Читать книгу SeelenTattoo - Claudia Feltkamp - Страница 10

Оглавление

4

Die nächsten Tage verliefen harmonisch bei uns. Eines morgens hörte ich einen gut gelaunten und pfeifenden Mika auf dem Flur Musik anmachen.

»Guten Morgen hübsche Mira.«

»Morgen«, sagte ich kurz angebunden, denn ich war mir nicht sicher, wie ich seine gute Laune einschätzen sollte.

»Na? Weißt du wer das singt?«, fragte er voller Vorfreude.

»Ist das etwa Christina Perri?«, stellte ich überrascht fest.

»Ja, ich fand letzte Nacht das Album und habe es nur für dich heruntergeladen.«

Vielleicht freute er sich deshalb so, weil er mich jetzt damit überrascht und mir eine Freude bereitet hatte, denn er wusste, wie sehr ich mir ein Album von ihr gewünscht hatte.

»Super! Danke, das ist wirklich sehr nett von dir gewesen.«

»Tja, so bin ich eben«, meinte er und stellte die Musik noch ein wenig lauter.

Damit hatte er mich wirklich positiv überrascht. Womit hatte ich das nur verdient?

»Können wir bitte heute Morgen nach El Paso fahren? Ich habe etwas zu erledigen.«

»Gut, von mir aus«, sagte ich und lauschte der schönen Musik.

Ich bereitete mir meinen Tee zu und setzte mich an den Küchentisch. Mika ging mit seinen Klamotten ins Bad und brauchte erstaunlich viel Zeit dort.

Als er wieder herauskam, verschwand ich im Bad und Mika wartete ungeduldig auf mich.

»Dein Handy klingelt«, rief er.

Ich öffnete schnell die Badezimmertür, doch da stand Mika schon und reichte mir das Handy.

»Ja?«, sagte ich und wenig später: »Okay, ich kann in 10 Minuten bei dir sein.«

»Lass mich raten? Du sollst in den Laden kommen?«

»Ja, es ist ganz viel Ware angekommen. Dann müsstest du dich ca. zwei Stunden in El Paso beschäftigen, oder alleine wieder zurückkommen.«

»Nein, ich gehe doch nicht den ganzen Weg zu Fuß. Ich nehme meinen Laptop mit und gehe so lange in die Bibliothek.«

»Okay, dann treffen wir uns später und fahren zusammen wieder zurück.«

Während Mika seinen Laptop holte, zog ich mir schon meine Schuhe an. Kurz darauf fuhren wir nach El Paso.

»Du kannst mich schon da vorne an der Ampel rauslassen.«

Wir hatten Glück und die Ampel leuchtete rot. Ich hielt an und er stieg aus dem Wagen. Schließlich gab ich Gas und parkte in der Nähe des Naturkostladens. Ich begann die Ware auszupacken, auszuzeichnen und einzuräumen. Nach zwei Stunden und zwanzig Minuten schrieb ich Mika schnell eine SMS, dass ich nun fertig sei. Ich plauderte noch kurz mit meiner Chefin, bis ich Mika sah und verabschiedete mich dann. Gemeinsam gingen wir zu meinem Wagen.

»Hat alles geklappt?«, wollte ich wissen.

»Was meinst du?«, fragte Mika erstaunt.

»Du wolltest doch etwas erledigen.«

»Ach so, ja hat alles bestens geklappt.«

Mika war immer noch sehr gut gelaunt.

»Ich habe einen netten Film gefunden, der wird dir gefallen.«

»Welchen denn«, wollte ich wissen.

»Das wirst du heute Abend sehen.«

Plötzlich klingelte sein Handy.

»Susan«, sagte er belustigt und ein wenig später: »Oh, super. Wir werden da sein.«

Er steckte sein Handy wieder weg.

»Wir sind heute Mittag zum Essen eingeladen.«

»Ich hoffe, es gibt nicht nur Fleisch.«

»Nun sei doch nicht gleich wieder so Mira. Nein, es gibt selbstgemachte Spätzle.«

»Du weißt doch, dass ich eigentlich keine Weizenmehlprodukte esse, aber gut, ich werde ein wenig essen.«

»Du solltest dich über die Einladung freuen und dankbar sein.«

»Ist ja schon gut. Wann sollen wir da sein?«

»Um 14:00 Uhr. Also, lass uns fahren.«

Wir rasten nach Hause, um unsere Sachen wegzubringen und begaben uns kurz darauf wieder auf den Weg. Wenig später kamen wir bei Susan an und es waren auch schon einige Leute dort, die hauptsächlich Mika kannte.

»Hey Mika«, wurde er von einem schlaksigen Mann begrüßt, »erst einmal ein Bier?«

»Na klar«, entgegnete Mika und schon hatte er das Bier geöffnet und stieß mit dem jungen Mann an.

