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Der Brief
Als Ariane in ihr Zimmer kam, sah sie den Brief ihres Vaters mitten auf dem Tisch liegen und erkannte seine akkurate Handschrift. Ein eingeschriebener Brief. Sie zuckte mit den Schultern.
Bevor sie den Brief las, entkleidete sie sich vollständig und warf das braune Uniformkleid über einen Stuhl. Sie löste ihr dichtes kastanienbraunes Haar, zog einen leichten Morgenmantel über, nahm den Brief und legte sich barfuß aufs Sofa.
Der Brief begann so:
»Meine liebe Tochter, in Beantwortung Deines Schreibens vom 10. des Monats« – bei dieser Wendung aus der Geschäftskorrespondenz verzog sie ihr rosiges Gesicht – »setze ich Dich über meine Pläne in Kenntnis. Es ist mir nicht recht, dass Du auf die Universität gehst. Wir haben in Russland schon genug heruntergekommene Frauen. Du bist intelligent, Du sollst Deine Intelligenz in Ehe und Haushalt einsetzen und Deine Kinder großziehen. Ich hoffe sehr, dass Du bald heiratest. Unser Freund Pjotr Borissowitsch, der Dir gewiss noch im Gedächtnis ist, hat die besten Erinnerungen an Dich, und sein lebhaftester Wunsch ist, Dich zu heiraten. Wie Du weißt, ist er ein ernsthafter junger Mann, der Dir ein äußerst angenehmes Leben bieten kann. Außerdem hat er eine erstklassige kaufmännische Anstellung, und ich kann für ihn garantieren wie für mich selbst. Ich fahre nun für einen Monat in den Kaukasus zu einer Badekur. Ich gehe davon aus, Dich danach im September in Sankt Petersburg zu sehen. Wir werden den Herbst in Pawlowsk verbringen, wo Pjotr Borissowitsch ein hübsches Landhaus hat …«
Vier Seiten lang ging es in diesem Ton weiter.
Sie konnte nicht weiterlesen. Sie zerknüllte den Brief.
»Wie widerlich!«, entfuhr es ihr.
Sie warf den Brief in die Zimmerecke.
Dann schloss sie die Augen und träumte kurz vor sich hin. Sie sah sich wieder als das achtjährige Kind bei ihrem Paten, dem Fürsten Wiaminski, auf dem Schoß sitzen. Was für ein komischer Kauz! Wie gern er sie hatte! Er schien nur für sie zu leben! Wenn sie ihn besuchte, gab er ihr abwechselnd schöne nagelneue Goldmünzen und köstliche Schokoladenbonbons. Die Bonbons aß sie immer gleich, die Münzen versteckte sie in ihrer Schulmappe, denn ihre Mutter hätte nie erlaubt, dass sie sie annimmt. So trug sie sie bei sich, und wenn sie in die Schule ging, klimperten bei jedem Schritt, obwohl in Seidenpapier eingewickelt, zwanzig oder dreißig Münzen. Dieser Pate, das hatte sie schon damals erfahren, hatte sie adoptieren wollen. Er wollte sie nach seinen Vorstellungen erziehen und immer um sich haben … Er hatte sehr blasse, kalte Hände; es schauderte sie, wenn er sie am Arm oder an der Wange streichelte … Alles verschwamm vor ihr.
In dem ruhigen Zimmer hellte sich der Vorhang vor dem Fenster auf und wurde in den Strahlen der sinkenden Sonne ganz golden.
Sie träumte noch … Der Fürst war bei ihr. Sie schlief, aber sie sah ihn durch die geschlossenen Lider. Er blickte sie so durchdringend an, dass es ihr den Atem nahm. Und dann fühlte sie – wie konnte das denn sein? – die kalte Hand des Paten auf ihrem Bein.
Sie öffnete die Augen und sah Wladimir Iwanowitsch neben sich auf dem Sofa sitzen. Er hatte eine Hand auf ihren nackten Knöchel gelegt und sah das Mädchen regungslos an. Als er merkte, dass sie aufgewacht war, beugte er sich zu ihr herab:
»Verzeihen Sie mir, Ariane Nikolajewna, verzeihen Sie … Ich hatte an die Tür geklopft, und als keine Antwort kam, bin ich hereingekommen … Ich bin noch nicht lange hier …«
Sie ließ ihn nicht ausreden.
