Читать книгу Ariane - Claude Anet, mehrbuch - Страница 10
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Der Verlobte
Vor der Haustür wartete eine kleine Viktoria-Kalesche mit Luftbereifung; angespannt waren zwei schöne Rappen, edle Traber, wie sie hier in der Gegend gezüchtet werden. Auf dem Bürgersteig ging ein hochgewachsener und korpulenter junger Mann auf und ab, der hastig ein paar Züge von Zigaretten nahm, die er rasch nacheinander wegwarf. Manchmal blieb er stehen und blickte zur Veranda im ersten Stock hinauf, sah auf die Uhr und spazierte weiter. Nikolaj Iwanow war in der Stadt nur unter zwei Rubriken bekannt: als Pferdeliebhaber und als einseitig verlobt mit der berühmt-berüchtigten Ariane Nikolajewna. Er war ein sonderbarer und scheuer Zeitgenosse, der sich selten blicken ließ, der keine Freunde hatte und den größten Teil des Jahres auf einem Gut dreißig Werst von hier verbrachte. In der Stadt hatte er nur eine Zweizimmerabsteige in einer großbürgerlichen Wohnung. Er trank nicht, er spielte nicht Karten, er war, soweit bekannt, nicht liiert. Sein Vater war schon lange tot, seine Mutter lebte auf der Krim. Es hieß, sie sei geistesgestört und in der Klinik eines bekannten Arztes untergebracht. Vom Alleinleben war Nikolaj Iwanow schweigsam geworden und hatte tatsächlich Schwierigkeiten mit dem Sprechen bekommen. Er suchte nach Worten, korrigierte sich, widersprach sich, hielt mitten im Satz inne und verfiel letzten Endes wieder in Schweigen, seinen angenehmsten Zustand. Mit seinen blauen Augen unter dunkelbraunen Brauen und dunkelbraunem Haar hatte er eigentlich einen sympathischen Gesichtsschnitt. Aber er war blass, die Lippen dünn und der Blick unsicher. Die Mütter und die jungen Mädchen hatten lange versucht, diese reiche Beute zu ergattern, denn man schätzte Nikolaj Iwanows Vermögen auf eine Million Rubel. Doch alle Vorstöße waren umsonst gewesen.
Einmal aber hatte er sich dazu hinreißen lassen, auf den jährlichen Ball des Znamenski-Gymnasiums zu gehen.
Ariane gehörte dem Festkomitee an und hatte ihm am Eingang eine Blume gereicht. Nikolaj hatte sie genommen, hatte das junge Mädchen irritierend lang gemustert, ein paar Worte des Dankes gestammelt und war ihr dann den ganzen Abend nicht von der Seite gewichen. Wenn sie tanzte, sah er ihr unablässig zu, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Einmal verließ er den Saal, stürzte an den Tresen und kippte mehrere Gläser Wein, als wollte er sich Mut antrinken. Noch ehe der Abend zu Ende war, bat er Ariane in einem Anfall von Heldenmut, ihn zu heiraten. Ariane – sie war damals sechzehn – sah ihn von oben bis unten mit größter Unverfrorenheit an und lachte ihm ins Gesicht. Doch am nächsten Tag wurde er mit einem Blumenstrauß bei Warwara Petrowna vorstellig, die ihm vergeblich klarzumachen versuchte, dass ihre Nichte noch nicht im heiratsfähigen Alter war. Am übernächsten Tag brachte er einen Verlobungsring mit, in den Arianes Name und der Tag des Balls eingraviert waren. In der ganzen Stadt erzählte er herum, dass Ariane Nikolajewna Kusnetzowa nach dem Ende der Schulzeit Frau Nikolaj Iwanowa werde. Seitdem bekam Ariane Tag für Tag Blumen zugestellt, und schließlich nahm sie diese schönen täglichen Lieferungen ganz gern an und gewährte Nikolaj Iwanow gelegentlich eine Ausfahrt mit der Kalesche.
