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Seit dem Einbruch haben sie keinen Fernseher mehr, da, wo er mal stand, ist jetzt ein helles Rechteck auf dem Sideboard. Von seinem Sessel aus guckt Clyde stattdessen dabei zu, wie der Vorhang sich im Wind bewegt. Es ist gespenstisch still im Wohnzimmer, wenn der Ventilator nicht läuft. Direkt vor dem Fenster hört er Trixie leise knurren, die Brownie zu Boden drückt, das Klicken von Zähnen gegen Zähne. Kurz vorher war aus einem anderen Fernseher in der Straße die Nationalhymne zu hören gewesen: Joy hatte Clyde erwartungsvoll angesehen. »Mitternacht!«, sagte sie. »Kapierst du, Clyde? Es ist jetzt Mitternacht!« Er schwieg. Sie kann nicht stillhalten: sieht zum Fenster, zur Uhr, zu ihm, wieder zum Fenster. Sie betrachtet ihre Nägel, ihre Handflächen, den Saum ihrer Shorts. Sie nimmt eine Ecke des Lakens, das über dem Sofa liegt, und wischt sich damit über das Gesicht.

Sie hören das Quietschen einer der Zimmertüren, hören, wie Peter kurz in der Tür stehen bleibt und dann ins Bad geht. Das leise Geräusch vom Aufklappen des Klodeckels, das Plätschern des Urins. Erst lauter, dann leiser, dann wieder lauter – erst ins Wasser, dann gegen die Schüssel, dann wieder ins Wasser. Das Klirren von Keramik, als Peter den Deckel der Zisterne öffnet. Sie scheint voll zu sein, denn Peter zieht ab: Die Rohre beben, als das Wasser aus der Toilette fließt, und dann versucht die leere Zisterne sprotzend und vergeblich, wieder vollzulaufen. Peter hilft mit dem Wassereimer nach und geht leise zurück in sein Zimmer. Morgen, denkt Clyde, wird er Peter bitten, das Wasser nicht zum Spülen der Toilette nach – wie soll er es ausdrücken? Einem kleinen Geschäft? – zu verwenden. »Ein großes Geschäft darfst du gerne runterspülen, klar«, wird er sagen. »Aber für Klein ist das Wasser zu schade.«

»Ich will, dass wir uns endlich entscheiden. Wegen dem Wassertank«, sagt Joy, wenige Minuten nachdem Peter wieder ins Bett gegangen ist. »Wir müssen uns entscheiden, was wir machen wollen. Wenn wir hierbleiben, dann kaufen wir den Wassertank, bauen ihn ein und reparieren das Haus. Wenn wir nach Port of Spain ziehen, dann los. Dann lass uns hier alles einpacken und verschwinden, egal, was es kostet.«

Clyde schließt die Augen, drückt mit den Daumen gegen die Schläfen. »Siehst du, genau deshalb hatte ich dir gesagt, dass du ins Bett gehen sollst. Weil ich wusste, dass du wieder davon anfangen würdest. Wassertank, Waschmaschine, Möbel, Vorhänge, Bücherregal …«

»Sie brauchen ein Bücherregal für ihre Bücher. Sie können sie ja schlecht auf dem Boden herumfliegen haben. Oder findest du, dass sie ihre Bücher so behandeln sollen?«

»Sie fliegen nicht herum. Sie stecken in ihren Schultaschen.«

»Sie brauchen ein Bücherregal, Clyde, oder sonst irgendetwas, worauf sie ihre Bücher ordentlich ablegen können. Sie müssen sich organisieren. In zwei Jahren schließen sie die Mittelstufe ab! Es wird ernst, Clyde!«

»Ich weiß. Ich weiß, dass es ernst wird.«

»Sag ich ja. Du sparst und sparst, denkst immer nur an die Zukunft, aber was ist mit heute?« Sie verschränkt die Arme und sieht zum Fenster. »Wo Romesh dir doch ständig erzählt, dass die Leute bei ihm Schlange stehen, um unser Haus zu kaufen! So viele Leute wollen dieses Haus kaufen und auf dem Grundstück bauen! Warum verkaufen wir nicht und mieten von dem Geld was in Port of Spain? Ich finde, das wäre das Vernünftigste. Dann hätten die Jungs es nicht mehr so weit zur Schule. Müssten nicht mehr um vier Uhr morgens aufstehen. Das ist nicht gut für Kinder. Das macht sie kaputt. Peter sieht total kaputt aus. Hast du schon mal seine Augenringe gesehen?« Sie berührt die Haut unter ihren Augen. »Er ist fix und fertig. Ich sag’s dir. Wir müssen umziehen.«