»Sie haben kalte Hände«, sagte sie, »wie mein Pate. Schrecklich! Lassen Sie sofort meinen Fuß los …«
Beim Reden schloss sie den halb offenen Morgenmantel und ließ dabei Wladimir Iwanowitsch nicht aus den Augen. Ihr Ton hatte keinen Widerspruch zugelassen, und der Doktor zog seine Hand zurück.
»Und nun stehen Sie auf, sofort.«
In der Stimme dieses zarten jungen Mädchens lag ein so klarer Ton, dass Wladimir Iwanowitsch gehorchte und aufstand.
Ohne jede Eile richtete Ariane sich auf, erhob sich vom Sofa, schlüpfte in ihre Pantoffeln, ging zur Tür, öffnete sie und sagte mit ruhiger, fester Stimme:
»Und jetzt gehen Sie! Glauben Sie mir, es ist besser so … Ich wusste nicht, dass Sie meinetwegen ins Haus gekommen waren.«
Der Doktor nahm ihre Hand in die seine, zog sie zu sich und sagte halblaut, sein Gesicht ganz nah an ihrem:
»Halten Sie von mir, was Sie wollen … Es ist einfach so, dass ich nicht leben kann, ohne Sie zu sehen … Ich muss mit Ihnen sprechen … Kommen Sie mich doch nächstens einmal besuchen.«
»Dann laden Sie Ihre Tochter dazu ein, die ist in meinem Alter«, sagte Ariane trotzig.
Wladimir Iwanowitsch war verdutzt, fasste sich aber gleich wieder:
»Um sieben bin ich immer allein im Sprechzimmer in meiner Praxis … Ich erwarte Sie.«
»Ach, Sie sind wirklich Arzt … So wie die Dinge gerade laufen, könnte das von Nutzen sein. Bei Bedarf werde ich an Sie denken, Wladimir Iwanowitsch.«
Er wich zurück; seine Augen funkelten, aber er ging ohne eine Antwort.
Kurz darauf, als sie sich ankleidete, klopfte es dreimal leise, die Tür ging auf und Olga Dimitriewna trat ein.
Sie hatte jahrelang bei Warwara Petrowna gewohnt, und seit sie bei der Stadtverwaltung arbeitete, hatte sie um der Unabhängigkeit willen ein kleines Nachtquartier gemietet. Doch sie kam jeden Tag zu Warwara Petrowna, speiste mit ihr und verbrachte den Abend mit Ariane Nikolajewna. Sie mochte sie sehr. Wieweit das auf Gegenseitigkeit beruhte, ist nicht klar. Jedenfalls steckten die beiden jungen Mädchen fast immer zusammen und tauschten stets Vertrauliches aus, obwohl Olga fünf Jahre älter war als ihre Freundin. Erwähnenswert ist Arianes Eigenart, dass sie sich aus irgendeiner inneren Selbstsicherheit heraus auch über Persönlichstes gern auf Gleich und Gleich mit Leuten austauschte, die älter waren als sie. Ein besonderes Beispiel dafür war ja bereits der Umgang mit ihrer Tante. Olga hatte keine Geheimnisse vor Ariane. Und dieses blonde, mitteilsame Mädchen war sich auch sicher, dass sie alles über ihre Freundin wusste. Doch wenn ein Beobachter mit kühlem Kopf bei den lebhaften Gesprächen der beiden jungen Mädchen zugegen gewesen wäre, so wäre ihm vielleicht aufgefallen, wie eigenartig Ariane ihre Vertraute gelegentlich ansah, und er hätte nach einer Erklärung dafür gesucht. Das enge Band zwischen Ariane und Olga war für Letztere von einigem Nutzen. Obwohl noch sehr jung, hatte Ariane einen Kreis von Anbetern um sich geschart, die ihr den leisesten Wunsch von den Lippen ablasen, und sonderbar waren die Wünsche, die ihr so durch den Kopf schossen. Picknicks, Abendessen, Schlittenpartien oder Tanzabende – Olga ging mit auf all diese Vergnügungen, und es war unmöglich, Ariane ohne ihre Freundin einzuladen. Sie spielte die wenig rühmliche Rolle der Anstandsdame, aber es gelang ihr, daraus Vorteile zu ziehen, wie sie zurückhaltenden Menschen sonst kaum zugänglich sind.
