Читать книгу Elisabeth Reinharz' Ehe. Es lebe die Kunst! - Clara Viebig - Страница 5

2.

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Lützowstrasse acht in der zweiten Etage des Vorderhauses wohnte die Familie Kistemacher; Mann, Frau und vier Kinder. Er war Zahnarzt.

Elisabeth war mit ihnen bekannt; die hübschen, lustigen Kinder waren ihr auf der Treppe, im Flur, auf dem Hof begegnet und hatten die Bekanntschaft mit den Eltern vermittelt.

Frau Kistemacher fühlte eine gewissermassen mütterliche Verpflichtung gegen das einsame Mädchen. „Sind Sie denn so ganz allein?“ hatte sie beim ersten Besuch gefragt.

„Ganz allein“, antwortete Elisabeth mit einem Lächeln, das alles Mitleid weit von sich wies. „Ich bin daran gewöhnt. Ich bin nach dem Tode meines Vaters geboren; meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, ich kam dann aufs Land zum Onkel. Er hat mich so erzogen, dass ich allein sein kann. Er war sehr gut; er hätte natürlich lieber einen Jungen gehabt.“

Sie hatte das ganz ohne Bitterkeit gesagt, es war so selbstverständlich; ein Junge hätte wohl das Gut geerbt, sie musste sich mit dem kleinen Kapital begnügen, von dessen Zinsen sie bescheiden genug lebte.

„Haben Sie denn kein Heimweh nach dem Lande?“ inquirierte Frau Kistemacher weiter.

„Nein.“

Heute hatte Elisabeth Heimweh. Sie sass in ihrer Stube am geöffneten Fenster und starrte mit müden Augen über die Dächer.

Weisse Tauben hockten auf einem First und putzten sich; der matte Glanz der Nachmittagbeleuchtung liess die blauen Schieferplättchen weniger düster erscheinen, aber noch immer waren sie dunkel. Des Mädchens Blick suchte sehnsüchtig den Himmel — mussten nicht die ersten Schwalben schwirren? Drehte sich nicht der goldene Hahn des Dorfkirchturms? Ach, nur Telephondrähte spannten lange, blitzende Fäden; die Dächer waren berusst, die weissen Tauben angegraut vom Rauch der Schlote, die Luft schlaff, dick vom emporwirbelnden Staub der Grossstadt.

Sie schloss die Augen, sie hatte den ganzen Tag gearbeitet. Nun war das Manuskript fertig, dort auf dem kleinen Tisch lag es. Leonore hatte ihr eingeschärft, es ja selbst zu Doktor Bolten zu tragen; doch der Mut fehlte ihr plötzlich. Ob’s auch gut war? Was würde er sagen?

Sie hatte mit Enthusiasmus gearbeitet, wochenlang. Mit einem Glücksgefühl sondergleichen hatte sie begonnen, gleich nach jenem Gesellschaftsabend bei Mannhardts. Die Feder hastete übers Papier, die Hoffnung trug ihre Gedanken auf mächtigen Flügeln. Es war etwas in ihr, das sie trieb, spornte, hetzte; sie galoppierte voran wie ein mutiges Ross ohne Zaum und Zügel. Es war ihre erste grössere Arbeit.

„Es hängt ungemein viel vom ersten Auftreten ab,“ hatte Frau Leonore gesagt, „nimm dich zusammen, Herzchen!“

Einem Nachtwandler, der ruhig im Vollmondschein über Dächer und Firste wandelt, war Elisabeth in diesen Wochen ähnlich gewesen. Nun war sie angerufen — sie erschrak, taumelte, ihr schwindelte. „Nimm dich zusammen!“ Wie macht man das, wenn da etwas herausdrängt, herausstürzt aus tiefster Seele, uneinschränkbar wie schäumendes Wildwasser aus der Felsenkluft?

Sie hob die Hände an die Schläfen, die glühten und schmerzten in der quälenden Gedankenflucht. Würde es ihm gefallen? Jetzt wusste sie’s, es würde ihm nicht gefallen. Was war sie denn, wer? Nichts.

Elisabeth senkte die Stirn tiefer und tiefer, bis sie auf dem Fensterbrett lag und ihre fiebernden Pulse an das kalte, fühllose Holz klopften. Ach, nur eine Seele haben, der sie ganz vertraute, die ihr ganz vertraute, die da sprach: Ich glaube an dich!

