Читать книгу Töchter der Hekuba - Clara Viebig - Страница 6
4
ОглавлениеÜber den abendlich-stillen Ort hin hatten die Glocken gerufen: Sieg! Am Bahnhof drängte man sich. So voll wie heute war es selbst dann nicht dort, wenn auf dem Ferngleis Truppentransporte vorbeifuhren. Die hielten hier nicht; aber man winkte den Feldgrauen, die aus den bekränzten, mit allerlei Kreideinschriften bekritzelten Wagen halben Leibes heraushingen, und rief ihnen gerührte Worte des Grußes und des Abschieds nach. Die Worte gingen zwar verloren in der rasselnden Windesschnelle, die winkenden Grüße aber wurden erwidert mit stark gebrülltem Hurra. Jetzt drängte sich die Menge vor dem Anschlag neben der Bahnhofstür.
„Die Festung Nowogeorgiewsk, der letzte Halt des Feindes in Polen, nach hartnäckigem Widerstand genommen. Die gesamte Besatzung, davon gestern im Endkampfe allein über 20 000 Mann, und vorläufig unübersehbares Kriegsmaterial fielen in unsere Hände.“
Mit hastig hinfliegenden Blicken las man’s – stumm. Das war nicht mehr der Jubel der Begeisterung wie bei den ersten Malen, der Krieg dauerte nun schon über ein Jahr.
„Mutter, haben die nu bald verspielt?“ fragte plötzlich eine Kinderstimme ganz laut.
Die Mutter hatte im ungewissen Sternenlicht, mühsam herausstudierend, halblaut gelesen, nun schwieg sie verlegen. Die hohe Kinderstimme war weithin vernehmbar. Die zunächst Stehenden lachten. „Sei stille“, wisperte die Mutter.
„Dann kommt unser Vater auch wieder, nich wahr, Mutter?“ fragte die Kleine unbeirrt weiter.
Die Frau schüttelte stumm-verneinend den Kopf; sich durch das Gedränge hastig Bahn brechend und das Kind hinter sich dreinziehend, lief sie davon.
Es war die Frau des Schlossers Frank von der Ecke am Markt, er war vor vierzehn Tagen am Narew gefallen. „Nu sitzt sie da mit dem großen Geschäft – ’n paar alte Gesellen hat sie vor der Hand wohl noch – er hat alles ins Geschäft reingesteckt – schlimm für sie, schlimm für die Kinder – fünfe hat se, alle noch klein!“
„Die ist noch nich am schlimmsten dran“, sagte eine andere Stimme. „Aber wenn sie nur den Mann hat, weiter nichts, kein Geschäft und keine Kinder – nur den Mann!“
Sie blickten sich alle um nach der wehen Stimme, die sich wie ein Verzweiflungsseufzer erhob.
Die kleine verkümmerte Frau duckte sich scheu. Das hatte sie nicht gewollt, daß alle nach ihr hinsahen, es war ihr nur so herausgefahren, wider ihren Willen laut. Als ob sie selbst durch die Dunkelheit jeden mitleidigen Blick als Beleidigung fühle, kroch sie ganz in sich zusammen. Sie wollte niemandes Mitleid, es brauchte sich keiner um sie zu kümmern, sie hatte auch keinen nötig, leben wollte sie ja nicht mehr. Sich verkriechen wie ein krankes Tier und sterben, das wollte sie.
In einem hilflosen Weinen, wie ein verlassenes Kind schlich sie eben davon, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter: „Liebe Frau!“ Es lag ein großer Nachdruck auf dem liebe, eine herzliche Freundlichkeit im Ton.
Die Generalin von Voigt war durchaus nicht sentimental, ihr Mann hatte sie dazu erzogen, jede Sache so gelassen wie möglich zu nehmen. „Das Leben ist wie der Feind“, hatte er ihr oft gesagt, als sie noch jünger und leicht aus der Fassung zu bringen war, „man macht sich die Stellung klar, nimmt ihn scharf aufs Korn, rückt dann Schritt für Schritt – immer kalt Blut – immer weiter vor, ruhig vor – aber dann: zugepackt.“ Sie hatte es lernen müssen, an sich zu halten. Aber jetzt ging doch das Gefühl mit ihr durch – diese Frau, diese arme, einsam Gewordene! Ihre aufrechte Gestalt ein wenig niederbeugend zu der kümmerlich-kleinen, sagte sie mit der inneren Überzeugung, die auch andere überzeugt: „Sie sind nicht verlassen, liebe Frau. Sie haben noch eine Mutter – unsere deutsche Heimat. Der hat Ihr Mann Sie als Vermächtnis hinterlassen. Er hat Ihnen ein Anrecht erworben. Und unsere deutsche Heimat ist eine gute Mutter, die sich ihrer Kinder annimmt!“
„Redensarten! Das können die Vornehmen und Reichen leicht sagen“, kam es jetzt höhnisch von irgendwoher.