Während ich mich mit der Tochter von Susan unterhielt konnte ich beobachten, wie Mika in nur 10 Minuten sein erstes Bier austrank. Er stand auf und holte sich ein zweites Bier, welches er auch in weniger als einer halben Stunde leerte. Ich fand, dass das ganz schön viel Bier in einer so kurzen Zeit war, was mich etwas beunruhigte. Das Essen wurde aufgetragen und Mika holte sich ein drittes Bier. Alle aßen und schwatzten und dann brachte der Mann für sich und Mika ein weiteres Bier mit. Sie prosteten sich zu und lachten. Als Mika mit seiner leeren Bierflasche erneut aufstand, hielt ich ihn am Unterarm fest: »Wir sollten bald fahren.«

»Okay, nur noch ein Bier, dann kann es losgehen.«

Er verschwand in der Küche und der Partner von Susan setzte sich neben mich.

»Ich habe dich beobachtet«, begann Kalle das Gespräch mit mir, »du wunderst dich, wie Mika in so kurzer Zeit so viel Bier trinken kann, richtig?«

»Ja.«

»Weißt du nicht, dass er Quartalstrinker ist?«

»Bitte was?«

»Quartalstrinker. Er trinkt wochenlang gar nichts und dann wieder eine Zeitlang sehr viel.«

»Woher weißt du das?«

»Als er im Sommer auf die Insel kam hat er bei uns gewohnt und da ich trockener Alkoholiker bin, habe ich es schnell gemerkt.«

»Er sagt, dass er ein Suchtmensch ist, der immer irgendeine Droge braucht.«

Kalle lachte und blickte zu Mika, der mit seinem Bier zurück an den Tisch kam. Dann beugte er sich zu mir und flüsterte: »Das behaupten sie doch alle.«

Dann erhob er sich und ging in das Haus hinein. Ich blickte zu Mika, der sein Bier trank und sehr fröhlich aussah. Stimmte das, was Kalle eben über ihn gesagt hatte?

Schließlich war seine Bierflasche abermals leer, so dass wir Abschied nahmen und uns auf den Heimweg machten.

»Du hast ganz schön viel Bier in nur zwei Stunden getrunken.«

»Nur weil es Bier umsonst gab und der Typ so viel uninteressantes Zeug gelabert hat. Sonst trinke ich keine 4 Bier in nur zwei Stunden.«

»Es waren 5 Bier«, korrigierte ich ihn.

»Hast du mitgezählt? Du bist ja echt krank.«

»Das erste Bier hast du in nur 10 Minuten getrunken und es hat mich eben gewundert, wie schnell das ging.«

»Ist doch egal, ob es nun 4 oder 5 Bier waren. Ich bin nicht betrunken und alles ist gut.«

»War ja nur eine Feststellung.«

Wir kamen zu Hause an und Mika ging als erstes ins Bad. Danach kam er zu mir in die Küche und holte etwas aus dem Kühlschrank.

»Hier, habe ich dir heute Morgen mitgebracht.«

Mika legte eine Papiertüte vor mich auf den Küchentisch.

»Was ist das?«

»Mach es doch auf, dann weißt du es«, er schien vor Vorfreude fast zu platzen.

Ich öffnete die Tüte und holte einen Donut mit Schokoladenglasur heraus.

»Oh, wie lecker. Der ist von …«, Mika ließ mich nicht ausreden.

»Ja ganz richtig. Ich weiß doch, wie gerne du genau diese Donuts magst.«

»Danke, hast du auch einen für dich geholt?«

»Nein, mir habe ich etwas anderes gekauft.«

»Okay, dann lass uns diese Köstlichkeit genießen. Ich mache nur noch schnell einen Tee.«

Es war durchaus nicht das erste Mal, dass er mir einen Donut meiner Lieblingssorte gekauft hatte. Manchmal war er sehr freundlich und bereitete mir eine große Freude. Das mochte ich außerordentlich gerne an ihm.

Nach einer kurzen Weile setzten wir uns beide an den Tisch und begannen zu essen. Dabei unterhielten wir uns über dieses und jenes. Mika war wirklich sehr gut gelaunt und ich sagte anscheinend auch nichts, was ihn verärgerte oder nervte. Somit verbrachten wir nicht nur einen harmonischen Nachmittag, sondern auch einen schönen Abend zusammen, ohne irgendeine Diskussion oder ein Streitgespräch. Wir schauten uns den Film »Harry und Sally« an, den ich noch nie vorher gesehen hatte und der mir gut gefiel.

»Danke, für den Film«, sagte ich deshalb zu ihm.

»Wenn du nicht immer so zickig und launisch wärst, könnte man viel mehr nette Filme mit dir zusammen ansehen.«

»Wenn du nicht immer so viel Alkohol trinken würdest, könnte man auch eine bessere Zeit mit dir haben«, konterte ich schlagfertig. Er schien leicht irritiert.

