Читать книгу Töchter der Hekuba - Clara Viebig - Страница 4
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ОглавлениеWenn Frauen sich jetzt auf der Straße trafen, standen sie noch länger beisammen als zu früheren Zeiten. Abends war am Bahnhof der Heeresbericht angeschlagen, da sammelten sie sich in Gruppen. Die Ehefrauen sprachen von ihren Ehemännern, die Mädchen von ihren Liebsten; da war keine, die nicht einen draußen gehabt hätte. Aber Gertrud Hieselhahn stand nicht bei ihnen; sie kam abends von Berlin, dort arbeitete sie bei einem großen Unternehmer – alles Militärsachen. Es war jetzt so viel zu tun, daß sie morgens schon eine Stunde früher anfingen und abends eine Stunde später aufhörten. Immer mehr Leute wurden eingezogen, immer neue eingekleidet, immer wieder rückten welche aus.
Es würden bald keine Männer mehr hier sein, stellte Minka Dombrowski fest. Sie holte das Fräulein manchmal abends vom Bahnhof ab; es hatte sich ein gewissermaßen freundschaftliches Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mieterin herausgebildet. Sie bewunderte das Fräulein, das so viel feiner war als sie, sich besser kleidete, besser sprach, sich besser zu benehmen wußte, und Gertrud wiederum vergaß nicht, daß die Dombrowski sich keinen Augenblick besonnen hatte, sie, die Ledige, die ein Kind erwartete, zu dem kein Vater sich bekannte, bei sich aufzunehmen. Sie würde auch nicht so viel verdienen können, wenn die Dombrowski nicht so und so oft von der Arbeit nach Hause liefe, um nach dem Kindchen zu sehen, sie nahm es sogar an schönen Tagen, wenn sie auf ihrem Stück Land arbeitete, mit hinaus, hatte es bei sich stehen im Wagen.
Müde kam Gertrud heute zurück, müder noch als sonst. Es war so voll in der dritten Klasse, sie mußte stehen. Es war heiß im Wagen, und sie erzählten alle so viel. Fing eine nur an mit einem Wort, war gleich eine allgemeine Unterhaltung im Gang. Hier hatte jede ihr Schicksal.
Die alte Frau in der Ecke hatte Sohn und Enkel im Feld; sie selber erzählte nichts, aber die Nachbarin, die mit ihr nach Berlin gefahren war, weil die Großmutter den Enkel, der durchkommen sollte auf einem Transport nach Rußland, gern noch einmal auf dem Bahnhof sehen wollte, war gesprächiger. Sie hatten leider den Jungen nicht herausgefunden, obgleich sie erst vier Stunden auf dem Potsdamer Bahnhof gewartet hatten und dann noch vier Stunden auf dem Schlesischen.
„Wir sind ganz alle davon, nich wahr, Sie?“ Sie stieß die Alte an.
Die nickte nur und wischte sich den Schweiß ab. Ihre welke Hand mit dem Taschentuch zitterte und sank ihr dann matt in den Schoß.
Die Gesprächige erzählte umständlich weiter, wie sehr sich die Großmutter gefreut hätte. „Sie hängt so sehr an dem Jungen – se hat schon die ganze Nacht nich schlafen können vor Aufregung. Es is zu traurig. Wir haben gewartet und gewartet, und nu hat se’n doch nich zu sehen gekriegt. Siebzig is se und schlagrührig, wer weiß auch, ob se noch lebt, bis er wiederkommt.“
„Mein zweiter ist auch draußen“, mischte sich eine andere ein, eine Dame in Trauer; man sah es ihren Augen an, daß sie viel geweint hatten. „Meinen Ältesten habe ich schon verloren, der war an dem Unglückstag mit bei Dixmuiden. Mein dritter wird jetzt auch eingezogen. Nun kann ich nur dasitzen und warten, bis wieder ein Brief, den ich ins Feld schickte, an mich zurückkommt: ‚Gefallen.‘“ Sie sagte es mit verzweifelter Bitterkeit.
Ein Sturm erhob sich: Wie konnte sie nur so sprechen?! Sie schrien alle auf sie ein.
Selbst die schlagrührige Alte tat jetzt den Mund auf. „Warten – wir wollen noch ’n bißchen warten“, stammelte sie.
