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„Ti amo“

Sie will ihn suchen, will ihn finden,

will wissen, wer er ist.

Einmal mehr hält sie das vergilbte Foto in der Hand.

Behutsam streichelt sie über sein schönes Gesicht, kann den Blick nicht lösen, hat Fragen über Fragen, die keinen Aufschub mehr ertragen.

'mi piaci' oder auch 'ich mag dich',

diese Gewissheit, dieses gute Gefühl, diese herzlichen Worte, sehnt sie herbei.

Jene Momente lassen einmal mehr die Vergangenheit lebendig werden, Bilder aus behüteten Kinderjahren vorüberziehen.

Sie lehnt sich zurück, genießt die wärmende Sonne, schließt ihre Augen und begibt sich auf eine Reise.

Eine halbe Ewigkeit ist es her, dennoch ist ihr, als sei es gestern.

Sie hört die Melodie, hört das Schwärmen der Mutter für den legendären Klassiker 'Die Capri-Fischer'.

Ertönte das Lied im Radio, geriet sie ins Träumen und summte leise mit.

Folgte alsdann der Refrain:

'Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh, Bella, bella, bella Marie, vergiss mich nie',

wurde sie mitgerissen und ihre klangvolle

Stimme hallte durch die kleine Stube.

Der erste Liebeszauber flammte wieder auf und die melodischen Klänge schickten ihre Fantasien in ein fernes Land, wenngleich sie sich mit der Gegebenheit begnügen musste, einer kleinen Fotografie, dem Bildnis von Lorenzo.

Alles begann Ende 1955.

Das deutsche Außenministerium und die italienische Regierung unterzeichneten ein 'Gastarbeiter-Abkommen'.

Einer der zahlreichen Migranten war der junge Lorenzo, Lorenzo Russo.

Seine Heimat ist Kalabrien, die südlichste Region an der Stiefelspitze.

Arbeitswillig verließ auch er sein Zuhause. Die geliebte Heimat im Herzen verewigt, zuversichtlich und mannhaft, fuhr er wie viele seiner Landsmänner, in arrangierten Sammelzügen, in ein fernes Land.

Lorenzo landetet wie etliche seiner Kameraden im Kohlenpott und arbeitete auf der Zeche, unter Tage.

Die harte Arbeit überdies eine ungewohnte Kälte, mangelnde Anziehsachen, fehlende Sprachkenntnisse wie auch Unterkünfte in einfachen Baracken, forderten mitunter ihre Disziplin.

Trotz der widrigen Verhältnisse zeigten sie, was ihnen mit in die Wiege gelegt worden war, ihre südländische Mentalität, das italienische Temperament.

Nicht immer konnten die Einheimischen das Verhalten nachvollziehen. Zurückhaltend beäugten sie die hitzigen Gesellen, die trotz Heimweh und harter Arbeit sangen, tanzten und außerdem den hübschen Mädchen hinterherpfiffen.

Hatten sie damit Erfolg, die Hübschen sich umdrehten oder sogar stehen blieben, knufften sie sich mit dem Ellenbogen.

Bellas Mutter war eines dieser Mädchen, blieb stehen, ließ sich ein, verliebte sich in den attraktiven Lorenzo und erlag seinem südländischen Charme mit jener angeborenen Lebhaftigkeit.

Zum ersten Mal verspürte sie die Köstlichkeiten der Liebe, wie auch seine Stimme sie dahinschmelzen ließ, wenn er inbrünstig „Ti amo“, schwor.

Die schnelle Liebe war nur eine kurze Liebe. Sie konnte nicht gedeihen.

Der Gastaufenthalt nahte sich dem Ende entgegen.

Lorenzo sehnte sich nach Leichtigkeit und Unbeschwertheit, vermisste seine Familie, die ihn zu Hause erwartete.

Sein Heimweh war stark.

Er träumte von der Weite des Meeres, hatte den Geruch vom Fischerhafen in der Nase, das Tuckern der Boote im Ohr, wollte einmal mehr zuhören, wenn die alten Fischer ihre ebenso alten Geschichten erzählten. Lorenzo war hungrig auf die Gerichte der Mutter, auf ein traditionelles, Aromen reiches Essen.

Sie ist seine 'una grande cuoca', die beste Köchin, weit und breit.