»Findest du, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden?«

»Und wann wäre deiner Meinung nach der richtige Zeitpunkt? Ich sag dir, wann: letzte Woche. Letzten Monat. Letztes Jahr. Wir könnten schon längst in Port of Spain wohnen.«

Er nimmt die Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Couchtisch liegt, und schlägt die Kleinanzeigen auf, zwei davon sind mit blauem Kugelschreiber umkringelt. »Hier, guck dir die an und sag mir, was du meinst.«

Joy liest die Anzeigen vor: Anzahl Zimmer, Lage, Sicherheitstechnik, Preis. Er weiß bereits, dass sie sich das nicht leisten können. Sie holt einen Stift, fragt ihn nach Zahlen – wie viel würden sie für dieses Haus bekommen? Wie viel müssen sie für Strom, Wasser, Telefon einrechnen? Auf dem Rand der Zeitung stellt sie ihre Rechnung an, dann betrachtet sie das Ergebnis.

»Das heißt, wenn wir das Haus hier verkaufen, könnten wir von dem Geld drei Jahre in Port of Spain leben.«

»Mehr oder weniger.«

»Drei Jahre sind eine lange Zeit.«

»Peter hat noch fünf Jahre Schule vor sich. Und du findest, drei Jahre sind genug?«

»Aber du verdienst doch auch noch was. Und ich könnte mir in Port of Spain auch eine Arbeit suchen.«

Clydes Blick ist leer, er stößt eine lange Rauchwolke aus, während Joy redet. Er sagt nicht, dass es noch eine ganze Reihe von Dingen gibt, die sie nicht bedacht hat, dass er von anderen Vätern gehört hat, wie ihre Kinder in Port of Spain in ihrer Freizeit sehr viel Geld ausgeben – sie gehen in Shopping Malls und kaufen Lammgyros und Frozen Yogurt, am Strand können sie nicht wie normale Kinder in ihren normalen Sachen ins Wasser, sondern brauchen Badehosen, und ein Paar Schuhe reicht ihnen nicht, je nachdem, was sie gerade machen, brauchen sie unterschiedliche Schuhe. Joy redet und redet, über ihren Vater und ihren Großvater und über all das, wofür sie ihr Geld lieber ausgeben sollten, statt es auf dem Bankkonto zu horten. Seine Zigarette glimmt bis zum Ende herunter. Er reibt sich die Kratzer im Nacken, klaubt ein Stachelnüsschen aus den Haaren an seinem Unterarm. Dann gibt Joy endlich auf. Lässt die Schultern sinken. Fährt mit dem Finger über die Linien ihrer Handfläche.

»Was, wenn er nicht in dem Nachtclub ist?«, fragt sie.

»Das werden wir ja bald sehen.«

»Nun setz dich schon ins Auto und fahr hin, Clyde!«

»Nein! Wie oft soll ich das noch sagen? Ich lasse dich hier nicht allein.«

»Aber Peter sah aus, als würde er sich große Sorgen machen.«

»Wahrscheinlich macht er sich Sorgen, weil du dir Sorgen machst.«

»Natürlich mache ich mir Sorgen. Du dir etwa nicht?«

»Ein bisschen. Aber ich glaube, er ist in dem Nachtclub.«

»Peter sagt, da ist er nicht.«

»Und woher will Peter das wissen? Die beiden hängen nicht mehr so viel zusammen wie früher. Vielleicht hat Peter keine Ahnung.«

»Aber sie sind doch Brüder. Zwillinge. Natürlich weiß Peter so was.«

»Peter ist nicht für ihn verantwortlich. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wieso soll Peter immer für ihn verantwortlich sein? Peter soll sich um sein eigenes Leben kümmern!«

Joy schweigt. Clyde ist sicher, dass Peter von seinem Zimmer aus mithört. Er drückt die Zigarette aus, der Aschenbecher kippelt, Asche landet auf seiner Hose.

»Ich leg mich mal eine Weile hin«, sagt sie.

»Klar. Geh ruhig ins Bett. Ist ja Quatsch, wenn wir beide hier sitzen.«

Sie sieht ihn unverwandt an, während er die Asche abklopft, dann steht sie auf und geht langsam hinaus.