Die Nachbarin tippte sich auf die Stirn: „Se is schon ’n bißchen kind’sch. Un nu ganz verwirrt durch die lange Warterei.“
„Ich warte auch so“, sagte die junge Frau, die ein kleines Kind auf dem Schoß hielt und eines vor sich stehen hatte, das in dem überfüllten Wagen sich ängstlich an ihre Knie drückte. „Auf Nachricht von meinem Mann. In der Zeitung hab’ ich gelesen, die Engländer wären nördlich von Ypern in unsere Schützengräben eingedrungen. Gerade da liegt mein Mann. Wenn ihm nur nichts passiert ist! Nachts tue ich kein Auge zu. Immerzu denk’ ich: Wie geht es ihm? Wenn ich nur erst Nachricht hätte!“ Man sah ihr die Unruhe an, ihr noch jugendlich-rundes Gesicht hatte einen gespannten ängstlichen Ausdruck.
„Ja, das Warten ist schrecklich“, sagte irgend jemand. „Das Allerschrecklichste.“
Ach ja! Sie seufzten alle.
Auch Gertrud kannte das Warten und seine Qual. Auch sie hatte gewartet, erst mit heimlicher Ungeduld, daß er nochmals auf Urlaub kommen sollte, ehe er ausrückte, sie zu seiner Frau machen, ehe er ins Feld zog. Ihr hoffendes Warten war vergeblich gewesen, er hatte nicht auf ihre Bitte gehört. Und dann hatte sie trotzdem wieder gewartet: auf eine Karte, einen Brief, ein Lebenszeichen von ihm – auch das Warten war vergeblich gewesen. Er kam nicht mehr wieder, was auch seine Mutter sagte! Ein tiefer Seufzer, der wie ein Stöhnen klang, entrang sich ihr; alle blickten auf sie.
„Sie können wohl nicht mehr stehen?“ Ein junges Mädchen, das bis dahin anscheinend teilnahmslos in seiner Ecke gesessen hatte, stand auf und gab ihr seinen Platz.
Sie setzte sich. Dankbar lächelte sie das Mädchen an, das nun vor ihr stand. Wie mager die war! Unter der leichten weißen Bluse zeichneten sich die Arme dünn ab, und der Hals, der sich aus dem Ausschnitt reckte, war gleichfalls sehr dünn. Und die Augen waren übergroß und weit. Die wartete sicherlich, der sah man es an. Unwillkürlich fragte Gertrud: „Sie haben wohl auch jemanden draußen?“
Die andere nickte hastig, ein tiefes Rot flammte über das bleichsüchtige Weiß ihrer Haut. „Meinen Bräutigam!“
Nun wendeten sich ihr alle Blicke zu: schwer für ein Mädchen, den Bräutigam draußen! „Wo steht er denn?“
Sie lächelte: „Ach, immer da, wo es am tollsten zugeht. Erst an der Weichsel und dann tief in Rußland – und dann in Frankreich – und jetzt – jetzt – na, jetzt ist er mit vor Przemysl.“
„Na, so was!“ Das allgemeine Interesse war erregt. Erst in Rußland, dann in Frankreich und nun wieder in Galizien! Der wurde ja ordentlich herumgeworfen.
Selbst die Dame in Trauer erkundigte sich näher: „Bei welchem Truppenteil steht Ihr Herr Bräutigam denn?“
Die Braut schien die Frage zu überhören. Mit einer Lebhaftigkeit, die seltsam von ihrer vorherigen Teilnahmslosigkeit abstach, erzählte sie jetzt: „Oh, mein Bräutigam ist sehr tüchtig. Der hat Mut. Er hat aber auch schon lange das Kreuz. Und nun ist er eingegeben fürs Kreuz Erster.“
Voller Bewundern blickten alle.
„Mein Mann hat auch ’s Kreuz“, sagte die junge Frau, die das Kind auf dem Schoß hielt, leise, „aber nur ’s Kreuz Zweiter.“
„Ist Ihr Herr Bräutigam denn Offizier?“ fragte die Dame in Trauer.
