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Die Linden in den Straßen des Vororts hatten längst abgeblüht. Die breiten Wipfel in dem Park, der Bertholdischen Villa gegenüber, standen in jenem tiefen Grün, das, übersatt an Farbe, deutlich spricht: Grüner kann ich nicht werden, nun gilbe ich bald.

Frau Hedwig Bertholdi war ganz allein. Ihr Mann war auch fort. Er war zwar schon achtundvierzig, aber er hatte ein Gut besessen, das er der Erziehung seiner Söhne wegen verkauft hatte, und dieses Leben als Landwirt hatte ihn frisch erhalten. Er war wie ein um zehn Jahre Jüngerer; es hatte ihn längst gewurmt, daß er, Reserveoffizier, Hauptmann, so völlig tatenlos drinnen saß, während sein Jüngster, als gemeiner Soldat noch dazu, draußen war. Er hatte sich gemeldet. Als die große Linde vorm Haus noch blühte, war der ersehnte Brief gekommen – ‚Heeressache‘. Nun durfte er doch wenigstens Rekruten drillen, in einem Winkel an der Grenze von Russisch-Polen. „Und wenn ich denn auch keinen Pulverdampf rieche, so höre ich doch wenigstens, wenn der Wind günstig steht, das dumpfe Rollen der Geschütze“, schrieb er an seine Frau.

Nun war er doch endlich zufrieden! Hedwig senkte den Kopf: Wieviel besser es die Männer hatten. Sogar die an der Front, trotz aller Strapazen, trotz der Todesgefahr. Sie seufzte. Die Frauen hatten es schwerer. Da saßen sie nun alle – wohin sie blickte: Frauen, Frauen – ach Gott, sie hatte gar nicht gewußt, daß es so viele Frauen gab – und dachten nichts anderes, sprachen nichts anderes als: Krieg, Krieg. Und mußten doch den Tag hinleben im Kleinkram ihres Daseins und sich heimlich verzehren bei Tag und bei Nacht in der Sorge um die draußen.

Ihr Leben hatte sich bis dahin ganz um das der Söhne gewunden; erst, als die noch klein waren, in kleinen Sorgen, als sie größer wurden, in größeren Sorgen. Jetzt zuletzt in der schwersten Sorge: um ihr Dasein überhaupt. Nun war noch eine Sorge hinzugekommen – nein, eigentlich keine Sorge, ihr Mann war ja außer Gefahr –, aber doch eine ständige Besorgnis. Wie würde es mit seinem Rheumatismus werden? Der plagte ihn von Zeit zu Zeit. Und dann: Würde es ihn nicht gelüsten an die Front? Würde es nicht auch ihn treiben, und er es am Ende auch durchsetzen, hinauszukommen? Sie überdachte die Jahre ihrer Ehe: Bald würden sie silberne Hochzeit feiern, es wäre doch bitter, wenn sie die nicht feiern könnten. Nicht feiern, was man so feiern nennt, nein, still begehen in einem Zurückblicken auf die Vergangenheit. Von der Liebe, mit der man sich heiratet, bröckelt freilich manches ab, die Sinne werden ruhiger, die Jahre der Gewöhnung stumpfen ab, aber jetzt stieg ihr doch etwas wie ein warmes Rot in die Wangen, wenn sie an ihren Mann dachte. Es war auch so schwer, sich selber um alles kümmern zu müssen. Nun merkte sie erst, wieviel er ihr abgenommen, wie er ihr das Leben eigentlich sehr angenehm gestaltet hatte. Das äußere Leben wenigstens. Innerlich war es oft unbefriedigend gewesen; sie hätte ihn anders gewünscht, geistig angeregter und anregender. Freudig hatte sie den Umzug in die unmittelbare Nähe der Weltstadt begrüßt, da würde vieles anders werden. Er war derselbe geblieben. Sie hatte die Söhne gehabt; all deren Interessen geteilt, mit ihnen gelernt, als sie noch klein waren, mit ihnen gestrebt, als sie größer wurden. Jeder von den beiden hatte seine eigenen Ideen, seine Ansichten, seine Ideale; sie hatte sich redlich bemüht, daran teilzunehmen. Und sie hatte doch nicht immer ganz mitkönnen: Die waren eben jung, jung und töricht – und sie?!