„Ciao bella mia“,

rief er eines Tages unbekümmert.

Dann stieg er wieder in den Sammelzug.

Bellas Mutter blieb mit einem gebrochenen Herzen, unerfülltem Verlangen und einem kleinen Foto zurück.

Die Begegnung mit der ersten Liebe hatte sie blauäugig gelebt, spürte mit einem Mal, wie sich ihr Körper und ihr junges Leben veränderten. Sie nahm das Schicksalhafte an und lernte mit einer neuen Verantwortung zurechtzukommen.

Noch gefangen vom italienischen Charme, begleitet von einer Melodie, nannte sie ihr Neugeborenes, Bella-Marie.

Diese Namensgebung hörte sich in jener Zeit eher ungewöhnlich an, so dass die Mitmenschen hellhörig wurden.

Bella's Mutter war eine schöne Frau, hielt ihre langen blonden Haare mit dem selbst genähten Band fest zusammen, fand es schick, ein passendes Tuch zum jeweiligen Kleid zu tragen. Sie war Schneiderin.

Mit viel Fleiß, angetrieben von neumodischen Ideen aus populären Illustrierten, sorgte sie für den Unterhalt.

Vom Vater bekam sie eine 'Singer' Pedal Nähmaschine.

Auf dem schwarzen Gussgestell thronte die schlanke geschwungene Maschine mit goldfarbenen Namensschriftzug.

Unermüdlich nähte sie darauf, mal wurde es ein neues Kleid, mal ein Rock, sie änderte nicht mehr Neues und flickte die Lieblingsstücke ihrer Kundinnen bis spät in den Abend hinein.

Zum Feierabend stülpte sie den rundlichen Holzdeckel über die Maschine, rollte das gelbe Maßband auf, legte es zurück in die hölzerne Schublade für Nähutensilien.

Bevor die Nacht einbrach, befreite sie sich vom Tagesgeschehen und drückte auf die elfenbeinfarbene Taste am Radio.

Sowie das magische Auge aufleuchtete, horchte sie gespannt, was der Sender zu bieten hatte. Mal gab es ein Worthörspiel, andernfalls ließ sich von einer klangvollen Nachtmusik berieseln.

Die Mutter hatte ihren langen Arbeitstag gut durchdacht, zudem wollte sie ihr kleines Mädchen, selbst beim Verrichten der Näharbeiten, um sich herum haben.

Auf dem Holzfußboden legte sie eine alte graue Decke und kurzerhand, verwandelte sich diese, in einen Spielplatz.

Tageslicht und Sonnenstrahlen fanden den Weg durchs Fenster, schenkten dem spielenden Kind Helligkeit und Wärme.

Trat die Mutter das Pedal der Nähmaschine, führte mit beiden Händen das Tuch unter den Nähfuß, verursachte das Zusammenspiel von Nadel, Faden und Stoff, ein ratterndes Nähgeräusch, im Wechsel von schnell auf langsam.

Diese Arbeitsmelodie begleitete Bella beim Spielen, wenn sie mit ihrer Stoffpuppe laut babbelte, die roten, grünen und braunen Bauklötze zu einem schiefen Turm stapelte oder fantasievoll malte und wieder einmal krumme Häuser mit bunten Bäumen, in den Himmel wachsen ließ.

Die Kundinnen sorgten für Abwechselung und brachten mitunter was Leckeres mit.

Mal bekam Bella ein Schokotäfelchen, mal ein Tütchen Gummibären, mal einen Lutscher oder frisch gebackene Plätzchen, die allemal für Mutter und Kind reichten. Zu guter Letzt tätschelten sie ihr die rosigen Bäckchen und strichen gutherzig über's schwarze Haar.

Mitunter reichte das Geld kaum und die Mutter verzichtete manches Mal auf einen Kinobesuch, ein Paar Schuhe, oder auf ein Stück Fleisch. Zuallererst sorgte sie für das geliebte Kind.

Bella wuchs heran und entwickelte sich zu einer wohlerzogenen und guten Schülerin. Jeder der sie kannte, mochte sie, wie auch das geführte Leben mit der Mutter in friedlicher Eintracht verlief.