»Man kann immer eine gute Zeit mit mir haben und ich will ja gar nicht aufhören Alkohol zu trinken.«

»Du könntest aber aufhören wenn du es wolltest.«

»Das denke ich nicht.«

»Natürlich.«

»Ich bin Alkoholiker Mira!«, brach es aus ihm heraus.

Ich erschrak förmlich.

»Du bist doch kein Alkoholiker! Du trinkst doch nicht jeden Tag.«

»Mira, ich bin Quartalstrinker.«

»Quartalstrinker?«, wiederholte ich und tat total unwissend.

»Ja, die können Wochen oder Monate lang nichts trinken und dann trinken sie aber auch wiederum wochenlang durch.«

»Oh, das wusste ich nicht. Warum hast du das denn nicht schon früher gesagt? Ich hätte dich vielleicht davon abhalten können Alkohol zu kaufen.«

»Mira, du kannst mich nicht davon abhalten.«

»Nein, ich weiß, du musst es selbst wollen.«

»Ja genau, und ich habe beschlossen, dass ich ab jetzt gar nichts mehr trinken werde.«

»Wow! Das ist super! Das freut mich.«

Ich umarmte ihn stürmisch. Er befreite sich aus meiner Umarmung.

»Na ja, wir werden sehen.«

»Ich unterstütze dich wann immer ich es kann«, versicherte ich ihm.

»Mira, du kannst keinem Menschen helfen und ihn verändern.«

»Nein, jeder muss sich selbst verändern. Das weiß ich doch, aber andere können einem dabei hilfreich zur Seite stehen. Glaubst du das denn nicht?«

»Ich weiß nicht, ob so etwas funktionieren kann.«

»Tja, warten wir es ab.«

Und so war es dann auch. Als er am nächsten Tag im Supermarkt noch kurz durch die Getränkeabteilung schlendern wollte, nahm ich ihn an den Arm und lenkte ihn woanders hin. Ob es nun seine Willenskraft war oder auch ein wenig an mir lag, wusste ich nicht genau. Es war allerdings auch ganz egal. Hauptsache er trank keinen Alkohol mehr.

»Ich bin stolz auf dich«, merkte ich am darauffolgenden Abend beim Essen an und strahlte über das ganze Gesicht.

Mika wusste wohl nicht genau, wie er mit solchen Äußerungen von mir umgehen sollte, denn er blickte mich nur verwundert an und schwieg.

»Ich kann nur hoffen und wünsche dir, dass du auch weiterhin stark bleibst und keinen Alkohol trinken wirst.«

»Wir werden sehen«, war seine knappe Antwort, während er sich eine Zigarette drehte. Ich stand auf, räumte ab und ging in mein Zimmer.

»Gute Nacht«, meinte Mika und nahm einen Zug von seiner Zigarette.

»Gute Nacht.«

Mist! Wieder verpennt. Aufstehen. Saubere Jeans und Shirt anziehen. Zigarette drehen und los. Beeilung, die Bahn kommt gleich. Jetzt sehe ich aus wie alle anderen. Hetze durch die Straßen von Berlin. Mit einem mies gelaunten Gesicht. Montagmorgen eben. Und dazu auch noch Nieselregen. Typisch! Habe natürlich keinen Regenschirm. Werde halt nass. Trocknet ja wieder.

Anders will ich sein. Geht aber nicht. Muss mitmachen. Arbeite wie alle anderen auch. Immer arbeiten und Geld verdienen. Rechnungen bezahlen. Ach, die Rechnungen. Muss mich unbedingt drum kümmern. Das nervt alles. Ganz schön viel Stress. Muss unbedingt zum Arbeitsamt. Vielleicht bekomme ich morgen früh eine Stunde vom Chef frei. Kann ja etwas später in der Firma erscheinen. Lach! Tue ich ja eh schon öfter.

Die S-Bahn ist schon eingetroffen. Jetzt schnell. Rennen. Ist das anstrengend. Mir fehlt die Luft. Tür aufhalten und rein zwängen. Geschafft. Na gut, bleibe ich eben gleich hier stehen. Umfallen kann ich eh nicht. Hinausfallen wohl auch nicht. Wird ja gesichert sein. Gehen doch nie Türen während der Fahrt auf. Oder?

Hey, Mr. Coca Cola Light. Ja komm, dränge dich an mir vorbei. Schmeckt es immer noch? Ja, dann ist es gut. Jeder hat so seine Rituale. Braucht man wohl auch. Gewohnheiten müssen nicht schlecht sein. Geben vielleicht auch ein wenig Sicherheit. Man fühlt sich gut dabei.

Oh, es wird leerer. Zum Glück. Hallo Mr. Apple. Heute einen roten Apfel dabei. Schön. Guten Appetit. Oh, da wird ein Platz frei. Schnell hinsetzen. Stehe schon lange genug.