Hedwig sah sich in ihrem einsamen Zimmer in dem Spiegel. Ihr Mann sagte immer, sie sähe noch wie ein Mädchen aus. Tat sie das? Ja, wenn sie sich am Abend ihr reiches Haar in Zöpfe flocht. Aber jetzt?! Sie sah rasch weg und seufzte dann auf: Man alterte rasch in dieser Zeit. Gut, wenn man miteinander altert. Miteinander – nur nicht allein sein!

Sie warf einen scheuen Blick um sich. Das Zimmer war groß, in seiner Tiefe hinter den breiten geschnitzten Schränken lauerten Schatten. Jeden Abend leuchtete sie die Winkel ab: Da konnte sich gut jemand verstecken. Und wenn einer in die große Linde im Vorgarten kletterte und auf dem breiten Ast, der sich bis zum Balkon streckte, weiter rutschte, war es ein leichtes, sich ins Zimmer zu schwingen. Früher war ihr nie ein Gedanke der Furcht gekommen, da schlief ihr Mann neben ihr, jetzt fuhr sie zusammen bei einem Knacken in den Möbeln und wagte es nicht mehr, wie sie gewohnt war, nachts ein Fenster offen zu lassen. Die Läden mußten fest geschlossen werden. Und dann lag sie doch noch stundenlang mit weiten Augen, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und wachte. Gab es hier noch viele Frauen, denen es so ging wie ihr?

Hedwig Bertholdi hatte sich bis dahin nicht um andere gekümmert, sie war ganz ausgefüllt gewesen, nun mußte sie an die Krüger denken und an deren Sohn: Wie mochte es wohl mit dem geworden sein? Ihr Mann hatte, ehe er fortging, deswegen noch an das Genfer Rote Kreuz geschrieben. Ob die Krüger nun endlich etwas erfahren hatte? Sie ließ sich gar nicht sehen. Ihr ländlicher Garten lag still, man sah jetzt nur zuweilen eine Dame darin wandeln in den Abendstunden. Das war die Tochter von Exzellenz von Voigt, die ‚Italjänerin‘, wie ihr Mädchen sagte. Sie ging eigentlich nicht durch den Garten, sie schlich nur. Es war sehr still drüben.

Das Krügersche Haus war kein moderner und auch weiter kein geschmackvoller Bau; noch ein Haus aus alter dörflicher Zeit. Vor fünfzig Jahren mochte es wohl als etwas Besseres gegolten haben. Es war niedrig, langgestreckt und durch den dichten Efeu, der es umrahmte, ein wenig düster. Aber die kleinen blankgeputzten Fenster, die mit hellgestrichenen Läden aus dem fast schwarzen Efeu heraussahen, gaben ihm etwas Sauberes. Der pausbäckige Junge, der früher, als der alte Krüger noch lebte, im Buschwerk des Vorgärtchens sonntags einen Wasserstrahl geblasen hatte, saß jetzt auf dem Trockenen, aber er erinnerte an bessere Zeiten.

Daß Lili den Einfall haben konnte, sich diese Wohnung zu mieten! Frau von Voigt war verletzt, daß die Tochter nicht auf die Dauer bei den Eltern wohnen bleiben wollte. Es war so viel Platz in der Villa, und wenn ihr Mann wieder im Felde war, war sie ganz allein; es war unnatürlich, daß jede von ihnen eine eigene Wohnung hatte. Die Tochter hätte sich nicht zu fürchten brauchen, sie würde sie in keiner Weise bevormunden. Doch sie hütete sich, einen Einwand laut werden zu lassen. Es war vielleicht auch klüger, Lili sich einmal ganz selber zu überlassen. Die Liebe der Mutter fühlte den Zwiespalt in der Seele der Tochter. War die nicht schlimmer daran als all die Frauen hier, die den Mann draußen hatten? War nicht sogar das arme Weib, die Reinemachefrau, besser daran?