Als sie weg ist, zieht Clyde den Vorhang auf und sieht hinaus. Die Hunde müssen sich hinter das Haus verzogen haben, im Garten ist es ruhig. Er schüttelt das Laken auf seinem Sessel aus und klemmt es mit einer Hand wieder fest, dreht sich vorsichtig um und setzt sich wieder. Er faltet die Hände vor dem Bauch. Es macht ihm nichts aus, allein hier zu sitzen. Er tut das öfter, nachdem Joy und die Jungs ins Bett gegangen sind, manchmal schenkt er sich ein kleines Glas Rum ein und denkt über alles nach, bis er das Gefühl hat, einschlafen zu können. Er schlägt die Beine übereinander, betrachtet die Wände, die Vorhänge mit den blauen und grünen Blumen, die Isolierplatten an der Decke, die braunen Flecken, wo Wasser eingedrungen war. Romesh meint, Clyde könnte achtzigtausend für das Haus bekommen: Die Leute sind scharf auf das Grundstück, sagt er, weil das Nachbargrundstück noch unbebaut und auch nach hinten raus nichts ist. Wer auch immer das Haus kauft, wird sicher von beiden Seiten noch etwas Land dazukaufen, sagt er, und ein Gebäude für zwei bis drei Familien errichten. Clyde ist jetzt schon mehrmals von wildfremden Männern angesprochen worden – im Lebensmittelladen, im Einkaufszentrum, im Büro von T&TEC, wo er anstand, um seine Stromrechnung zu bezahlen. »Sind Sie Deyalsingh?«, fragten sie und schüttelten ihm die Hand. »Von der La Sagesse?« Und dann: »Wollen Sie Ihr Haus jetzt endlich verkaufen?« Und jedes Mal lachte Clyde, als sei das ein Witz: »Noch nicht, mein Lieber, noch nicht.«

Er weiß genau, was passieren wird, sobald er das Haus verkauft: Sie werden ewig ihre Sachen packen und verzweifelt versuchen, ein neues Zuhause zu finden, schließlich bei allen möglichen Leuten anklopfen und fragen, ob sie ein paar Tage, Wochen, Monate bleiben können. So ging es Clyde jahrelang, nachdem er von zu Hause abgehauen war – mit zwölf, nach einem Streit mit seinem Vater. Jahrelang trug er seine Siebensachen in einer Plastiktüte mit sich herum, schlief auf nackten Matratzen oder auf Karton und Zeitung auf dem Boden oder auf zwei zusammengeschobenen Sesseln. Das Haus in der La Sagesse, das gehört ihm wenigstens. Clyde betrachtet die Risse in den Wänden, die dünnen hinter dem Sofa, die wie leichte Bleistiftstriche aussehen, den größeren in der Ecke, der an der Decke anfängt und sich verzweigt und über die Wand ausbreitet. Verglichen mit dem großen Wohnzimmer bei Romesh wirkt das hier wie ein Schuhkarton. Die Möbel passen gerade so rein: Das Dreisitzersofa an der Wand, Clydes Sessel, der Standventilator neben ihm, der Schrank unter dem Fenster. In der Mitte der Couchtisch, eine verstaubte, mit geschnitzten Kühen verzierte Holzkiste, die er gerne entsorgen würde, die Joy aber behalten möchte, weil sie mal irgendjemandem aus ihrer Familie gehörte. Hinter ihm in der anderen Hälfte des Raumes stehen die Esszimmermöbel – der Mahagonitisch und die samtbezogenen Stühle, die er vor ein paar Jahren mal bei Courts gekauft hatte. Zwei Monatsgehälter hat ihn der Tisch gekostet – und was passiert mit dem Tisch, wenn sie nach Port of Spain ziehen? Er wird auf einen Pick-up geladen und dort nassregnen, oder irgendjemand lässt ihn fallen, und ein Bein bricht ab. Es hat keinen Sinn, teure Sachen anzuschaffen, denkt Clyde, nicht, solange man nicht fest irgendwo wohnt, solange man nicht sagen kann: Das ist mein Haus, hier wohne ich, und hier werde ich den Rest meines Lebens wohnen.