Kaum zu glauben, mit welch tyrannischer Launenhaftigkeit diese sechzehnjährige Göre den grobschlächtigen Kerl behandelte, der fast doppelt so alt war wie sie. Merkwürdig genug, dass ihr nicht etwa allmählich bewusst geworden war, welch uneingeschränkte Macht sie über ihn hatte, sondern dass sie vom ersten Tag an verstanden hatte, wer ihr gegenüberstand und dass Nikolaj in ihren Kinderhänden weich wie Wachs war. Sie bestimmte, wann und wie lange er sie besuchen durfte. Nikolaj kam nur zu diesen Zeiten. Da sei Gott vor, dass er versucht hätte, sich ohne ihre Zustimmung im Haus an der Dworanskajastraße blicken zu lassen! Einmal kam er aus irgendeinem dringenden Grund ins Esszimmer, wo er gerade nicht erwartet wurde. Wortlos ging Ariane auf ihr Zimmer und weigerte sich, ihn zu empfangen. Oft befahl sie ihm, eine oder zwei Wochen auf dem Land zu bleiben und ihr auch nicht zu schreiben. Manchmal erlaubte sie ihm, sie ins Theater zu begleiten, wohin sie regelmäßig ging; sie versäumte kaum eine Vorstellung, denn sie schwärmte für die Schauspielkunst, traf sich mit den Schauspielern, erklärte, sie werde selber Schauspielerin, und ein Leben ohne Rampenlicht sei kein Leben. Es kam sogar vor, dass sie mitten in der Vorstellung hinter die Bühne ging, mit den Künstlern plauderte und Nikolaj ganz vergaß, der mürrisch und mit zusammengebissenen Zähnen seinen Heimweg antrat.
Ein anderes Mal machte sie folgendes Experiment: An einem Winterabend, als Nikolaj zu Besuch bei ihr war, sagte sie um zehn Uhr abends beim Tee:
»Nikolaj, ich muss gehen, ich bin verabredet.«
»Ich begleite Sie«, sagte er, »wo müssen Sie hin?«
»Ein Freund erwartet mich an der Ecke zum Domplatz, aber Sie dürfen nicht erfahren, wer es ist.«
Erstaunt sah er sie an. Nach einer Weile gab er sich einen Ruck und sagte:
»Gut.«
Sie gingen zusammen los, und als sie unter einer Straßenlaterne den jungen Mann sah, den sie treffen wollte, verabschiedete sie Nikolaj und beschwor ihn, sofort nach Hause zu gehen.
Um die Geschichte in ihrer ganzen Schönheit gerecht zu werden, sei erwähnt, dass Nikolaj hoffnungslos eifersüchtig war und tausend Anhaltspunkte fand für die feste Überzeugung, Ariane habe in der Stadt ihre Verstrickungen; der eindeutigste war, dass das junge Mädchen keinerlei Anstalten machte, ihm etwas zu verheimlichen, sondern ihm unausgesetzt davon erzählte. So sagte sie zum Beispiel:
»Ach, Nikolaj, wissen Sie, wer eben aus Moskau angekommen ist? Der älteste Sohn von Machlakow, ich glaube, ich bin in ihn verliebt. Er ist einfach unwiderstehlich …«
Und hunderte ähnliche Äußerungen, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Am Tag nach dem Abend, als Nikolaj sie zu der Verabredung mit einem anderen hatte begleiten dürfen, erzählte Ariane ihrer Freundin die Geschichte, glucksend vor Lachen. Obwohl einiges Launische von ihrer Freundin gewohnt, konnte die sich doch nicht verkneifen, zu sagen:
»Ariane, du bist ganz schön boshaft.«
Ariane hörte auf zu lachen und antwortete ernst:
»Ja und! Das kann schon boshaft sein. Aber warum zum Teufel sollte ich nicht boshaft sein, wenn es mir Spaß macht?«
Die dicke Blonde war verdutzt.