Die Tür ging auf, Mile steckte den Kopf herein: „Fräuleinchen, ’s is Zeit, wenn Sie zu dem Herrn gehn wollen; halb fünfe.“ Ihr dürrer Arm reckte sich wie eine Fahnenstange, Hut und Jäckchen baumelten daran.

„Ich gehe nicht.“

„I du meine Zeit, warum denn nich?“

„Es gefällt ihm doch nicht.“

„Gefällt ihm nich? Na so was! Allens, was Sie schreiben, is wunderschön; wenn ich nur eine Zeile lese, muss ich weinen. Wenn ich man bloss die Überschrift sehe. Das sollte ihm nicht gefallen?“ Sie rümpfte geringschätzig die Nase. „Dann versteht er nichts!“

„Ach, Mile,“ Elisabeth hob den Kopf und starrte geradeaus, „du verstehst es nicht!“

Wenn sie nur jemand ein paar Stellen vorlesen könnte! Da lag das Manuskript, es lockte und winkte. Elisabeth überlegte — Leonore? Nein. Eine unbewusste Scheu hielt sie zurück. Die wollte immer so viel Eigenes dazutun, hier einen geistreichen Gedanken einflicken und dort. Man wurde zum Schluss irre an dem eigenen Werk, man kannte es nicht mehr.

Nein, das war nun einmal fertig. Elisabeth fasste das Manuskript mit fester Hand. Aber wohin in der Unruhe des Herzens?

Kistemachers fielen ihr ein, das waren so verständige, nette Leute, die hatten gewiss ein Urteil.

Sie sprang eilig die Treppe hinunter.

Kistemachers Kinder waren im Tiergarten, das Ehepaar sass allein. Die Sprechstunde war beendet, Herr Kistemacher hatte gut gegessen und rauchte nun behaglich seine Zigarre. Frau Julie stopfte Strümpfe. Elisabeth wurde freundlich begrüsst.

Frau Kistemacher streckte ihr die rechte Hand hin, die linke liess den Kinderstrumpf, in dem das Stopfei steckte, nicht fahren. „Trinken Sie ein Tässchen Kaffee?“ Schon zog sie den schwarzen Wollfaden wieder aus und ein, sie sah nicht mehr auf.

„Nein, ich danke sehr, ich ...“ Elisabeth zögerte. Sie hielt das Manuskript hinter dem Rücken versteckt.

„Was haben Sie denn da, Fräulein Reinharz?“ Kistemacher beugte sich ein wenig aus seinem Schaukelstuhl vor.

„Ich? Ach!“ Das Sprechen wurde ihr sauer, die Luft war hier so — so — sie wusste nicht, woran es lag, sie kam sich plötzlich ganz überspannt vor.

„Setzen Sie sich doch, Fräulein Elisabeth!“ Das Stopfei wurde aus dem Strumpf gezogen. „Fertig!“ Aber da war schon wieder ein anderer mit einem grossen Loch. „Was die Kinder reissen!“

„Ich ...“, Elisabeth raffte sich auf, „ich wollte Sie sehr bitten ... ich möchte Ihnen gern ...“, sie zog plötzlich das Manuskript hervor, „Ihnen etwas von mir Geschriebenes vorlesen. Ich schreibe.“ Sie senkte tief errötend den Kopf.

„Was, Sie schreiben? Sie, Sie?“ Frau Kistemacher sah nun doch für einen Augenblick auf; da sie die Hände zum Zusammenschlagen nicht frei hatte, drückte sich das ganze Erstaunen in ihren weitgeöffneten Augen aus. „So was! Sie schreiben? Wie interessant! So was!“

„Bitte, Fräulein Reinharz!“ Herr Kistemacher war aufgestanden und ging mit knarrenden Stiefeln im Zimmer auf und nieder. „Das wird uns sehr interessieren. Mich ganz besonders.“ Er lächelte, halb eitel, halb verschämt. „Sie müssen wissen, in meinen Mussestunden verbreche ich zuweilen auch etwas. Es ist mir der genussreichste Zeitvertreib!“

Wer hätte bei Herrn Kistemacher das vermutet! Elisabeth fühlte sich angeheimelt, sie taute auf und erzählte lebhaft; dann las sie einige Stellen aus ihrer Novelle vor. Sie las mit glühenden Wangen, sie fühlte noch einmal alles mit.

„Und meinen Sie, dass es so geht? Dass ich’s so einreichen kann? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir offen Ihr Urteil sagten.“ Erwartungsvoll sah sie Herrn Kistemacher an.