„Nein, das nicht.“ Eine gewisse Unsicherheit kam in den Blick des Mädchens. „Gefreiter.“
Dann war das doppelt anzuerkennen: gemeiner Soldat und das Kreuz Erster! Die Bewunderung stieg noch.
Und wie getragen von dieser allgemeinen Bewunderung flammte die Braut immer höher auf, ihre unscheinbare Gestalt schien zu wachsen, ihr mageres Gesicht wurde ordentlich hübsch. Sie war so stolz auf ihn, so überaus glücklich trotz aller Schwere der Zeit. „Und was er für Briefe schreibt! Hochinteressant. Wenn ich vom Amt komme – ich bin Telephonistin –, warte ich’s kaum ab, bis ich sie lesen kann!“
„Schreibt er denn so oft?“
„Ja, sehr oft!“
„Dann sind Sie aber glücklich dran“, seufzte die junge Frau, die nach einer Nachricht ihres Mannes von Ypern bangte.
„Ich schreibe ihm aber auch täglich!“
Die Glückliche, daß die das konnte! Es stieg wie Neid in Gertrud auf. Sie las in den Augen des unscheinbaren Mädchens lauter Genugtuung, lauter Befriedigung. Die war vielleicht die einzige im Wagen, diejenige von all den Wartenden hier, die nicht mürbe darüber geworden war, nicht niedergeschlagen und verbittert.
Als sie ausstiegen, gab Gertrud ihr die Hand. Nun das Mädchen nicht mehr von dem Bräutigam sprach, war es wieder blaß, still und unscheinbar wie vordem. „Fräulein, ich wünsche Ihnen alles Gute. Sie haben viel Glück. Unsereiner ist nicht so gut dran.“ Es stieg feucht in Gertruds Augen, sie kam sich gegenüber dieser glücklichen Braut noch verlassener als sonst vor, und trotzdem zog es sie zu jener so hin, als sei die auch eine Leidensgefährtin. Sie nannte ihren Namen und ihre Wohnung. „Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Fräulein, besuchen Sie mich doch mal. Ich bin abends meist von achte an zu Hause und sonntags den ganzen Tag.“
Die andere errötete schüchtern, lächelte und flüsterte, jetzt so bescheiden: „Gerne!“ –
Die Dombrowski, die Gertrud abholte, kannte das Mädchen von Ansehen. „Ach die! Das ist die Tochter von Dietrichs aus ’m Zigarrenladen; da wohnt se bei ihrer Mutter. Der Vater war an der Post; der is vor zwei Jahren gestorben.“
„Die ist verlobt?“
„Das weiß ich nich“, sagte die Dombrowski. „Kann sein. Ich würd’ mir ja nich mit die verloben, wenn ich ’n Mann wäre. Schön is anders!“ Sie lachte, ihre dunklen Beerenaugen funkelten. „Fräuleinchen, heut wär’s schön, wenn wir noch ’n kleinen Bummel machen könnten, was?“
„Ich bin müde.“ Gertrud gähnte abgespannt. Sie bemerkte es nicht, wie die Augen der anderen suchend herumspazierten; sie dachte nur an das Kind und wie sie es heut finden würde. Es hatte gestern abend so geschrien, sie hatte es auf der Straße, ein gutes Ende noch vom Hause weg, schon gehört. Und sie war gelaufen, gestürzt.
Sie wollte jetzt weiter eilen, aber die Dombrowski hielt sie am Ärmel zurück: „Noch ’n Augenblick. Da steht die Exzellenz, die Frau General von Voigt, bei die wasch’ ich.“ Sie war ordentlich stolz auf ihre Beziehungen. „Die muß ich sprechen. Morgen soll ich bei die ihre Tochter kommen. Bei die Italjänerin. Da putz’ ich Fenster.“
Die einzige Tochter des Generals von Voigt hatte vor vier Jahren den italienischen Leutnant Rossi geheiratet. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie mit ihren Eltern in Italien reiste. Herr von Voigt, damals noch Oberst, hatte kein Arg dabei gehabt, daß sie den jungen Offizier immer wieder trafen: in Venedig, in Mailand, sogar in Florenz. Da der Italiener kein Deutsch sprach und der Deutsche kein Italienisch, mußte Lili Dolmetscher spielen, oder die Unterhaltung wurde französisch geführt. Der junge Mann war sehr liebenswürdig, trotz seiner etwas nachlässigen Haltung sehr schneidig; es machte dem deutschen Offizier Spaß, wie genau der kleine italienische Leutnant über die österreichischen Grenzbefestigungen Bescheid wußte. Er sprach mit einer gewissen Nichtachtung von Österreichs Kraft und Wehrmacht, von Deutschland dagegen mit großem Respekt. Der Oberst fand Gefallen an ihm – ein intelligenter netter Mensch –, bis plötzlich der Nebel zerriß, den der Wirbel der Reiseeindrücke und das Entrücktsein aus dem gewohnten Alltag ihm vor die Augen gelegt hatten. Was, seine Tochter, die Tochter eines preußischen Offiziers, wollte einen Italiener heiraten? Lili war verrückt! Sie reisten schleunigst mit der Tochter nach Hause.