„Wer sagte das?“ Die Generalin drehte suchend den Kopf, ihre stattliche Gestalt reckte sich noch stattlicher. „Es ist traurig“, sagte sie sehr laut, „daß es immer noch Leute gibt, Deutsche gibt, die ein Vergnügen daran finden, zu mäkeln und zu hetzen. Was heißt jetzt ‚vornehm und reich‘? Wenn einer im Schützengraben liegt und ist ein Prinz, liegt er ebenso im Dreck wie der einfachste Handlanger, und der eine Million hat, ebenso wie der, der keinen Pfennig besitzt!“
Na, die war aber nicht auf den Mund gefallen! Und ‚Dreck‘ hatte sie gesagt – ‚Dreck‘! Einige amüsierten sich darüber. Sie lachten. Und das steckte an. Ein ganzer Knäuel von Weibern drängte sich um Frau von Voigt. Diese wußte nicht recht, war das nun ein höhnisches Lachen oder erfreute Zustimmung? Eine plötzliche Zaghaftigkeit überkam sie. Es tat ihr leid, daß sie sich hatte so hinreißen lassen. Sie drängte sich durch und ging davon mit raschen Schritten, im Innersten verstimmt. Nun war ihr die ganze Freude an Nowogeorgiewsk verdorben. War das wohl die rechte Art, den Sieg aufzunehmen? Man erwartete ja kein lautes Frohlocken von den Leuten mehr, aber konnten sie es nicht hinnehmen still-freudig bewegten Gemütes? Ihr Mann hatte doch recht, man durfte an diese Leute nicht den Maßstab legen wie an sich selber. Sie waren in Freud und Leid doch eben anders, als man selber war.
Sie sah plötzlich eine große Kluft – wer würde die überbrükken?! Der Krieg, zu dem doch alle auszogen, alle, vornehm und gering, arm und reich? Er hatte es bis jetzt nicht gekonnt. Würde es der Friede können –?
Die Straße, die sie zu gehen hatte, lag dunkel. Droben kein Stern. Der Wind, der den ganzen Tag geweht, hatte Wolken heraufgetrieben, nun flogen sie, seltsam geballt und zerrissen, wie fratzenhafte schwarze Ungeheuer über das matte Grau des Nachthimmels. Sie mußte an den Mobilmachungsabend denken. Da war sie am Arm ihres Mannes in Berlin die Linden hinuntergegangen, die dichte Masse der Menschen hatte sie mit fortgetragen, sie waren im langsam flutenden Strom vors Schloß gelangt. Wo die Leute die Offiziersuniform erkannten, machten sie respektvoll Platz. Das Schloß lag dunkel und schweigsam. Der Kaiser hatte zu seinem Volk gesprochen gehabt, sie waren zu spät gekommen, aber überall hörten sie noch davon reden.
„‚Ich kenne keine Parteien mehr‘ – ja, so hat er gesagt“, hörte sie einen Mann dicht hinter sich laut erzählen. Ein anderer erläuterte das noch näher: „Nu jibt es nämlich jar keene Unterschiede nich mehr. Ob de Jeld hast oder keens, ob de Jraf bist oder nur Fritze, der Klamottendräjer, ob de uf de hohe Schule Latein jelernt hast oder ob de nich lesen un schreiben kannst, allens eene Wichse. Allens nur Deutsche!“
Ein wehmütiges Lächeln kam der jetzt eiliger Schreitenden. Ein Regen fing an zu tröpfeln, der Himmel weinte. Sie lief in tiefen Gedanken: Ach ja, so leicht war es nicht, verstanden zu werden! Rührend war aber der Droschkenkutscher gewesen, mit dem sie dann vom Schloßplatz zurückgefahren waren, rührend und komisch zugleich. Er hatte, mit der Peitsche zurückdeutend nach dem dunkel-ragenden Bau, in dem Deutschlands Kaiser jetzt wohl die Geschicke Europas in seinem Herzen bewegte, und sich, halb auf seinem Bock zu ihnen herumwendend, beifällig nickend gesagt: „Wir haben Wilhelmen doch unterschätzt!“ Der alte dicke Kutscher und sein humpeliger Gaul waren ihr unvergeßlich geblieben. Und unvergeßlich auch der Anblick, der sich ihnen bot, als auch sie sich umwandten.