Er hielt ihr lächelnd die Hand hin. „Also Kollegin! Das darf ich schon sagen, ohne mich zu überheben. Ich finde die Novelle sehr gut. Ich würde ja einiges noch anders gemacht haben, aber ich will Ihnen jetzt nicht mehr den Kopf warm machen. Kommen Sie ein andermal lieber vorher zu mir, wir besprechen dann das Ganze miteinander. Warum haben Sie eigentlich nicht daran gedacht, den Helden lieber ...“

„Lass mich doch auch mal was sagen, Hans“, rief Frau Julie dazwischen. „Ich finde die Geschichte entzückend, ganz entzückend! Schade, dass ich nicht mit ganz ungeteilter Aufmerksamkeit zuhören konnte! — Scheusslich, nicht mehr zu brauchen!“ Der Strumpf flog in den Korb. Dann streichelte sie Elisabeth. „Wie nett, dass Sie’s uns zuerst gezeigt haben! Kommen Sie nur zu jeder Zeit und holen Sie sich unseren Rat. Sie schreiben reizend. Die Muttergefühle der Anna sind grossartig geschildert. Wo Sie das nur her haben? Als ob Sie viere gehabt hätten wie ich. Die Szene mit dem kranken Kind ist ganz graulich, ein Glück, dass es am Schluss gesund wird, sonst wäre die ganze Geschichte verfehlt gewesen. Nein,“ sie sprang auf, „nun hole ich aber ein Schlückchen Wein, darauf müssen wir anstossen!“

„Also Sie meinen, es ist gut?“ sagte Elisabeth, froh wie ein Kind.

„Vortrefflich!“ Kistemacher drückte ihr warm die Hand. „Sie sind ein grosses Talent. Dacht’ ich’s doch gleich, als ich Sie das erstemal sah, dass in Ihnen was steckt. Es wird mir eine Freude sein, Ihnen zur Seite zu stehen. Durch meinen Beruf komme ich mit vielen Menschen in Berührung. Ich kenne ein paar Redakteure — sehr genau, wir stehen sehr freundschaftlich —, denen werde ich von Ihnen erzählen!“

„Weisst du was, Hans?“ Frau Kistemacher war Feuer und Flamme. „Du bist immer so anständig und behandelst sie zu Künstlerpreisen, nun können sie auch was nehmen!“

„Werden sie auch, beruhige dich.“ Kistemacher rieb sich die Hände. „Das nächste Manuskript bringe ich Ihnen mit Leichtigkeit unter, mein liebes Fräulein!“

Frau Julie lachte, fasste Elisabeth um die Taille und drehte sich wirbelnd mit ihr herum. „Ich freue mich, ich freue mich riesig! Eine berühmte Schriftstellerin! Und wir haben auch was dazu getan, Sie berühmt zu machen.“

„Ja, es war gut, dass Sie zu uns gekommen sind“, sagte Kistemacher. „Soll ich Sie jetzt auf die Redaktion begleiten? Es ist Ihnen gewiss angenehmer.“

„Nein, das kannst du nicht, Hans. Du weisst, die Kinder kommen gleich nach Hause, und ich muss in die Markthalle, ich kann sie nicht erwarten. Nehmen Sie’s nicht übel, Fräulein Elisabeth, ein andermal recht herzlich gern. Ich begleite Sie auch gern mal!“

So ging Elisabeth allein.

Sie war hastig gelaufen, nun zögerte sie auf der Treppe. Sie nahm Stufe um Stufe, vorsichtig wie ein Lahmer.

Da war ein langer Gang; am Ende eine Tür mit einem Schild:

Redaktionsbureau.

Bitte eintreten ohne Anklopfen.

Sollte sie, sollte sie nicht? Ihr Herz pochte.

Unten im Kellerraum sausten die Maschinen. Ein dumpfes, unheimliches Surren; eine beklommene, von Druckerschwärze durchschwängerte Luft. Arbeiter mit berussten Gesichtern eilten über die Treppe, bleiche Mädchen in grossen Schürzen, Setzer mit wichtiger Miene und abgespannten Zügen.

Es war höchste Zeit, sonst ging der Doktor fort. Ihr Finger krümmte sich, näherte sich der Tür und schnellte wieder zurück.

Eintreten ohne Anklopfen.