Aber Lili von Voigt hatte auf ihrem Willen bestanden. Die Mutter hatte die Zukunft dieses schönen verwöhnten Kindes nie anders gesehen als im Hause eines reichen Mannes; der Vater sah sie an der Seite eines jungen Kameraden, dessen Leben er vom Kadettenkorps an verfolgen konnte – die Gedanken der Tochter aber flogen Tag und Nacht über die Grenze hin, zu ihm, der sie mit seinen dunklen Augen, die ihr ein Abgrund von Tiefe schienen, gefangen hatte.
Sie hatte es durchgesetzt, den Wünschen der Eltern entgegen. Hoch über dem Hafen von Spezia, über dessen Kriegsschiffe sie wegsahen in das wunderbare Blau des Mittelmeeres, hatten sie in einem rosa Landhaus gewohnt, mitten in einem Garten, dessen Hänge von Rosen und Orangen dufteten. Es war wie ein Traum gewesen, ein Traum von Duft und Farbe, von Schönheit und Glück. –
Und nun war sie doch wieder zu Hause bei den Eltern. „Ich liebe meinen Mann, ich liebe auch Italien – trotz allem“, sagte sie zur Mutter. „Sagt nichts auf Italien, ich ertrage es nicht.“
Es mußte schrecklich sein für die Tochter! Mit einem kummervollen Blick sah Frau von Voigt in das Gesicht der jungen Frau, dessen schöne Weichheit harte Linien bekommen hatte. Nein, sie würden sich ja beherrschen, nichts sagen, obgleich es schwer war zu dieser Zeit, die ganz erfüllt war von der Empörung über die Treulosigkeit des einstigen Bundesgenossen. Es war entsetzlich schwer, zumal für ihren Mann! Frau von Voigt zitterte innerlich vor einem Ausbruch des Generals. Die drei, die einst so innig zusammen gelebt hatten, saßen sich jetzt frostig und schweigsam bei den Mahlzeiten gegenüber. Ach, wenn doch ihr Mann schon lieber wieder draußen wäre! Wenn die Frau auch die Strapazen für ihn fürchtete, es war doch besser für ihn, für sie alle, als dieser jetzige unerträgliche Zustand.
Er, innerlich wütend, war von einer Förmlichkeit gegen die Tochter wie zu einer Fremden. Es war unerträglich. Aber nur so konnte er sich bezwingen und das zurückdrängen, was ihn jetzt ganz und gar erfüllte: dieses verdammte Italien!
Seine Frau fühlte es ihm an: Er sehnte sich ungeduldig, fortzukommen. Aber der General mußte warten, bis seine neue Division zusammengestellt war. Ein Glück, daß er so wenig zu Hause war! Für die Mutter war das Zusammenleben mit der Tochter auch nicht leicht – Lili war gereizt. Sie wußte oft nicht, sollte sie fragen: ‚Was schreibt dein Mann?‘, oder sollte sie nicht fragen.
Die junge Frau hatte auf der Reise nach Deutschland über die Schweiz den italienischen Gesandten in Bern aufgesucht. Ihre schönen verängstigten Augen hatten rührender zu ihm gesprochen als ihre Lippen; er vermittelte ihr den Briefwechsel mit dem Leutnant Rossi.