Langsam war da vom Wasser her ein mächtiger Vogel über Lustgarten und Schloß, über Dom und Zeughaus gesegelt. Mit weitgebreiteten Schwingen stand er jetzt still. Nur ein Wolkengebilde war es, gewitterschwanger am Sommerabend. Aber sich unter ihm rötend, schien der Himmel zu glühen vom Flammenwiderschein. Aufgeregt von den Ereignissen dieses Tages hatte sie nach ihres Mannes Arm gegriffen: „Da – da – siehst du ihn auch?“ Ein schwebender Adler war es mit gespreizten Flügeln. Es hatte sie wie ein Schreck durchzuckt: War das nicht der russische Adler?
Es war der preußische Adler gewesen – Gott sei gedankt!
Die Generalin war jetzt am Krügerschen Haus angelangt; sie wollte noch die Tochter besuchen. Und wieder stieg eine Verwunderung in ihr auf, daß sich Lili gerade diese Wohnung ausgesucht hatte. Die war so bescheiden: kein Parkett, niedrige Zimmer, kein elektrisches Licht. Überm Türeingang schwelte eine kleine Petroleumfunzel.
Als Frau von Voigt die unverschlossene Tür aufklinkte und in den engen Flur trat, fiel ein Lichtschein aus dem Zimmer zu ebener Erde. Die Stubentür stand offen. Drinnen saß die Krüger am Tisch und schien beim trüben Schein einer Lampe in einem Buch zu lesen. Sie war so vertieft, daß sie von der an ihrer Tür Vorüberschreitenden nichts bemerkte.
Frau von Voigt stieg zu ihrer Tochter hinauf. Lili öffnete ihr selber die Glastür, die die Wohnung abschloß. Das Mädchen war zum Bahnhof gelaufen, als das Läuten anfing. „Ich brauche sie ja auch nicht“, sagte die junge Frau gleichgültig. In ihrem weißen schleppenden Schlafrock mit dem weißleuchtenden Gesicht sah sie aus wie ein Geist.
Die Mutter blickte sie voller Besorgnis an. „Nowogeorgiewsk, Lili“, sagte sie stark. „Nowogeorgiewsk, das ist ein großer Sieg, ein wichtiger Fortschritt.“ Es war ihr, als müsse sie die bleiche Frau da vor sich aufrütteln. Sie legte beide Hände auf die Schultern der Tochter und schüttelte sie leicht. „Wie wird sich der Vater freuen! Er wird jetzt noch in Warschau sein. Ich bin sehr gespannt auf seinen Brief. Freu du dich auch, Lili, nun wird der Krieg bald zu Ende sein!“
„Das glaubst du ja selber nicht.“ Ein ungläubiges Lächeln zog die Mundwinkel von Frau Rossi herab. „Was könnte es mir auch nützen – Siege, Erfolge?!“ Sie zuckte die Achseln. „Friede –?! Die Feindschaft, die einmal zwischen die Nationen gesetzt ist, wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Ich werde diesen Krieg nie verwinden.“ Sie seufzte, und dann stieß sie mit Leidenschaft heraus: „Verfluchen werde ich ihn, solange ich lebe!“
„Aber Lili!“ Die Mutter versuchte mit glättender Hand über die zusammengezogene Stirn der Tochter zu streichen. „Du bist zu viel allein. Du hast zuviel Zeit zum Grübeln, Kind. Ich bleibe gern heute abend bei dir.“ Sie zog die Tochter ins Zimmer und setzte sich.