Ein tiefer, zitternder Atemzug — endlich drückte sie die Klinke nieder. Nun war sie drinnen. Kein Mensch drehte sich nach ihr um, sie sassen alle mit dem Rücken gegen die Tür. Die Federn kritzelten.

Sie räusperte sich. „Ist Herr Doktor Bolten zu sprechen?“ fragte sie schüchtern.

„Nein, der Doktor ist jetzt nicht zu sprechen“, sagte eine Stimme aus irgendeiner Ecke.

„Bitte, wann kann ich ihn denn sprechen?“ Sie sagte es sehr enttäuscht; nun hatte sie den Gang gewagt, und nun war er umsonst. Das Manuskript in der Hand brannte sie. Wieder ein Tag verloren auf dem Weg zum Stern! „Ich muss ihn sprechen!“

Einer der Herren wandte sich jetzt nach ihr um und musterte sie von Kopf bis zu Füssen. „Sie bringen wohl ein Manuskript? Wir bitten, die Manuskripte per Post einzusenden und Marken zur eventuellen Rücksendung gleich beizufügen. Doktor Bolten lässt sich nicht sprechen.“

Sie drehte verlegen und unschlüssig die Papierrolle in ihren heissen Händen. Staub lag auf ihren Schuhen, auf ihrem Kleid. Staub, Staub fiel nieder von der Decke dieses Raumes und sank schwer auf ihre Seele.

Der Herr lächelte flüchtig, diese grauen Mädchenaugen blickten so betrübt. „Haben Sie irgendeine Empfehlung?“ fragte er freundlicher.

„Die habe ich!“ Sie atmete auf. „Ich kenne den Herrn Doktor. Frau Leonore Mannhardt schickt mich.“

„Darf ich um Ihre Karte bitten?“ Der Herr machte eine Verbeugung.

Sie zog, ungeschickt vor Hast, ihr Visitkartentäschchen heraus.

Der Herr ging ins Nebenzimmer. Die Federn kritzelten. Sonst kein Laut.

Elisabeth wartete. Ihr Herz schlug hart — Hammerschläge —, sie glaubte, man müsse sie hören. Sie presste das Manuskript, dass es knitterte. Fünf Minuten vergingen; zehn Minuten.

Jetzt knarrte die Tür. „Herr Doktor lässt bitten.“ Eine einladende Handbewegung, und sie stand drinnen im Allerheiligsten.

Bolten sass an dem grossen, grünen Diplomatenschreibtisch, das Gesicht der Eintretenden zugekehrt. Stösse von Manuskripten türmten sich rechts und links von ihm auf, auf dem Schreibtisch, auf dem Boden; hinter ihm noch ein Regal voll. Es roch nach vergilbtem Papier und nach Tinte.

Der Doktor schwitzte, sein Gesicht war gerötet, die Haare standen ihm zu Berge.

„Verzeihen Sie, ich bin sehr beschäftigt, ich habe noch Dringendes zu erledigen.“ Er zog seine Uhr heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. „Womit kann ich Ihnen dienen? Ich lese die letzte Korrektur zu dem grossen Roman unserer Rosen, die Fahnen müssen heute noch in die Druckerei. Donnerwetter, schon so spät?“ Er nahm die Feder zur Hand und verfolgte die einzelnen Zeilen auf dem langen Papierstreifen. „Bitte, sprechen Sie nur!“

„Frau Mannhardt sagte mir ... sie wollte ... sie hat mit Ihnen gesprochen.“

„Ja, richtig!“ Er entsann sich. „Habe schon das Vergnügen gehabt.“ Er warf die Feder hin. „Ä, sind die Kerle unaufmerksam, wieder dieselbe Geschichte gemacht! Zum Verrücktwerden!“ Er drückte anhaltend auf den Knopf der elektrischen Leitung. „Verzeihen Sie!“ Noch ein Druck auf den Knopf. „Hört denn keiner?“

Der junge Herr von nebenan stürzte herein.

„Warum hören Sie denn nicht? Schicken Sie mal den Faktor herauf; er darf nicht Weggehen, ehe ich ihn gesprochen habe. Der Esel! — So,“ er nahm wieder die Feder, „hier Absatz. „Wie oft soll ich das bemerken! Stehe ganz zu Diensten, Fräulein — Fräulein Reinhof, nicht wahr?“

„Reinharz.“

„Reinhart, richtig!“ Er fasste sich an die Stirn. „Es geht einem so viel durch den Kopf. Ja, ja, entsinne mich, weiss alles: Novelle vorgelesen, mir empfohlen, geben Sie her!“ Er nahm ihr ohne weiteres das Manuskript aus der Hand.