Ach, wie sie sich nach ihm sehnte! Sie waren unendlich glücklich gewesen. Nun schrieb er, ganz entflammt, von der Front: Sieg, Sieg! Er schrieb immer von Erfolgen: Italien würde sich binnen kurzem jene alten Gebiete zurückerobert haben, die unerlöst unter Österreichs Herrschaft schmachteten. Er war vollständig von Italiens gerechter Sache überzeugt, er brauchte große Worte. Die junge Frau sah ihn im Geiste vor sich mit dem geröteten Gesicht, die Augen aufgeregt, in einer Begeisterung, die sie nicht teilen konnte, teilen durfte. Oder doch, hätte sie die nicht teilen müssen? War sie jetzt nicht auch Italienerin? Ach, die vier Jahre höchsten Glücks im schönsten Lande der Erde hatten doch nicht das Land aus ihrer Seele verdrängen können, in dem sie geboren war. Sie hatte das vordem nie gewußt. Aber als ihr Mann zu ihr ins Zimmer gestürmt war, leidenschaftlich erregt durch den schmerzlichen Gedanken der Trennung von ihr, und doch jubelnder Genugtuung voll: ‚Krieg, Krieg, wir gehen gegen Österreich!‘ – da wußte sie: Österreich und Deutschland stehen jetzt zusammen. Und sie fühlte plötzlich, daß sie doch nicht Italienerin geworden war.
Es schnürte ihr die Kehle zu und preßte ihr das Herz zusammen, wenn sie in den italienischen Zeitungen lesen mußte, wie schlecht es um Deutschland stehe. Es grämte sie weit weniger, daß sie nun einsam vom Fenster ihres rosa Hauses hinaus in das wunderbare Blau des Mittelmeeres starrte, als daß sie denken mußte: Deutschland, wie geht es Deutschland?! Die Eltern hatten nicht geschrieben: ‚Komm‘, sie hörte jetzt überhaupt nichts von ihnen, sie wartete auch gar nicht darauf, sie wartete nicht einmal mehr eine Antwort ihres Mannes ab, sie reiste nach Deutschland. Wie auf der Flucht. Eine plötzliche unbändige Sehnsucht hatte sie getrieben, die Widrigkeiten einer sehr erschwerten Reise machten ihr gar nichts aus – nur nach Deutschland!
Und nun, da sie hier war, hatte sie doch nicht das große Gefühl, das sie erwartet hatte. Nicht die Beruhigung: zu Hause. Warum hielt der Vater sich so zurück? Warum sprach er nicht ganz unumwunden? Er hatte doch früher niemals mit seiner Meinung zurückgehalten. Die Zeitungen, die er sonst immer liegen ließ, nahm er jetzt an sich; sie vergaß, daß sie selbst gewünscht hatte: kein Wort gegen Italien. Und warum fragte die Mutter nicht nach Enrico? Die mußte doch wissen, daß sie heute einen Brief von ihm bekommen hatte. Einen ausführlichen Brief.
Sie saß auf ihrem Zimmer – es war noch dasselbe Zimmer mit den weißen Möbeln und den duftigen Mullgardinen, in dem sie als Mädchen so gern gewohnt hatte –, aber jetzt gefiel es ihr nicht mehr. Sie fühlte sich beengt. Wo war das blaue Meer, auf das sie hinausgeblickt hatte, weit, weit – wo der Garten voller Orangendüfte? Ach, war das doch schön gewesen! Mit umflorten Augen las sie wieder den Brief ihres Mannes. Er stand nicht weit von Roncegno – das kannte sie. Da war sie mit der Mutter auch einmal gewesen, als es noch österreichisch war. Sie hatte in Levico das Eisenwasser getrunken. Es war im zeitigen Frühjahr gewesen, oben auf den Bergen Winter, aber unten im Tal unzählige tiefdunkle große Veilchen, und die Fluren strahlend im Blütenschnee der Obstbäume. Als ob das nun bereits alles wieder Italien gehörte, so schrieb ihr Mann.