Aber Lili sagte müde: „Nein, nein, geh du nur nach Hause. Bei mir ist es nicht gut sein. Du bist froh und stark, hast ja auch alles Recht dazu – aber ich?!“ Sie griff sich mit beiden Händen in das schöne blonde Haar. „Ich bin wie zerstückt. Hin und her gerissen zwischen Liebe und Abneigung. Zwischen Furcht und Hoffnung. So ein Sieg regt mich immer grenzenlos auf. Wenn sie läuten, ist mir’s gerade, als läuteten sie zum Begräbnis von etwas mir Teuerem. Ich muß mir die Ohren zuhalten, ich kann es nicht anhören!“
Frau von Voigt sagte nicht ‚Armes Kind‘, sie zog die Tochter auch nicht mitleidsvoll in ihre Arme. Das würde ja nicht viel bessern; Lili mußte selber sehen, wie sie sich abfand, sich durchkämpfen. Nur sie allein konnte sich helfen aus diesem Zwiespalt ihrer Gefühle. So fragte sie nur, indem sie aufstand und sich schon wieder zum Fortgehen anschickte: „Hast du wieder einen Brief von deinem Mann?“
Es kam wie Belebung über die junge Frau. „Einen Augenblick noch, Mutter!“ Sie lief zu dem kleinen Schreibtisch und holte den Brief her. Unter die Hängelampe tretend, las sie ihn. Sie las ihn nicht ganz vor, nur ab und zu übersetzte sie einen Satz. „‚Wir sind nicht mehr in der vorigen Stellung. Wir sind vorgerückt bis zum Monte Piano. Östlich Schluderbach griffen wir gestern an‘ –“ Die junge Frau brach ab, verstört sah sie nach der Mutter hin. „Es scheint nicht gutgegangen zu sein. Dieser Brief ist vom zweiundzwanzigsten August. Ich kenne doch Enrico. Hätten sie Erfolg gehabt, hätte ich schon längst wieder einen Brief. Es ist ihm dann ein Bedürfnis, von dem Siege zu sprechen. Ach Gott, und ob es mich auch aufbringt, wenn diese Italiener siegen, so muß ich es ja doch fast wünschen.“ Sie drückte den Brief an ihr Gesicht. „Es ist so schrecklich, ohne Nachricht zu sein!“
„Also bei Schluderbach!“ Die Mutter versuchte die junge Frau auf andere Gedanken zu bringen. „Weißt du noch, Lili, wie wir in Schluderbach waren? Sieben Jahre werden es her sein. Auf der schönen Tiroler Reise, beim Anfang unserer Dolomiten-Tour. Wir kamen vom Dürrnstein herunter, ein furchtbares Gewitter hatte uns überrascht, Vater hatte sich Blasen an den Füßen gelaufen, ich schleppte mich zuletzt auch nur noch, tropfnaß kamen wir in Schluderbach an. Aber schön war’s doch. Unsere Sachen mußten in den Trockenofen, der Hotelwirt half uns aus. Du bekamst das Sonntagsgewand von dem Tiroler Dirndl, der Stubenmagd. Beim Abendessen unten im Saal kam ein Herr an unsern Tisch – ein berühmter Maler – und bat, ob er dich malen dürfe. Weißt du noch, Kind?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß von nichts mehr. Sage nicht sieben Jahre – siebzig Jahre sind es her!“ In einer trostlosen Gleichgültigkeit erstarb die Stimme der jungen Frau. Sie zog die Stirn in Falten, und ihre Augen blickten abwesend, wie mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Sich äußerlich ruhig zeigend, aber innerlich durch eine unbestimmte Unruhe verstimmt, sagte die Mutter: „Gute Nacht!“ Als sie unten an der Tür der Frau Krüger vorüberging, saß diese noch immer in der gleichen Stellung wie vorhin, tief über den Tisch gebeugt. Vor ihr lag ein großer Atlas und daneben ein dickes Buch. Jetzt hob sie den Kopf. Das ‚Gute Nacht‘ der Vorüberschreitenden hatte sie aufgeschreckt.
Frau von Voigt trat in die Tür. Sie wollte ihr ein paar freundliche Worte sagen: Die Frau war sehr ordentlich, das Haus sehr sauber. „Nun, Frau Krüger, wie sind Sie denn mit meiner Tochter als Mieterin zufrieden? Ich hoffe doch: gut. Viel Lärm macht sie ja nicht.“
„Ich weiß es nicht.“ Die Frau sah sie mit ganz verlorenen Blicken an. Aber dann, wie sich wieder zur Gegenwart zurückfindend, stand sie auf: „Entschuldigen Sie! Ich habe die Frau Generalin nicht gleich erkannt.“
„Sie studieren so eifrig etwas?“
Die Krüger lächelte verlegen. „Ich wollte mir mal Korsika aufsuchen. Hier steht’s im Buch“ – sie zeigte ein aufgeschlagenes Konversationslexikon – :„‚Insel im Mittelmeer‘. Aber ich kenne mir doch nich recht aus; ich kann sie nich finden.“ Sie wischte mit dem Zeigefinger hilflos auf der Landkarte herum.