In nicht allzu weiter Ferne erklingt der pulsierende Rhythmus von Calypso. Clyde stellt sich die Männer auf dem Spielplatz vor, jetzt mit Ghettoblaster und umgeben von ein paar Frauen, dazu fließt der Alkohol. Bis zum Karneval ist es noch eine Weile hin, aber gefeiert wird jetzt schon überall – jedes Jahr früher. Am Anfang hatte Clyde nein gesagt, als Peter und Paul fragten, ob sie zu dem Fest in Port of Spain dürften, aber dann hatte Joy ihn überredet, hatte gesagt, er solle den Jungs doch ein bisschen Freiheit geben, sie wollen sich doch bloß mit ihren Schulfreunden treffen.

»Mit ihren Schulfreunden«, sagte Clyde. »Und mit Mädchen!« Und Joy sagte, ja, natürlich. Die beiden sind jetzt in dem Alter, natürlich wollen sie auch Mädchen treffen. Clyde erlaubte den beiden, zu dem Fest zu gehen, aber nicht ohne ihnen einen Vortrag darüber zu halten, dass sie sich benehmen sollten, und wehe, wenn ihm zu Ohren kommen sollte, dass sie sich irgendwie unverantwortlich aufgeführt hätten – aber insgeheim ist er froh, dass Peter gerne ausgehen möchte. Clyde hat schon oft überlegt, ob es gesund ist für einen Jungen wie Peter, ständig nur drinnen zu hocken und zu lernen. Clyde hatte schon öfters mitten in der Nacht Licht unter der Tür der Jungs gesehen, angeklopft und Peter über seine Bücher gebeugt auf dem Bett oder auf dem Fußboden sitzend vorgefunden. Wenn die anderen Jungs am Wochenende draußen auf der Straße Football oder Cricket spielen, bleibt Peter in seinem Zimmer oder sitzt am Esstisch, die Bücher vor sich ausgebreitet, Bücher voller langer Wörter und Kurven und Schaubilder, die Clyde nicht das Geringste sagen. Als ob es zwei Inseln gäbe, denkt Clyde – eine für Leute, die solche Sachen verstehen, und eine andere für Leute, die das nicht verstehen. Selbst jetzt, mit dreizehn, ist Peter schon fast so etwas wie ein Ausländer in Trinidad. Wenn man nur mal bedenkt, was der Schulleiter, Pater Malachy, vor ein paar Monaten nach der feierlichen Preisverleihung über ihn gesagt hat. Clyde hatte in einer der Bänke der Kapelle gesessen, während sein Sohn immer wieder nach vorn zum Altar ging, um Holzplaketten abzuholen: Geographie, Spanisch, Mathematik, Klatschen, Klatschen, Klatschen. Hinterher bat Pater Malachy Clyde auf ein Wort in sein Büro. (So hatte er das ausgedrückt: Er tippte Clyde an den Arm und raunte ihm ins Ohr: »Auf ein Wort?«) Nervös folgte Clyde Pater Malachy durch die Schulflure zum Büro und überlegte, was er wohl falsch gemacht hatte. Dann, im Büro, rückte Pater Malachy mit dem Stuhl ganz nah an den Schreibtisch heran und faltete die Hände. »So. Jetzt erzählen Sie mir mal, was Sie für ihn geplant haben. Welche Universität, meine ich.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Clyde. Er lachte vor Erleichterung, dass es keinen Ärger gab. »Ich dachte, in den Staaten. Oder Kanada. Ich habe niemanden, mit dem ich mich beraten könnte.« Pater Malachy rührte sich nicht. Er machte ein sehr ernstes Gesicht. Clyde wünschte, Peter wäre da, um ihm die richtigen Worte zu sagen. Er überlegte, augenzwinkernd hinzuzufügen, dass alle, die ihm früher Rat gegeben hatten, leider tot seien, aber Pater Malachy sah nicht aus, als sei er zu Scherzen aufgelegt.

»Ich berate Sie gerne«, sagte Pater Malachy. »Und ich rate Ihnen hier und jetzt: Versuchen Sie es gleich bei den Besten!« Er listete mit Hilfe seiner Finger auf: »Harvard, Yale, Princeton, MIT, alle.«

»Aber Pater!« Clyde lächelte immer noch. »Was das kostet! Das kann ich mir nie und nimmer leisten!«

Pater Malachy redete eine ganze Weile. Ich erkläre es Ihnen, sagte er. Bei einem Jungen wie Peter ist Geld überhaupt kein Problem. Er erzählte von verschiedenen Stipendien, die Peter erhalten könnte. Er listete die Namen von ehemaligen Schülern der St. Saviour’s auf, die unterschiedliche Insel-Stipendien erhalten hatten, erzählte, wie hoch der Anteil der vom Staat übernommenen Studiengebühren gewesen war und was diese Jungs heute beruflich machten. »Und dann gibt es da noch die Goldmedaille.« Die Goldmedaille war in den letzten zehn Jahren viermal an Schüler der St. Saviour’s gegangen.