Beim Fensterputzen von Frau Rossis neuer Wohnung hörte man die Dombrowski lustig singen. Sie trällerte den neusten Gassenhauer so laut, daß die Leute, die vorbeigingen, Anstoß daran nahmen und die Krüger unten aus ihrem Fenster den Kopf streckte: „Seien Sie doch stille!“

Frau von Voigt hatte eigentlich schon die Absicht gehabt, die Dombrowski nicht mehr zu nehmen – die ließ in der letzten Zeit nach in der Arbeit –, aber sie konnte es nun doch nicht übers Herz bringen. War es nicht gut, daß diese arme Frau, die sich mit ihren Kindern kümmerlich genug durchbringen mußte, der der Mann jeden Tag totgeschossen werden oder als Krüppel heimkommen konnte, sich die Heiterkeit der Seele bewahrt hatte? Und war es ein Wunder, daß das Weib der täglichen Arbeit nicht auch einmal überdrüssig wurde – wurde man denn nicht selber auch müde? O ja!

Nun ging der Sommer schier zu Ende, der Herbst begann; wie reif schon die Äpfel wurden unten im Garten der Witwe Krüger! Bald fing der zweite Kriegswinter an. Und noch immer kein Ende. Würde der Krieg denn ewig dauern?! Frau von Voigt fand nicht den Mut, ihren Mann auszufragen. Ihre Bekannten drängten immer: ‚Was sagt Ihr Mann? Der weiß doch gewiß Näheres. Erzählen Sie doch, was sagt der General?‘ Der sagte gar nichts. Er zuckte nur die Achseln und machte eine Gebärde wie: wer weiß.

„Wenn du etwas Abgelegtes hast, gib es doch der Dombrowski“, sagte Frau von Voigt zu ihrer Tochter. „Sie hat ein kleines Mädchen, für das kann sie etwas daraus nähen.“ Und Lili, die bei der Übersiedlung in die neue Wohnung in ihren Koffern kramte, gab. Sie hatte eine völlige Gleichgültigkeit gegen ihre Sachen, sie wußte es nicht mehr, daß sie früher viel Wert darauf gelegt hatte, sich schön zu kleiden. Ein zartes weißes Kleid, in dem ihr Mann sie besonders gern gesehen hatte, zerrte sie aus dem Koffer. Sie schleuderte es von sich, als verbrenne das duftige Gewebe ihr die Finger. Ein wütender Schmerz durchzuckte sie: Nie mehr, nie mehr würden seine Arme sich um dieses Kleid legen. Hier – hier hatte seine Hand oft geruht, war zärtlich die Falten auf und ab geglitten. Ach, in diesem Kleid, in diesem Kleid! Nie war er entzückter über ihre Schönheit gewesen.

Sie schloß wie träumend die Augen. All die glücklichen Stunden, die sie in diesem Kleide verlebt hatte, pochten bei ihr an.

Felsensicher hatte sie ihr Glück gewähnt, dauernd bis zum Tode – sie zuckte zusammen. Mit starren Augen sah sie in eine Ecke, ihre Lippen erblaßten: Oh, warum mußte sie jetzt so oft an den Tod denken, an seinen Tod? Er war dem Tod nahe, täglich, stündlich, jede Minute. Der Tod lauerte ihm auf hinter den Felsenrippen der Berge, und wenn er kein Geschoß auf ihn abschnellte, so stürzte er ihn vielleicht hinunter in furchtbare Schründe.

„Mein Gott, mein Gott!“ Sie stöhnte auf. Es war auf einmal nichts mehr von dem da, was sich trennend zwischen ihm und ihr aufgetürmt hatte. Was galt ihr noch Deutschland, Vaterland, Vaterhaus? Er war ihr Mann, der Mann, den sie liebte, und er war in Gefahr. In der Angst um sein Leben vergaß sie den Zwiespalt, in dem sich ihre Seele quälte.

Die junge Frau verschenkte das weiße Kleid, sie mochte es nicht mehr unter ihren Sachen wissen; anziehen würde sie es ja doch nie mehr, dachte sie in ihrer plötzlichen Hoffnungslosigkeit.

Aber die Dombrowski dachte gar nicht daran, ihren Kleinen ein Kleidchen daraus zu nähen. „Viel zu schade for das Mädel.“ Sie ersuchte Fräulein Hieselhahn, es für sie weiter zu machen. „Aber nich zu ville, ja nich zu ville!“ Sie wollte gern schlank sein.

Gertrud war förmlich erschrocken: was fiel denn der Dombrowski ein? In dem Kleid konnte sie doch nicht ausgehen, selbst sonntags nicht.