„Hier.“ Frau von Voigt wies sie zurecht.
„Danke vielmals.“ Die Krüger war sichtlich erfreut; sie wurde gesprächig. „Da is nämlich mein Sohn jetzt.“ Sie sah wie gebannt auf die hingezeichnete Insel, die wie eine geballte Faust, die einen Finger ausstreckt, links vom italienischen Stiefel erscheint. Sie nickte verträumt: „Nu weiß ich doch wenigstens, wie es da aussieht. Sehr groß is se nicht. Zweihundertneunzigtausendundachtundsechzig Einwohner hab’ ich gelesen; gebirgig und stark bewaldet. Täler sehr fruchtbar, aber schlecht angebaut. Na, Gustav wird schön gucken; schlecht angebaut is man bei uns nich gewohnt. Viehzucht und Fischfang, Thunfische – die kenn’ ich nich. Aber er wird sie schon mögen; er aß Fisch sehr gern. ‚Mutter, koch grünen Aal‘, sagte er immer; und Weihnachten ‚polnische Karpfen’. Die wird er da ja nich kriegen.“
Frau von Voigt hätte lachen können: Korsika und grüner Aal und polnischer Karpfen! Aber so lächerlich diese Zusammenstellung an sich war, in den Augen der Krüger war ein Ausdruck, der alles Komische verscheuchte. Frau von Voigt glaubte nie so viel zweifelnde Sehnsucht, so viel frommen Glauben und so viel anklammernde Hoffnung in einem Menschenblick gesehen zu haben. Das waren Augen, die Nächte um Nächte gewacht, viele Tränen vergossen hatten und noch viele mehr nicht ausgeweinte in sich verbargen. Augen, die sich fast blind gelesen hatten an den enggedruckten Daten langer Verlustlisten; Augen, die unentwegt voll bangender Liebe in die Ferne gespäht hatten; Augen, die nichts anderes mehr sahen, die nur nach dem einen blickten – Augen der Mutter, die auf den Sohn wartet.
Sie reichte der Krüger die Hand. Bewegt sah sie in das verfurchte Gesicht der Frau, das die Sorge gepflügt hatte wie der Pflug den Acker. „Gebe Gott, daß der Krieg bald zu Ende ist! Das war heute wieder ein großer Sieg.“
Die hinter faltigen Lidern sich bergenden Augen der Krüger blinzelten in dem einst breiten, jetzt lang gewordenen Gesicht. Ein Licht glomm in ihnen auf, das ihrem matten Blau tieferen Glanz verlieh. „Dann werden alle Gefangenen frei!“
Die Krüger stützte die Hand auf den Tisch, als poche sie darauf. Und sie lächelte. „Es steht in der Bibel geschrieben: ‚Dann wird Frohlocken und Jauchzen sein und des Friedens kein Ende.‘“
Der Abend von Nowogeorgiewsk durfte doch nicht zu Ende gehen, ohne daß er gefeiert wurde. Einige Urlauber hatten sich zusammengefunden. Unter ihnen hatte Minka Dombrowski einen alten Bekannten. Als sie am Nachmittag mit den Kindern in den Anlagen – der einstmaligen Dorfaue – dem Militärkonzert zuhörte und viele Blicke, die sie als lauter Bewunderung einschätzte, ihr neues Kleid musterten, hatte sie ihn wiedererkannt. Kaum hatte sie einen lauten Ausruf der Überraschung unterdrücken können: Je, das war ja der von damals aus dem Restaurant, auf den ihr Stanislaus so eifersüchtig gewesen war! ... ‚Minka, ich sage dir, wenn du mir nicht treu bleibst!‘ Er hatte gezittert dabei und mit den Augen gerollt. Ach je, der arme Kerl! Der war jetzt in Frankreich. Er konnte am Ende auch in Rußland sein. Wochen schon hatte sie keine Nachricht. Wer weiß, wo er steckte!