»Sehr gut.« Clyde lächelte, als würde er irgendein Spiel mitspielen. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.

Pater Malachy verschränkte die Arme und stützte sie auf dem Tisch auf, Clyde spürte in der Stille seinen heftigen Herzschlag, dann sprach der Priester weiter. »Hören Sie. Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, was für ein Kind Sie da haben.«

Die Hunde entlang der Straße schlagen an. Das wird Paul sein, denkt Clyde und steht auf. Schon nach drei! Er schiebt den Vorhang ein Stückchen beiseite und sieht hinaus: Die Schritte klingen nicht vertraut, wer auch immer da geht, schlägt beim Gehen ständig mit einem Stock auf den Boden. Clyde wartet, bis die Gestalt in sein Sichtfeld kommt: Es ist bloß einer von den Landstreichern, der ältere, der tagsüber immer in dem alten Busschuppen schläft und nachts herumstreunt. Clyde überlegt, rauszugehen und den Mann anzusprechen, ihn zu fragen, ob er Paul gesehen hat, aber es hätte keinen Sinn. Der Mann ist vollkommen plemplem: Wenn er redet, kommt nur Kokolores heraus. Clyde setzt sich wieder in den Sessel, das Laken rutscht herunter und zerknautscht hinter seinen Schultern.

Er nimmt die Zeitung, liest die eingekringelten Anzeigen, prüft die Berechnungen, die Joy am Rand angestellt hat. Er weiß, dass sie nach Port of Spain ziehen müssen, das streitet er überhaupt nicht ab. Aber sie können da nichts kaufen, und die Häuser, deren Miete sie sich leisten könnten, sind alle zu klein – die Gärten nichts als kleine Betonkarrees, manche haben nicht mal einen Vorgarten, die Veranda reicht direkt bis an den Fußweg, sodass jeder, der vorbeigeht, sehen kann, was man macht, und hört, was man spricht. Hier, in Tiparo, kann er morgens wie abends auf der Veranda sitzen, ohne dass viel Verkehr vorbeikommt oder irgendwelche Leute ihre Nasen in seine Angelegenheiten stecken – es ist einfach nur ruhig, und es geht eine kühle Brise. So war es auch in Mayaro, wo Clyde vor Jahren mit seiner Tante wohnte: nichts als eine kühle Brise und das Rauschen des Meeres, dazu am Abend der Duft von über dem Feuer garendem Fisch. Mayaro war schön. Dort ließ es sich gut leben, dort kannte jeder jeden, und die Kinder spielten den ganzen Tag am Strand, bauten Flöße aus Treibholz, Kokosnüssen und Fischernetzfetzen, und die Frauen saßen jeden Nachmittag, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatten, im Schatten der Bäume. Unter anderen Umständen hätte Clyde erwogen, nach Mayaro zurückzuziehen und vielleicht dort ein Haus zu bauen – nur ein kleines, das er allein bauen könnte, er brauchte keinen Firlefanz –, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Heutzutage war alles schwerer, ein Mann konnte mit dem bisschen Fisch, was er an Land zog, nicht mehr genug verdienen. Es wäre schöner, an einem beschaulichen, friedlichen Ort wie Mayaro zu leben, und es wäre auch schön, ein neues Dach, ein neues Auto und einen neuen Fernseher zu haben. Aber schön ist eine Sache – notwendig eine andere.

Er wacht von einem Sprotzen und Gluckern aus der Küche auf, es gibt wieder Wasser. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er eingeschlafen war. Das Wohnzimmer sieht klein aus, dunkel und leer. Er steht auf, streckt sich, hat ein ungutes Gefühl im Bauch. Die Vögel singen. Die Nacht ist um, und Paul ist immer noch nicht wieder da! Er lässt Wasser in den Kessel laufen und will Kaffee machen. Nicht, dass er welchen bräuchte – er ist hellwach –, aber so hat er wenigstens etwas zu tun. Die Hunde kommen die hintere Treppe herauf und kratzen an der Tür, verlangen nach ihrem morgendlichen Leckerbissen. Clyde steht an der Spüle und sieht durch das Fenster, wie der Morgen anbricht. Gerade noch waren die Hügel hinter dem Haus kaum mehr als dunkle Schatten, jetzt kann er bereits ihre Umrisse gegen den tiefblauen, mit Sternen besprenkelten Himmel erkennen.