Ihre Finger gaben es ungern frei, ihr war auf einmal, als möchte sie es lieber behalten, als sei es ein Tropfen eigenen Blutes.

Er wog es in der Hand, dann blätterte er darin. „Ziemlich lang! Über dreitausend Druckzeilen.“ Sich halb umdrehend, warf er es auf das Regal hinter sich. „Werde Ihnen schreiben.“

„Wann — wann darf ich auf Bescheid hoffen?“ Sie fragte das so leise, dass man es kaum hörte.

„Bin ungeheuer überhäuft, wie Sie sehen!“ Er machte eine umfassende Handbewegung. „Alle diese Manuskripte harren auf Erledigung. Hier dieser Roman“, er legte die Hand auf ein Manuskript von ungeheurer Dicke, „wartet schon seit Monaten auf mich. Ich komme beim besten Willen nicht dazu.“

„Meines ist ja nicht so korpulent“, sagte sie mit einem Anflug von Lächeln.

Ganz erstaunt sah er sie an: „Sie lachen? Wissen Sie was? Schreiben Sie ’ne Humoreske, das wird Ihnen liegen!“

„Wollen Sie dies nicht erst lesen?“ Sie sah hinüber zu ihrem Manuskript.

„Was ist es denn? Heiter?“

„Nein.“

„Ernst, tragisch wohl gar? Ach, um Gottes willen!“ Er fuhr sich in die Haare.

„Es ist nicht tragisch, nur ernst. Sehr ernst.“

„So — hm. Und wo spielt es? Sie sehen, wieviel ich zu tun habe. Geben Sie mir mal lieber gleich in kurzen Umrissen den Gang der Handlung.“

„Im Dorf“, sagte sie knapp. „Die Magd Anna wird vom Sohn des Bauern, bei dem sie dient, verführt und verlassen. Sie verbirgt sich mit ihrem Kinde im Walde, sie friert, sie hungert ...“

„Hören Sie auf, hören Sie auf!“ Bolten trommelte ungeduldig auf den Tisch. „Ne! Ne-ne-ne-ne, das ist nichts für uns! Gott bewahre! Ein uneheliches Kind! Wie kann ich das meinen Leserinnen zumuten. Bauerngeschichten sind ohnehin schon abgedroschen, gar nicht mehr Mode. Und dann so romantisch, im Walde versteckt! Heutzutage versteckt sich keine mehr im Walde. Hahaha!“ Er lachte, dass man alle seine Nussknackerzähne sah. „Liebes Fräulein, wissen Sie was?“ Er langte hinter sich. „Da, nehmen Sie gleich Ihr Manuskript wieder mit, was soll ich mir erst die Mühe machen.“

Er hielt inne, ihr zitternder Atem streifte ihn, ihre grossen, sprechenden Augen sahen ihn tränenverschleiert an.

„Mag ja ganz literarisch sein“, meinte er gutmütig. „Sie haben Talent, hat man mir gesagt. Aber schreiben Sie mal was aus dem wirklichen Leben, was allgemein interessiert. Am liebsten was Nettes, Fesches, ’ne Humoreske zum Beispiel; Tragisches will kein Mensch lesen. Und dann nicht diese Bauernatmosphäre. Verrohen Sie Ihr Talent nicht, mein Fräulein, die Kunst muss vornehm sein. Wenn ich Ihnen raten soll, lesen Sie viel von der Rosen und von der Widmann — grossartig, einfach grossartig! Bei der Lindenhayn tritt das Erotische in letzter Zeit etwas zu unverhüllt zutage. Wissen Sie, Fräulein, der Schriftsteller kann alles sagen, alles geschehen lassen ...“, Bolten redete sich ordentlich in Eifer, „muss er sogar, der Leser will sich doch nicht langweilen. Aber verblümt. Nicht gleich mit unehelichen Kindern um sich schmeissen. Solche Geschichten — ah, bah!“

„Aber sie sind wahr.“ Des Mädchens Augen schwammen nicht mehr in Tränen, gross und ernst sahen sie den Redakteur an.