Der Leutnant Rossi schrieb nicht, wie man an eine Frau schreibt. So schwer er sich auch von ihr getrennt hatte – unten am Berg war er umgekehrt, war noch einmal durch den Garten zu ihr hinaufgestürzt, hatte sie an der Haustür noch ein mal an sich gerissen und noch einmal heiß und lange geküßt –, jetzt war er ganz Soldat. Er schilderte ihr seine Stellung, schrieb militärische Einzelheiten, soviel er davon berichten durfte. Gestern hatten sie einen Vorstoß gemacht im Felsgebiet, eine stark befestigte Stellung des Feindes genommen – fünfzig Gefangene, viele Tote –, aber es mußte noch ganz, ganz anders kommen. ‚Evviva Italia!‘ – hatte er das damals nicht gerufen, als unten im Hafen die Kriegsschiffe die Flagge hißten, jubelnd gerufen? Sie hörte es ihn jetzt wieder rufen. Aus jeder Zeile dieses Briefes rief es, aus jedem Wort. Für ihn gab es nur das eine, das einzige: Italien und Italiens Sieg.
Die junge Frau schloß die Augen. Sie beschwor sich sein Bild herauf: Er stand wieder vor ihr, jung, hübsch, liebenswert, sie sah in die Tiefe seiner dunklen Augen – warum sprach er nicht von Liebe? Nur von Krieg, Krieg. Hatte er denn ganz vergessen, daß seine Frau Deutsche war? Wußte er nicht, wie schwer es für sie sein mußte, schier unerträglich, ihn auf der anderen Seite zu sehen? War denn alles, was sie damals geglaubt hatte: ‚dein Volk, mein Volk, mein Land, dein Land‘, jetzt nicht mehr so? War das geträumt gewesen? Aus grausamer Wirklichkeit baute sich eine Mauer auf und wuchs schnell höher und höher. Hob sich ein Bollwerk, weit mächtiger als die Alpen, zwischen Italien und Deutschland, zwischen ihm und ihr. Ob er das auch so fühlte? Da – nur ganz zuletzt, ein paar Worte der Liebe. Als ob die ihm zum Schluß nur gerade noch einfielen! Sie verletzten mehr, als daß sie wohltaten. Der Brief fiel aus ihrer Hand zu Boden; sie ließ ihn liegen.
Langsam fingen ihre Tränen an zu rinnen und tropften ihr auf die Hände, die sie wie hilflos vor sich auf dem Schoß hielt. Ach nein, sie verstand ihren Mann nicht mehr, und er verstand sie nicht mehr. Wie durfte er ihr, gerade ihr so schreiben? – Ewiva Italia! – Er mußte doch wissen, daß es sie verletzte, wenn er Italien bejubelte. Oh, dieses heimtückische, verräterische, treulose Land! In ihrer Erregung konnte sie nicht genug der verdammenden Worte finden. Dieses Land, das es nicht wert war, daß die Natur ihm so viel Schönheit gespendet hatte.
Wie eine Verzweifelte sprang sie auf. Mit unruhigen Schritten ging sie im Zimmer auf und ab. Und dabei weinte sie immerfort. Verstand sie denn niemand mehr? Konnte denn keiner begreifen, wie ihr zumute war? Losgelöst von der alten Heimat, verpflanzt in eine neue Heimat, und dann wieder losgelöst von der neuen Heimat und wiederum in die alte zurückgepflanzt! Solch eine arme Pflanze hat gar keine rechte Heimat, die ist nirgendwo zu Hause.
Ihr Mann schickte keinen Gruß an die Eltern – er erwähnte sie nicht einmal in seinem Brief. War er so gleichgültig? Oder war er böse auf die, weil er wohl glaubte, sie seien die Veranlassung, daß seine Frau Italien verlassen hatte?
Sie stand still und reckte ihre schlanke Gestalt, trotzig hob sie den Kopf; sie biß sich auf die Lippe und unterdrückte ein Schluchzen, ihre Tränen hörten auf zu rinnen: o nein, die waren nicht schuld. Die hatten sie nicht kommen heißen. Sie, sie allein hatte es gewollt, ganz von selber; es hatte sie niemand beeinflußt. Da, da ganz tief innen – ihre Hand krampfte das Kleid über der Brust zusammen –, da saß etwas, das hatte sie getrieben. Was sollte sie am blauen Meer unter der leuchtenden Sonne? Wenn der Himmel über Deutschland so trübe war, dann mußte auch sie unter diesem trüben Himmel sein.