Ariane sprach weiter:
»Willst du, dass ich dir etwas sage, worauf du nie von selbst kommst? Nikolaj liebt mich genau, weil ich boshaft bin. Und dich mit deiner ganzen Treuherzigkeit wird er nie lieben.«
Bei diesem Gedanken begann sie im Zimmer zu tanzen, denn sie war ja zugleich noch recht kindlich, mit Anfällen von verrückter Fröhlichkeit, streckte den Leuten auf der Straße die Zunge heraus, spielte ihren Mitschülerinnen Streiche und verstand es wie keine andere, die Lehrer zu ärgern, ohne sich freilich je dabei erwischen zu lassen.
Das Erstaunlichste daran war, dass Ariane Recht hatte. Nikolaj Iwanow, das verwöhnte Einzelkind aus reicher Familie, dessen Launen nie an Hindernisse gestoßen waren, dem nie jemand etwas abgeschlagen hatte, der immer nur leichte Abenteuer mit bereitwilligen Frauen gehabt hatte, hatte dieses zartgliedrige junge Mädchen anfangs fassungslos angestarrt, wie etwas vollkommen Unwirkliches. Er hatte ihr sofort gehorcht, aus dem einfachen Grund, dass er in sich keine Widerstandskraft verspürte, der rätselhaften Macht, die von Ariane ausging, etwas entgegenzusetzen. Während seiner langen einsamen Stunden hatte er diese sonderbare Frage im Kopf hin und her gewälzt: Wie konnte er die Knechtschaft, zu der Ariane ihn verurteilte, hinnehmen? Und warum ging sie überhaupt so mit ihm um? Plötzlich war ihm die Antwort gekommen: Sie erlegt mir solche Prüfungen nur auf, um sich meiner Liebe ganz sicher zu sein. Und dass sie die Experimente immer weiter steigert, zeigt nur, dass ich ihr nicht gleichgültig bin. Wenn sie mich nicht liebte, ließe sie mich in Frieden. Dass sie mich quält, bedeutet, dass sie mich liebt. Was für ein wunderbares Mädchen.
So kam es, dass er, je mehr Ariane ihn leiden ließ, ihr immer dankbarer wurde, sein Herz immer mehr an sie hängte. Es kam an einen Punkt, wo er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, den Launen des jungen Mädchens nicht zu gehorchen. Und je härter die auferlegte Prüfung war, desto freudiger war er darin, hart gegen sich zu sein und so die Liebe dieses auf der ganzen Welt einzigartigen Mädchens zu verdienen. Am Tag, nachdem er sie zum Stelldichein mit einem Rivalen begleitet hatte, fiel er vor ihr auf die Knie:
»Ariane, ich danke Ihnen, Sie haben mir den größten Liebesbeweis erbracht, den ein Mann verlangen kann. Sie sollen gesegnet sein …«
Die ganze Antwort des Mädchens war ein Schulterzucken und eine Pirouette.
Sie spielte ein anderes, schlimmeres Spiel mit ihm.
Manchmal erlaubte sie ihm, zum Abendtee mit auf ihr Zimmer zu kommen. Sie redeten lang, und Nikolaj fand seine Sprache wieder, manchmal sogar mit einer gewissen Beredsamkeit. Sie hieß ihn neben ihr auf dem Sofa Platz nehmen und warf ihm lebhafte oder zärtliche Blicke zu. Der dicke Junge legte dann bald seinen Arm um ihre schlanke Taille, die von keinerlei Korsett gehalten wurde, rückte ein wenig näher an das Mädchen heran, und dann berührten seine Lippen Arianes nackten, runden, festen Arm und verschlangen ihn in Küssen.
Halb auf dem Sofa liegend, schien sie es gar nicht zu merken; sie war wie geistesabwesend in dieser leidenschaftlichen Szene.
»Liebst du mich?« Nikolaj wagte die Frage mit einem Seufzen.
»Nitschewo«, sagte das Mädchen auf seine unnachahmliche Weise.
Schließlich hielt Nikolaj es nicht mehr aus und versuchte einen entscheidenden Vorstoß. Da entglitt ihm Ariane zwischen den Fingern.