„I warum denn nich?“ Die Frau war beleidigt. „Sie denken wohl auch, wenn eine nich ‚von‘ is, darf se nich hübsch sein? Na, das wer’ ich Ihnen aber mal beweisen.“ Und sie zog den Leib ein und preßte mit beiden Händen ihre starken Hüften herunter. „Los! Probieren Se mal an, probieren Se mal an. Ich sag Ihnen, wie for mir gemacht!“

Mit einem Kopfschütteln sah Gertrud Hieselhahn der Dombrowski nach, als diese am nächsten Sonntag ausging. Es war gar kein rechtes Wetter mehr für solch ein leichtes weißes Kleid. Aber Minka war zu stolz darauf, sie hatte es sich nicht ausreden lassen. Das Mädchen war in der Hoftür stehengeblieben, in seinem ernsten Gesicht vertiefte ein Lächeln zwei Grübchen: Ach, war das komisch gewesen! Die Dombrowski, die alltags kein Korsett trug, hatte sich heute in eins gezwängt. Sie hatte das Schnürband so fest zusammengezogen, daß sie kaum atmen konnte, aber es quoll doch noch überall etwas vor. „Ne, ich sage, das ’s ’ne Tortur!“ Die Gemarterte hatte gestöhnt. Aber es mußte sein, sonst ging das Kleid nicht zu. Es saß ohnehin noch so prall, daß man fürchten mußte, sein zarter Stoff würde gesprengt. Doch dem bräunlich-runden Gesicht mit den schwarzen funkelnden Augen, mit dem gesunden Rot auf den Wangen stand es nicht übel. Als die Frau, munter wie ein Mädchen, in die Hände klatschte: „Hatt’ ich nich recht? Hübsch was?“ hatte Gertrud nicht ‚nein‘ sagen können. Warum sollte sie Minka die Freude verderben? Die sah ja auch trotz alledem hübsch aus, aber, aber – das Lächeln verschwand aus Gertruds Gesicht – war die leichtsinnig! Oh, wer doch auch ein wenig leichtlebig sein könnte, sich an jedem bißchen freuen und die Sorge vergessen! Die Dombrowski sorgte sich nicht allzuviel um ihren Mann. Wie sie da loszog! Nicht wie eine, die den Mann im Krieg hat. Die langen Enden des bunten Bandes, das sie sich als Gürtel umgebunden hatte, flatterten lustig, der Hut saß ihr im Genick.

Hinter der Dombrowski fegte der Wind her und klatschte das dünne Kleid fest an die Schenkel. Ihre Füße in den weißen Strümpfen und den schwarzen Halbschuhen trippelten unruhig – um vier Uhr ging das Konzert in den Anlagen an, Militärkonzert, sie wollte keinen Ton versäumen. Aber sie kam nicht rascher voran, der zu enge Rock spannte sich um ihre Beine, sie konnte nicht ausschreiten. Dazu mußte sie ihre Minna, die mit einem rotkarierten Kleidchen mit schwarzem Samteinsatz ausgeputzt war, hinter sich drein zerren. Die heulte und wollte durchaus mal auf der Trompete tuten, in die der Bruder, der hohnlachend nebenherlief, immer wieder stieß.

„Steck de Tröte weg, nu laß doch sein, Erich!“ sagte die Mutter. Der Junge hörte gar nicht auf sie. „Das ’s doch schrecklich, Erich, nich auszuhalten. Ich nehm’ euch nie mehr mit!“ Nun tutete er erst recht.

„Ich ooch mal, ich ooch mal!“ zeterte Minna.

Das Gebrüll der Schwester mischte sich mit dem Tuten des Bruders, nun lachte die Mutter dazu: Die machten schon vorher Konzert ...

Auch als das weiße Segel des Kleides längst hinter den ersten Häusern verschwunden war, blieb Gertrud noch immer in der Hoftür stehn. Die Chaussee war ganz menschenleer. In der bewegten Luft schüttelten sich die jungen Bäumchen am Straßenrand, von den Feldern herüber kam bereits ein Duft wie von welkendem Kartoffelkraut. Noch war es früh im Jahr, Herbst erst in Sicht, und doch schon so einsam hier. Wenn einem einer etwas antun wollte, hier könnte er’s. Bis zu den Häusern hin drang kein Ruf. Und dieses schwache Gatter aus morschen Zaunstecken konnte auch keinen abhalten, der hier eindringen wollte. Es würde bös sein, wenn es früh dunkelte, hier draußen allein zu gehen. Nun, die Dombrowski würde sie sicher abholen, wenn sie abends spät von der Arbeit kam, die kannte ja keine Furcht. Aber dann mußten ja die Kinder so lange allein bleiben. Man würde sie einschließen.