Eine Tür geht auf: Peter, zerzaust, die Augen noch halb zu.

»Ist Paul wieder da?«

Clyde schüttelt den Kopf.

»Wie spät ist es?«

»Weiß ich nicht. So halb fünf, Viertel vor fünf, schätze ich.«

Clyde fällt auf, wie breit Peters Schultern unter dem T-Shirt geworden sind und wie sich sein Adamsapfel beim Gähnen auf und ab bewegt. Mit dreizehn ist man heutzutage schon ein Mann – ein junger Mann, aber doch ein Mann.

»Meinst du, das kann sein, dass er so spät vom Nachtclub zurückkommt?«, fragt Clyde.

»Wenn er überhaupt im Nachtclub ist«, sagt Peter. »Ich glaube ja nicht, dass er da ist.«

»Aber wo denn dann?«

Peter wischt sich etwas getrockneten Speichel aus dem Mundwinkel. »Weiß nicht.« Er und Clyde sehen einander an. »Ich weiß es nicht.« Peter schüttelt den Kopf.

Joy steht auf – sie hören das Bett quietschen, dann ihre Schritte, dann das Öffnen der Schlafzimmertür.

»Ist Paul da?«, fragt sie. »Ist Paul zu Hause?«

Clyde und Peter schütteln den Kopf. Joy steht da in ihrem dünnen Nachthemd, kratzt sich an einem Mückenstich auf dem Arm. »Er ist immer noch nicht da?«

Clyde schüttelt den Kopf. »Wir haben wieder Wasser.«

Sie geht ins Bad, murmelt vor sich hin.

Clyde sagt Peter, er soll sich für die Schule fertig machen, dann nimmt er den Schlüssel vom Haken, schließt die Hintertür auf, bleibt in der offenen Tür stehen und sieht der Sonne dabei zu, wie sie über den Kamm steigt. Darunter liegt friedlich das Hügelland und nimmt langsam Form an – graugrün, silbergrün, goldgrün. Die Hunde hecheln und wuseln ihm um die Beine.

Clyde wird Seepersad anrufen müssen, seinen Vorarbeiter, und ihm sagen, dass er wieder mal nicht zur Arbeit kommen kann. Clyde kann sich bereits lebhaft Seepersads Gesicht vorstellen und den missbilligenden Seufzer, mit dem er auflegt, wie er in seinem kleinen Büro sitzt, die Türen geschlossen, um das Brummen der Maschinen, das Zischen der Gasventile auszublenden, und sich beim Erstbesten, der vorbeikommt, beklagt, dass die Leute in Trinidad einfach nicht wissen, was Arbeit ist, dass jeden zweiten Tag irgendjemand krank ist oder zu spät kommt oder früher geht.

Und das alles nur wegen Paul, denkt Clyde. Paul ist der Grund für all das. Wenn er nicht im Nachtclub ist, wo ist er dann? Ihm fallen jetzt noch andere Möglichkeiten ein, an die er vorher überhaupt nicht gedacht hatte. Vielleicht hatte er ja einen Unfall. Oder vielleicht hat er eine Flasche Gramoxone getrunken. Vielleicht hat er die Nacht mit einem Mädchen verbracht – aber mit welchem? Und wo? Und wann würde er wiederkommen? Oder was, wenn – Clyde verzieht das Gesicht –, was, wenn Paul für Geld mit Männern mitgeht? In Tiparo gibt es so einen Typen: Seine Frau hat ihn verlassen, jeder weiß warum. Typen wie der bieten Jungs Geld, damit sie mitkommen. Viel Geld.

Die Sonne steht am Himmel, das Licht ist hart geworden. In der Krone des Poui-Baumes auf dem Hügel schwingen die langen hängenden Nester der Krähenstirnvögel im Wind, gelbe Blüten segeln zu Boden. Clyde setzt sich auf die Stufe, plötzlich hat er Angst. Die Hunde setzen sich neben ihn und schieben ihre Schnauzen in seine Hände.

Goldkind

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