„Wahr, wahr! Was heisst wahr?!“ Er zuckte die Achseln. „Die Kunst soll in erster Linie schön sein. Hier,“ er hielt die Korrekturfahne des Rosenschen Romans in die Höhe, „hier können Sie was draus lernen. Und lesen Sie die Widmann, die fasst auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen an. Aber der Zweck heiligt die Mittel; sie beschäftigt sich eben mit der brennendsten Frage der Gegenwart: der Frauenfrage. Lernen, liebes Fräulein, lernen.“ Er reichte ihr die Hand, sie tat ihm leid, sie stand wie niedergeschmettert. „Bringen Sie mir die Humoreske. Bedenken Sie,“ er streckte pathetisch den Arm in die Höhe, „ernst ist das Leben, heiter die Kunst!“ Und dann in geschäftlichem Ton: „Nicht zu lang, ungefähr dreihundert bis dreihundertfünfzig Druckzeilen, anmutig, im Salon spielend, verstanden?“

„Ich kann das nicht“, sagte sie. Sie hob stolz den Kopf. „Ich werde das nie können!“

Sie ging. Wie sie die Treppe hinuntergekommen, wusste sie selbst nicht; es fasste sie wie ein Schwindel. Das war die Kunst? Das war der Weg? Sie presste ihr Manuskript an sich wie ein geliebtes Kind.

Langsam ging sie durch die Strassen, die Menschen hasteten, sie wurde gestossen, sie merkte es nicht. Strassenbahnen klingelten, Droschken rollten; Getrappel, Peitschenknallen, Zurufe, bunte Läden, Menschen, Frauen, Kinder. Eine Fülle von Dingen, eine ununterbrochene Reihe von Gestalten, von Existenzen aller Art.

Der Strom des Lebens flutete mächtig in der grossen Stadt, und sie mitten darin. Einsam. Sie fühlte sich einsam; zum erstenmal.

Da floss der Kanal; Bäume standen am Ufer, Bäume, die emporstrebten, die Äste sehnsüchtig nach Licht und Luft reckten. Elisabeth blieb stehen. Langsam sank die Dämmerung nieder. Das Wasser floss schwarz, von keinem Wellchen bewegt. Kein Windhauch. Abend.

Ihr Blick suchte den Himmel, der spannte sich hoch droben überm Kanal mit bleichgrauen Wolken — da, mitten dazwischen ein Stern, unbeweglich, klar und golden.

Des Mädchens Lippen schlossen sich fest aufeinander, sie liessen den Seufzer nicht durch. Wie hatte der alte Prediger in der Dorfkirche gesagt? „Die Pforte ist eng, der Weg ist schmal, wenige sind ihrer, die ihn finden.“

„Ich werde ihn finden!“

Finden ...? Eine Frage, ein Echo verschwebten.

Elisabeth schrak zusammen; hatte sie laut gesprochen? Mit ernstem Blick kam sie nach Hause.

„Nu, Fräuleinchen, was hat er gesagt?“ Mile starb fast vor Neugier. „Der hat sich wohl nich schlecht gefreut?“ Mile durfte sich schon die Frage erlauben, sie war ein altes Faktotum, das jahrelang in des Onkels Haushalt gewirtschaftet und Elisabeth die ersten Stricknadeln zwischen die Kinderfinger geklemmt hatte.

„Es hat ihm nicht gefallen.“ Elisabeth setzte sich in die Sofaecke und lehnte den Kopf ans Polster.

„Wieso nicht gefallen?“ Mile sah aus wie eine Gluckhenne, die das Gefieder sträubt, weil unbefugte Hände ihrem Küchlein zu nahe kommen. „Nich gefallen? Ich habe Blätter von der Geschichte aus dem Papierkorb ’rausgesucht, ich habe sie gelesen.“ Sie zeigte mit dem knochigen Finger: „Da wohnt der im Dorf — da der! Und die Anna, die! Ich kenne sie alle. Die haben’s mal tüchtig gekriegt, die liederliche Pakkasche. Und der will sagen, das wäre nicht schön? Der?“

„Ruhig, Mile!“ sagte Elisabeth mit einem wehmütigen Lächeln. „Ich bitte dich, sei jetzt ruhig.“

Mile ging kopfschüttelnd hinaus.

Elisabeth sass regungslos. Weltenweit, weltenfern — wo hatte sie denn gelebt, dass sie nicht wusste, wie die Menschen denken, was ihnen gefällt und was ihnen nicht gefällt?

Sie rüttelte sich und sah um sich wie jemand, der aus dem Traum erwacht und sich nicht in der Wirklichkeit zurechtfinden kann.

Elisabeth Reinharz' Ehe. Es lebe die Kunst!

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