Als es Gertrud Hieselhahn lieb gewesen war, sich hier in der Abgelegenheit verkriechen zu können, war es Frühling. Nun aber bangte ihr vor dem Winter: Wie hatte die Dombrowski es nur, so lange schon allein, hier aushalten können? Die Einsame seufzte. Ach, wie sollte das werden, wenn keine Sonne schien, wenn der nebelgraue November über die Felder kroch und von den Häusern nichts mehr zu sehen war?! Schon heute kam keine Menschenseele, von den Feldern kein Laut; wie ausgestorben war alles, sie hörte nur den eigenen beklommenen Atem. Die große Sonntagsstille peinigte sie. Da war ihr das mißtönende Tuten von Erich Dombrowski doch noch lieber. Sie wäre am Ende besser mitgegangen, die Dombrowski hatte sie so freundlich aufgefordert. Aber mit der –?! Gertrud Hieselhahn warf den Kopf in den Nacken. Dazu hatte sie immer zu viel auf sich gehalten. Und wenn sie auch jetzt – es trübte plötzlich etwas ihren Blick und jagte ihr eine hastige Blutwelle ins Gesicht – und wenn sie auch jetzt ein Kind hatte, zu dem kein Vater sich bekannte, sie hielt doch noch immer auf sich.

Sie wollte sich abwenden: Voran, an die Arbeit, wochentags kam sie nicht dazu, ihre Sachen auszubessern. Beim Arbeiten würden ihr schon die trüben Gedanken vergehen, dann rasselte die Nähmaschine ihr Lied herunter, und der Kleine krähte dazu. Da sah sie eine Frauengestalt die Straße heraufkommen. Wollte die hierher? Es schien so. Jetzt winkte die. Wer war denn das?

Erst als sie vor ihr stand, erkannte Gertrud das magere Gesicht, die weiten, sehnsüchtigen Augen und das durchsichtige Blaß der Haut: Das war ja das Fräulein aus der Bahn, das ihr seinen Sitzplatz gegeben hatte! Die hatte sie damals um ihren Besuch gebeten.

„Ich habe Sie nicht gleich wiedererkannt. Das ist aber nett von Ihnen – kommen Sie doch rein, bitte!“

„Sie – Sie haben mich aufgefordert“, stotterte Margarete Dietrich, und ihr bleichsüchtiges Weiß überzog sich mit einem verlegenen Rot. „Ich – ich war krank, sonst wäre ich längst gekommen.“

„Ja, es ist schon lange her!“ Jetzt fiel Gertrud erst alles Nähere ein.

„Was macht denn Ihr Herr Bräutigam?“ fragte sie rasch, um zu zeigen, daß sie auch noch Bescheid wußte.

„Oh, dem geht es sehr gut!“ Fräulein Dietrich tat einen tiefen Atemzug, ihre matten Augen strahlten auf. „Der ist sehr tüchtig, sehr tapfer – er hat aber auch schon lange das Kreuz, und nun ist er eingegeben fürs Kreuz Erster.“

War er das nicht damals schon? Gertrud glaubte sich zu erinnern.

Das Mädchen fuhr jetzt ganz ohne Schüchternheit fort: „Er schreibt mir sehr oft – oh, Sie sollten nur einmal lesen – was für schöne Briefe! Und sehen Sie – da!“ Sie zerrte den Handschuh herunter und spreizte ihre dünnen Finger: Am vierten glänzte ein goldender Reif. „Den hat er mir geschickt zum Geburtstag – den Verlobungsring!“ Sie stand wie verzückt, den Ring betrachtend.

War die aber schwärmerisch veranlagt! Etwas in des Mädchens Gebaren stieß Gertrud ab, und zugleich empfand sie doch etwas wie Mitleid: Die sah ja entsetzlich elend aus. „Was hat Ihnen denn gefehlt?“ fragte sie und schob ihren Arm unter den der Besucherin.