Kaum war sie im Zimmer, blickte sie Ariane an und sagte in einer Mischung aus Verdruss und Bewunderung:
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Du hast zu Abend gegessen, du hast Champagner getrunken, du hast Gott weiß was getan, du hast dich gerade mal zwei Stunden ausgeruht, du hast eine Prüfung abgelegt – und du bist frisch und munter, als hättest du die ganze Nacht geschlafen.«
»Und Ärger habe ich außerdem«, brummte Ariane, »endlich habe ich die Antwort von meinem Vater. Zwischen uns ist es aus. Hier, lies seinen Brief.«
Sie hielt ihr das zerknüllte Papier hin, Olga las aufmerksam.
Als Olga zu Ende gelesen hatte, blickte sie zu ihrer Freundin hinüber, die vor einem Toilettentisch saß und sich das Haar richtete, und sagte:
»Na?«
»Na ja«, erwiderte Ariane, »ich werde ohne ihn zurechtkommen. In einer Stadt wie unserer ist es nicht schwer, Geld zu finden …«
Olga Dimitriewna bestürmte sie. Sie war sehr aufgeregt.
»Ich weiß, an wen du denkst«, sagte sie, »aber das geht gar nicht … Schwör mir, dass du es nicht tust … Schon der Gedanke daran ist mir unerträglich! Es wäre dein Untergang!«
Sie beugte sich über ihre Freundin, nahm sie in den Arm und drückte sie, sie hatte Tränen in den Augen.
»Frag deine Tante, frag Nikolaj, frag den Teufel – aber nicht den, an den du denkst … Versprich es mir.«
Ariane schob sie sanft weg:
»Lass mich erstmal mein Haar richten, das ist das einzig Wichtige. Was reitet dich, aus allem ein Drama zu machen! Und jetzt weinst du auch noch! Geht es um dich oder um mich? Wer muss das aushalten, du oder ich? Du weißt genau, dass man mit meiner Tante nicht über Geld reden kann. So ist sie, das lässt sich nicht ändern … Wir mögen uns sehr, und wegen einer armseligen Geldangelegenheit will ich nicht verderben, was es zwischen uns an Köstlichem gibt. Nein, lass mich das so hinbiegen, wie es mir passt.«
Sie stand auf und lehnte sich liebevoll gegen Olgas Schulter, die sich die Tränen trocknete:
»Sei nicht dumm, du Armes! Stifte in der Kirche eine Kerze für mich und mach dir weiter keine Sorgen. So leicht, wie du denkst, gehe ich nicht unter. Weißt du noch, was im Mittelalter die Feuerprobe war? Man musste durch ein loderndes Feuer gehen, ohne sich zu verbrennen. Verlass dich drauf, ich werde durchkommen, und die Flammen können mir nichts anhaben …«
Sie ging im Zimmer auf und ab, ansonsten herrschte Grabesstille. Plötzlich blieb sie vor Olga Dimitriewna stehen und sagte mit vergnügter Miene:
»Weißt du, wer eben hier war, meine Liebe? Wladimir Iwanowitsch!«
Und, als Olga eine ungläubige Gebärde machte, erzählte sie ihr die Überraschung beim Erwachen und den Auftritt, der darauf gefolgt war, wobei sie ein paar theatralische und prickelnde Einzelheiten dreinmischte, die eher auf das Konto ihrer Fantasie als ihrer Wahrheitstreue gingen.
Olga hörte ihr aufmerksam und begeistert zu, und als die Schilderung zu Ende war, seufzte sie und sagte:
»Wie attraktiv er ist! Er, hier hat er gesessen! Ach! Ich hätte ihn nicht von der Bettkante stoßen können …«
Sie redeten noch lange über dieses unerschöpfliche Thema. Pascha unterbrach sie mit der Ankündigung, dass das Abendessen auf dem Tisch stehe.
Bevor die Mahlzeit zu Ende war, stand Ariane auf und entschuldigte sich bei ihrer Tante:
»Nikolaj wartet unten auf mich.«
Und zu Olga gewandt:
»Um neun bin ich wieder da, und dann gehen wir beide in den Alexanderpark.«