und eine klare Ansage machen: Jetzt ist Schluss. Und es ist, was, gerade mal zwei Wochen her, dass Joy beinahe umgebracht worden wäre, wegen Paul? Jetzt ist Schluss mit dem Blödsinn. Clyde wird sich entschuldigen für das, was er gesagt hat, das mit St. Ann’s. Er hat das nicht so gemeint. Er wird sagen: Ich hab immer gesagt, dass wir uns zu Hause um dich kümmern können, lieber das, als dass wir dich dahin geben und nicht wissen, was sie mit dir machen. Aber jetzt reicht’s. Du musst mit diesem Quatsch aufhören.
Zurück auf der Veranda, schaltet er die Taschenlampe ein und richtet den Lichtkegel auf die Straße vor dem Einfahrtstor: Das hohe Gras wirkt merkwürdig grün, eine Farbe, die es bei Tageslicht gar nicht gibt.
»Nimmst du Trixie mit?«, fragt Peter.
»Nein, nein. Die bleibt besser hier bei euch«, sagt Clyde. »Schließt hinter mir ab. Und wenn was ist, ruft Romesh an.«
Clyde geht die Stufen hinunter, begleitet vom tanzenden Licht der Taschenlampe und Brownie und Jab-Jab, die ihm voraustrotten. Hinter sich hört er Peter die Tür schließen und den Riegel vorschieben. Trixie sitzt immer noch vor dem Tor. Sie sieht zu ihnen: ihre Augen zwei gespenstische Scheiben in der Dunkelheit.