Das blasse Fräulein Dietrich wurde wieder rot und schlug die Augen nieder. „Ich sehnte mich so. Davon bin ich nervös geworden. Immer Kopfweh. Und denn so matt.“ Sie seufzte.

Auch Gertrud seufzte. ‚Ich sehnte mich so‘ – ach ja, das konnte sie wohl verstehen. Den mageren Arm der anderen drückend, sagte sie herzlich: „Er wird ja wiederkommen. Er wird doch auch gewiß bald mal auf Urlaub kommen. War er denn noch gar nicht hier?“

„Nein. Noch keinmal!“ Das Fräulein klagte. „Ich kann’s gar nicht sehen, wenn andere stehen und ihren Bräutigam erwarten. Oder an seinem Arm gehen. Es ist schrecklich für mich.“ Mit einem so tiefen Seufzen, daß es fast wie ein Stöhnen klang, fuhr sie sich nach der Stirn und preßte dann die Hand auf die Brust. „Ich habe immer Herzklopfen. Und es schnürt mir da alles zusammen. Gott, man ist doch auch jung. Und hat mehr Gefühl als manche andere. Und immer so dabeistehen und immer nur zusehen – nein, das ist schrecklich, zu schrecklich!“ Das zarte Rot auf dem blassen Gesicht hatte sich noch mehr vertieft.

Jetzt war Margarete Dietrich nicht das scheue, schüchterne Mädchen mehr, sie war eine heftig Begehrende. Gertrud um den Leib fassend und an sich pressend, daß dieser fast der Atem verging, stieß sie heraus zwischen Schluchzen und Lachen: „Wenn er doch käme!“

„Er wird ja kommen, beruhigen Sie sich doch!“ Gertrud war ganz verdutzt und erschrocken: Die war ja zu aufgeregt. Ihrer ruhigen Art war das unverständlich: Wie konnte man sich nur so haben? Und doch war da ein geheimes Band zwischen ihr und jener, ein Band, das man nicht sah und nicht greifen konnte, das sie aber trotz allem zueinander zog. Sie litt es, daß Fräulein Dietrich den Arm um ihren Hals schlang und sie küßte. Ihr war der Kuß zwar nicht angenehm, peinlich empfand sie den brennenden Druck dieser feuchten Lippen, aber sie überwand sich und erwiderte ihn. Sie war ja auch allein und sehnsüchtig. Tausendmal mehr allein als jene es war, denn sie konnte hoffen; sie aber hoffte nicht mehr. „Ich weiß gar nicht, warum Sie so außer sich sind, Fräulein Dietrich!“

„Sagen Sie doch: ‚Gretchen‘!“

„Warum Sie so außer sich sind, Fräulein Gretchen!“

„Nein, bloß ‚Gretchen‘ – ‚Gretchen‘, wie es im Faust steht. Sie kennen doch Faust?“

„Nein.“

„Den borg’ ich Ihnen. Den müssen Sie lesen. Den lese ich zu gern. Ich lese überhaupt viel – immer des Nachts. Viel zuviel, sagt der Doktor. Was soll ich machen, wenn ich doch nicht schlafen kann?! Der Telephondienst macht schrecklich nervös. Und denn der Krieg. Früher war ich ganz gesund – aber seitdem!“ Wie in schmerzhaftem Empfinden zog sie die Brauen zusammen, ihre Augen hatten allen Glanz verloren, blickten wieder matt und wie in unbestimmter Sehnsucht verloren. „Wenn er nun nicht bald kommt –!“

Gertrud lächelte. „Er kommt ja. Und was machen Sie dann?“

„Oh, dann heiraten wir. Ich lasse mich kriegstrauen.“ Die Dietrich fuhr auf wie von einem plötzlichen Gedanken bestürmt, neu belebt. „Ja, kriegstrauen, ja, ja! Er bekommt zehn Tage Urlaub – wir heiraten gleich – sofort, sofort – wir machen ’ne kleine Hochzeitsreise – dann muß er schnell wieder weg – ich bring’ ihn noch auf die Bahn – ich stehe und winke ihm nach – ‚mein Mann, mein alles auf der Welt‘ – es wird mir sehr schwer – oh, sehr schwer – aber dann bin ich doch Frau, seine Frau!“ Jetzt lachte sie hell.