Sie hatte dem Verehrer, der sie damals mit vielsagenden Blicken bewundert und der ihr jetzt in Feldgrau noch besser gefiel, freundlich zugelächelt. Sie war doch eine verheiratete Frau, sie konnte sich das schon erlauben. Und wer konnte es ihr verdenken, ihr, die sich so plagen und mit den Kindern herumschleppen mußte und nicht einmal den Mann da hatte, der ihr sagte: ‚Minka, du bist zum Anbeißen!‘, daß sie die Einladung des Feldgrauen, den Abend mit ihm zu verbringen, annahm. Sie aß auch gern mal was Gutes. Auf Bockwürstchen und neues Sauerkraut hatte er sie eingeladen. Da gab’s auch Bier zu trinken. So schickte sie denn die Kinder nach Hause. Der Junge widersetzte sich, er wollte nicht gehen, da gab sie ihm einen so derben Klaps, daß er sie ganz entsetzt anstarrte. Sie sagte aber gleich hinterher: „Ich schenk’ dir auch ’n Groschen.“
Der Feldgraue lachte: Diese Frau war wirklich drollig. Er fühlte ihre Lebensgier. Sie machten erst noch einen kleinen Spaziergang, bei dem sie neben ihm herschlenderte, in der schon merklichen Abendkühle fröstelnd in ihrem leichten Kleid. Erst als sie im Walde waren und er den Arm um sie legte, wurde ihr wärmer. Sie dachte jetzt nicht an ihren Mann. Wenn der Mann zu lange fort ist, gewöhnt man sich zuletzt daran, man fängt an, zu vergessen. Und doch war es ihr wiederum, als der Feldgraue neben ihr schritt, als ginge sie mit ihrem Stanislaus, und sie lehnte sich fest gegen ihn, als er zärtlich wurde. So lange hatte kein Mann sie im Arm gehalten! Dabei schwatzte sie munter.
Als sie einkehrten, war das Lokal schon gestopft voll. Mit Mühe fanden sie noch an einem Tisch Platz, daran schon drei Feldgraue saßen. Sonst hatte jeder Feldgraue seine Liebste bei sich; diese drei aber waren noch unbeweibt. Und sie machten Herrn Lehmann, im Zivilleben Barbier, gefährliche Konkurrenz.
Minka Dombrowski schwamm in Seligkeit: nicht bloß einen, nein, vier Männer auf einmal. Es benahm sie ganz.
Sie saßen, in eine Ecke gedrängt, an einem kleinen Tisch und so dicht beisammen, daß bald der, bald jener Männerfuß ihren Fuß berührte. Die Knie stießen unter dem Tischchen zusammen; drückte sich ein Knie ganz besonders fest gegen das ihre, so drückte sie wieder. Herr Lehmann war der hübscheste von den vieren und ein alter Bekannter, er war auch der, der für sie bezahlte, sie schlug jedem andern, der nach ihr greifen wollte, auf die Finger.
„Schöne Minka, auf Ihr Wohl!“ Sie tranken tüchtig. Herr Lehmann bezahlte fünf Runden; die anderen jeder nur eine Runde. Er konnte das wohl auch, er hatte im Zivilleben ein flottes Geschäft in der Dennewitzstraße zu Berlin. Wenn erst Friede war und er wieder daheim, dann sollte die schöne Minka nur zu ihm kommen, dann würde er ihr die Locken kräuseln. Und Herrn Dombrowski auch bedienen. Er zwinkerte dabei mit den Augen, und die anderen lachten brüllend dazu. Warum sollte man denn nicht vergnügt sein? Wenn man wieder herauskam, wer weiß, wie lange man da noch lachen konnte! „Eine Kugel, und adjö Sie!“ sagte Herr Lehmann.
Die Dombrowski wurde ganz sentimental. Das sechste Glas Bier war zuviel gewesen, sie fing plötzlich an zu weinen: Gott, Gottchen, ihr guter Mann, wo mochte der jetzt stecken? Ach, eine Kriegerfrau hat’s doch zu schlimm. Es geht ihr zu traurig. Wer weiß, ob er noch am Leben war! Sie neigte sich gegen Herrn Lehmann und ließ den duseligen Kopf an seiner Schulter ruhen.
„Ach Gott, mein Mann, ach, ach!“ Dabei ließ sie es aber doch zu, daß die Rechte des Verehrers sie auf dem Nacken tätschelte, der frisch und kernig aus dem Kleid quoll. Sie faßte nach seiner Linken und hielt sie zärtlich in ihrem Schoß.