Allerdings verhielt sie sich hin und wieder uneinsichtig, wollte nicht verstehen, weshalb es keinen Vater gab, einen der für die Familie das Geld verdiente, für sie da war und am Wochenende mit ihnen Ausflüge unternahm. In ihrer kindlichen Vorstellung, gehörte zu einer richtigen Familie, auch ein richtiger Vater. Bella hatte ganz spezielle Vorstellungskräfte und hielt an ihrem idealisierten Vaterbild fest.

Die Mutter konnte es nur bedingt näherbringen, kannte weder seine Familie noch sein Zuhause, kannte nicht einmal den Namen vom kleinen Fischerdorf im weit entfernten Kalabrien.

Woran sie sich erinnerte, erzählte sie, erzählte, wie sie den lebensfrohen Lorenzo hat kennengelernt, dass er ihre erste Liebe war, gestand ihren großen Abschiedsschmerz und betonte, dass sie das Wichtigste von ihm bekommen hätte, das große Geschenk der Liebe, mit dem schönen Namen Bella Marie.

Davon ab fehlte dem Vater jedwede Kenntnis über eine Tochter in Deutschland und Bella fehlte die Gewissheit, ob der Vater noch leben würde. Der Wunsch, ihn in der Ferne ausfindig zu machen, beschäftigte sie immerzu.

Sie wollte endlich nachvollziehen können, wie er lebt, Ähnlichkeiten zwischen Vater und Tochter erkennen können, erfahren, welche genetischen Erbanlagen er weitergegeben hatte.

Ihr Wunschdenken konnte nur reifen.

Viele Jahre zogen ins Land und eine tiefe Traurigkeit überschattete den Verlauf.

Nach langer Krankheit war die Mutter sehr geschwächt und benötigte Bellas Hilfe. Sie hatte einen letzten Wunsch, Bella möge bald nach Italien reisen und Lorenzo ausfindig machen, um ihn endlich kennenzulernen, ihm aus ihrem Leben zu erzählen, offenbaren, dass die Mutter ihn nicht vergessen konnte.

Bella umsorgte die Mutter und gab jenes zurück, was sie einst empfing, Liebe und Geduld.

Noch immer hält Bella das alte Foto in der Hand. Ihre lange Reise ins Gestern endet hier. Zurückgekehrt holt sie nach, was bis jetzt nicht machbar war.

Sie besucht die Abendschule um die Sprache des Vaters zu lernen, beantragt beim Arbeitgeber ihren gesamten Jahresurlaub, bucht den Flug nach Lamezia Terme, und erfüllt sich endlich den Lebenstraum, der schon lange in ihrem Herzen wohnt.

Ihre Zeit ist gekommen.

Am ersten Ziel, dem Landeflughafen Kalabriens, übernimmt sie mit ihren frischen Sprachkenntnissen einen Mietwagen.

Bella fährt die nördliche Küstenroute am Tyrrhenischen Meer entlang, immer weiter, in Richtung Stiefelspitze. Voller Zuversicht besucht sie unterwegs verschiedene Ämter der Regionen. Mit dem Wenigen was sie weiß, recherchiert sie beharrlich.

Auf der Reiseroute besucht sie die 'Küste der Götter' mit ihren geschichtsträchtigen Monumenten, erkundet den felsigen Landstrich, die naturbelassene Berglandschaft mit malerischen Gebirgsdörfern, genießt den wunderschönen Ausblick auf Klippen und Buchten, wird überwältigt vom atemberauschenden Panorama, hin zum endlos scheinenden blauen Meer.

Nimmermüde versucht sie ins Gespräch, zu kommen, verkostest in den familiären Trattorien die regionalen Spezialitäten mit ihren unverwechselbaren Aromenpielen, entdeckt die Schönheit des Landes, in dem der Vater das Licht der Welt erblickte.

Die stimmungsvollen Augenblicke weisen den Weg, lassen aufatmen und schenken ein Stück Seelenfrieden. Zugleich rückt das Ziel immer näher.

Alles braucht wieder einmal seine Zeit.

Die italienische Reise nimmt ihren Lauf.

Das alte Foto trägt Bella nah am Herzen, die unvergängliche Melodie hat sie im Ohr.

Leise summt sie vor sich hin:

„Bella, bella, bella Marie, vergiss mich nie.“

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