„Seine Frau!“ Langsam sprach es Gertrud ihr nach. Sie sah die andere von der Seite an und senkte den Kopf – die hatte es gut.

Langsam gingen sie Arm in Arm über den Hof. Der war wüst und verlassen. Ackergerät lag umher. Schubkarren, Schippe und Besen. An der Tür des leeren Schuppens hing noch immer der zerschlissene Männerrock, von Wind und Wetter zur Vogelscheuche gemacht. Den zerlöcherten Filzhut ohne Krempe hatte Erich Dombrowski der Pumpe aufgestülpt.

Fräulein Dietrich war jetzt still, sie sah sich nicht um, sie ließ sich ins Haus führen, als ginge sie wie eine glücklich Träumende.

Drinnen schrie plötzlich das Kind. Da hob Gertrud den Kopf und sagte fest – Trotz trieb sie dazu und ein Sichstemmen gegen das eigene Mißgeschick: „Hören Sie, Gretchen? Mein Kleiner schreit. Ich hab’ ein Kind. Und ich bin nicht seine Frau – niemandes Frau.“

Es dauerte lange, bis Gretchen Dietrich ans Fortgehen dachte. Es dämmerte bereits; und nun fürchtete sie sich, im Dunkeln zu gehen. Warum hatten sie sich auch so viel zu erzählen gehabt! Gertrud hatte an der Maschine gesessen und genäht und Margarete auf einem niederen Schemelchen, das den Dombrowskischen Kindern gehörte, hatte den Kopf an Gertruds Knie gelegt und den Kleinen auf dem Schoß gehalten. „Lassen Sie mich ihn doch halten, bitte, bitte!“

Sie vergoß bittere Tränen über der Freundin Geschick, sie konnte nicht genug davon hören. „Ach, erzählen Sie – und als Sie’s ihm nun sagten, was sagte er da? Nicht kriegstrauen lassen wollte er sich, trotzdem?“

„Seine Mutter wollte es nicht.“

Das war ja wie im Roman! Die Augen der Dietrich waren groß und weit. Mit überströmender Zärtlichkeit drückte sie den Kleinen an sich, hielt ihn an ihrer Brust wie eine Mutter. „So ein Kind, so ein süßes Kind! Ach, wenn ich doch auch ein Kind hätte!“ Sie schwatzte mit dem Säugling, der sie doch nicht verstand, und erzählte ihm lange Geschichten vom Vater draußen im Krieg.

Gertrud lächelte wehmütig. Sie hatte so lange nicht Besuch bei sich gehabt, war an das Schweigen in ihrer Stube so gewöhnt, daß es ihr fast schwindelte. Was Gretchen alles erzählte! Ihr Bräutigam war in Frankreich – immer in Frankreich gewesen, versicherte sie –, und Gertrud glaubte doch damals gehört zu haben, er wäre auch in Rußland gewesen.

Aber Gretchen erzählte und hielt dabei die Hand in die Höhe, daß der letzte Strahl des sinkenden Tages auf ihren Ring fiel: Dieser Ring war aus Frankreich, französisches Gold. Aus dem großen französischen Goldstück, das ihm der Graf in die Hand gedrückt, als er dem verzweifelten Vater die Tochter aus den Händen der gierigen Soldateska befreit hatte. „Er hat die Belohnung natürlich nicht annehmen wollen, aber der Graf hat ihn so gedrängt, daß er zuletzt sagte: ‚Nun, so werde ich denn für meine geliebte Braut daheim den Verlobungsring daraus fertigen lassen.‘“

„Waren Sie denn noch nicht verlobt? Hatten Sie denn noch nicht seinen Ring?“ fragte Gertrud. Sie sagte es so hin, nur um etwas zu sagen, ihre Gedanken schweiften ab. Wie war die hier so beneidenswert, die trug den Ring des Geliebten am Finger, mochte kommen, was wollte, die war seine verlobte Braut! Unwillkürlich blickte sie auf die eigene Hand: Ihr Finger war leer.

Die Dietrich lachte leise, sie flüsterte dann geheimnisvoll: „St, nein, es darf auch jetzt noch zu Hause keiner wissen, daß ich verlobt bin. Ich steck’ den Ring nur an, wenn ich ausgehe. Komm ich nach Haus, zieh’ ich ihn vorher ab. Es ist noch heimlich.“

„Aber warum denn? Wenn’s doch so’n braver Mensch ist?“ Gertrud verwunderte sich.