»Es ist hier zu warm für Sie. Das tut Ihnen nicht gut. Lassen Sie uns frische Luft schnappen, Nikolaj.«
Und um ihm keine Wahl zu lassen, ging sie ins Esszimmer, wo Olga Dimitriewna mit ein paar Freunden des Hauses beim Tee saß.
Nikolaj fegte davon wie ein Schneesturm, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden, sprang in seinen Wagen und gab den Befehl, in vollem Tempo zehn Werst auf der Landstraße zu fahren. Trotz des eisigen Winterabends knöpfte er seinen Pelzmantel nicht zu, und der Kutscher auf seinem Bock hörte den Baron unverständliche Dinge in die Nacht brüllen.
»Der Teufel soll sie holen!«, hörte er mit Entsetzen. »Ich bringe sie um! Schneller, schneller! Tochter einer Hündin! Ich liebe dich!«
Heute aber war – zum ersten Mal in diesem Jahr – die Luft so lau wie an einem Sommerabend. Der Wagen fuhr schnell, und das junge Mädchen, in einer Ecke zusammengerollt unter einem großen schwarzseidenen Mantel, der ihr weißes Kleid bedeckte, war wie erstarrt und fühlte nicht den Druck von Nikolajs Arm, der um ihre Taille lag. Im Westen leuchtete eine zarte Mondsichel. Als die Straße durch einen Akazienhain führte, war Ariane für einen kurzen Augenblick vom durchdringenden Duft der blühenden Dolden eingehüllt. Danach kam der zartere Duft der Wiesen auf beiden Seiten der Straße, wo das Gras hoch stand. Die sanfte Luft, die klare Dunkelheit des golddurchwirkten Abendhimmels und die Stille der Natur wirkten wie Balsam auf die gereizten Nerven des Mädchens. Sie vergaß ihren Gefährten, sie dachte an gar nichts, sie genoss, ohne ein Wort zu sagen, die Ruhe dieses schönen Abends.
Nikolaj schwieg lange. Schließlich wagte er ein paar Sätze. Da er keine Antwort bekam, wurde er mutiger und deutlicher. Er sagte zu Ariane, seit heute sei sie frei, nachdem sie das Gymnasium glanzvoll beendet und damit eine Lebensphase abgeschlossen habe. Nichts stehe nunmehr den Plänen im Weg, die man seit anderthalb Jahren hege, es bleibe nur noch, den Termin für ihre bevorstehende Hochzeit festzulegen. Und, was sie nach der Hochzeit tun wolle: ins Ausland reisen, auf ihrem Gut bleiben, auf die Krim fahren? Er erwarte ihre Entscheidung.
Das junge Mädchen blieb geistesabwesend. Nikolaj wurde unruhig:
»So antworten Sie doch, ich flehe Sie an«, sagte er voller Angst in der Stimme.
Sie wandte sich zu ihm, sah ihm in die Augen und sagte:
»Nikolaj, quälen Sie mich nicht. Ich Unglückliche … In ein paar Tagen sage ich Ihnen mehr. Jetzt müssen wir umkehren.«
Der dicke Junge war verstört. In diesem Ton hatte Ariane noch nie zu ihm gesprochen. Noch nie hatte sie so viel von sich preisgegeben wie in diesen drei Sätzen. Dumpf empfand er, dass sich hier etwas Tragisches zusammenbraute, das er nicht zu fassen bekam. Was ging hier vor? Ariane, eine Königin, der die Welt zu Füßen lag, fand sich unglücklich. Sie erbat sein Mitleid. Das überforderte seinen Verstand. Ihm wurde schwindlig davon. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen und er brach weinend zusammen.
Die Hand des Mädchens legte sich auf seine fiebrig glühende Hand. So fuhren sie zurück, ohne ein Wort zu sprechen.
An der Tür sagte sie mit derselben sanften Stimme:
»Auf Wiedersehen. In ein paar Tagen melde ich mich bei Ihnen.«