„Meine Mutter kann ihn nicht leiden – hu, die ist bös! Aber wenn ich ihn nicht kriege, geh’ ich ins Wasser!“ Erregt sprang das Mädchen auf, unruhig lief es in der Stube umher.

Das Kind, durch die Heftigkeit aus einem leisen Schlummer geweckt, fing an zu quarren. Gertrud wollte es nehmen, aber Margarete wollte es nicht lassen. „So ein Kind, so ein süßes Kind, ach, wenn ich doch auch ein Kind hätte!“ Sie fing an zu schluchzen.

Diese Aufgeregtheit hatte wirklich etwas Beunruhigendes. Gertrud war eigentlich ganz froh, als die andere endlich aufbrach. Bis zu den ersten Häusern wollte sie Gretchen bringen. Sie schlug ein Tuch um sich und das Kind und nahm es auf den Arm, an den anderen hängte sich die Dietrich.

Um die beiden Frauengestalten, die langsam den Häusern zuwandelten, wob sich die Dämmerung. Sie waren beide dunkel gekleidet, und dunkel waren auch schon die Felder rechts und links der Chaussee. Geheimnisvolle weiße Gestalten standen im Dunkel auf und schienen zu winken. Margarete hängte sich fester an Gertruds Arm und drängte sich an sie: „Wie gut, daß Sie mitgehen, ich stürbe vor Angst. Ach, mein liebes Trudchen, nicht wahr, du kommst zu meiner Hochzeit? Ich lade dich ein. Ach, sag doch ‚du‘ zu mir – es macht mich glücklich. Sag, hast du mich lieb? Ich habe keinen Menschen, der mich so recht liebhat – ich bin ja so arm!“

War das merkwürdig von der, so etwas zu sagen! Gertrud dachte darüber nach, als sie nun allein zurückging. ‚Ich bin ja so arm‘ – wie stimmte denn das? Gertrud fuhr plötzlich zusammen, sie hörte ein Weinen.

Durch die Dunkelheit kam etwas hinter ihr hergetrappelt. Nun heulte es laut. Erschrocken blieb sie stehen: Dombrowskis Kinder? „Wo kommt ihr denn her? Wo ist denn eure Mutter?“

Die kleine Minna faßte verängstigt nach Gertruds Kleid und klammerte sich an: „Huh, so dunkel, ’s is so dunkel!“

Der Junge aber schimpfte los: „Mutter –? Och die! Hat uns nach Hause jeschickt. Die amesiert sich!“

Was sollte das heißen? Die amüsierte sich? Gertrud wollte eben, getrieben durch ein seltsam gemischtes Gefühl von Abneigung und einer gewissen Verantwortlichkeit, den Jungen ausfragen, als durch das Dunkel des Abends ein dumpfes Summen ging. Ein fernes Hallen. Das waren die Glocken der Kirche. Die lag weitab, und der Wind stand nicht von dorther, aber man erkannte doch das langsam-schwere, feierliche Dröhnen.

Sie hielt ihren Schritt an, sie gebot dem Jungen, der laut weiterschimpfte, Stille. Nun hörte man’s deutlicher. Diese tiefe, ernste, erzene Stimme. Läuten um diese Zeit? Der Nachmittagsgottesdienst war längst vorbei, Begräbnisse fanden so spät nicht mehr statt; das konnte nur Sieg sein. Wenn es absetzte, dreimal von neuem sich erhob. Man kannte das, zu vielen Siegen schon hatten die Glocken geläutet, vor kaum drei Wochen erst für das große Warschau; man war fast gewöhnt daran, bereits wie abgestumpft.

Trotzdem kehrte Gertrud um – Sieg?! Horch! Jetzt huben sie an zum drittenmal! Und wenn sie persönlich denn auch nichts mehr zu verlieren hatte und nichts zu gewinnen, es trieb sie nun doch dem Bahnhof zu. Nicht so allein sein zu solcher Stunde. Da waren die andern, Menschen genug jetzt, da würde sie erfahren, was für ein Sieg es war. Und ob nun bald Friede sein würde.

Töchter der Hekuba

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