Hallo Mrs. Liptstick. Wenigstens du hast an einen Regenschirm gedacht. Wäre sonst auch schade um die schönen Haare. Siehst gut aus heute. Mal mit Pumps unterwegs. Geht doch. Läuft sich gleich viel besser drin, he? Ja, ja, schnell noch die Lippen nachgemalt. Wunderbar. Stopp, warte! Was ist denn da passiert? Wieso sind deine Lippen so dick? Nein, haste die etwa aufspritzen lassen? Echt jetzt? Wieso tut ihr Frauen das? Und was soll dieser rote Strich um die Lippen? Ist das etwa permanent Make-up oder wie das heißt? Wieso denn bloß? Ist natürlich nicht mehr schön genug? Kommt das aus der Werbung? Den dürren Models? Oder der sogenannten Stars? Ich verstehe das nicht. Ja, jetzt wieder den Spiegel eingesteckt. Bist du nun endlich glücklich damit?

So, Bundesplatz. Endlich aussteigen. Jetzt schnell zur Firma. Jan wird wieder etwas sagen. Der kann es nicht lassen. Warum geht die Tür wieder so schwer auf? Oh nein, der Fahrstuhl ist in der 4. Etage. Jetzt muss ich warten. Treppen steigen. Kommt nicht in Frage. Musste schon zur Bahn laufen. Bin ein alter Mann. Na ja, zumindest was das betrifft.

»Hallo Timo.«

Jan. Das war ja klar. Warum kann der mich nicht in Ruhe lassen? Vielleicht braucht er das für sein Ego. Na, hast du ein Problem mit deinem Ego?

»Wieder verschlafen?«

»Die S-Bahn hatte Verspätung.«

»Deshalb fahre ich mit dem Auto.«

»Ich habe gar kein Auto.«

»Ich könnte gar nicht ohne Auto sein. Das ist unvorstellbar.«

»Viel zu viel Verkehr.«

»Es geht. Ich kann die Umgehungsstraße benutzen. Da kann ich sowieso schneller fahren.«

»Das ist ja schön.«

»Ja, habe mir zudem gerade gestern am Tag der offenen Tür bei Mercedes einen neuen Wagen angesehen. Der gefällt mir wirklich noch besser, als mein jetziges Model. Der hat auch mehr PS und sieht sportlicher aus. Passt genau zu meiner Person.«

»Ja, sportlich siehst du aus.«

»Wir sollten mal zusammen Squash spielen gehen. Da kommt man schön ins Schwitzen und kann sich voll austoben. Ist wirklich sehr gut.«

»Nein danke. Ich habe kaputte Knie.«

»In deinem Alter? Ach, ich vergaß, dass du schon einige Jahre älter bist als ich. Jetzt muss ich aber wirklich wieder nach oben. War nett mit dir zu plauschen.«

»Ja, hinreißend.«

Da schaust du dumm drein, he? Zugegeben, war eine spitze Bemerkung von mir. Konnte mich nicht länger zurück halten. Immer dieses oberflächliche Getue. Immer schön freundlich. Lächeln bitte. Nur nicht unangenehm auffallen. Keine unschönen Bemerkungen machen. Immer an der Oberfläche bleiben. Tiefgründig sein ist out. Interessiert doch eh keinen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Ist doch so, oder? Hauptsache einem selbst geht es gut. Jan hat ja auch einen guten Job und viel Geld. Kann sich teure Autos leisten, über die er sich definieren kann. Markenkleidung, damit jeder sieht, dass er Geld hat. Kleider machen Leute. Autos zeigen, wer du bist. Dann hast du es geschafft. Bist erfolgreich. Fährst an, steigst aus. Lederschuhe an den Füßen. Keine kaputten Converse. Aktentasche unterm Arm. Geld regiert die Welt. Wer Geld hat, der hat auch Kontrolle und Macht. Schrecklich ist das. Oberflächlich ist das und ob die wirklich alle glücklich sind?

Erst einmal einen Kaffee holen. Hatte heute Morgen noch keinen. So, mit dem Becher zum Arbeitsplatz. Anfangen. Laptop starten und Mails checken. Super, jede Menge neue Mails. Na dann mal ans Beantworten. Das war die erste Mail, jetzt die zweite Mail. Und schon bin ich bei der 11. Mail. Jetzt aber erst einmal eine rauchen.

Der Fahrstuhl kommt. Wie schön. Türen auf und hinein.

»Hallo Iris.«

»Hallo Timo. Wie geht es dir?«

»Gut und selbst?«

»Es geht so.«

»Hattest du kein schönes Wochenende?«

»Nein, mein Sohn hat sich beim Fußball schwer verletzt. Muss nun 8 Wochen Pause machen.«

»Oh, das tut mir Leid.«

»Ja, mir auch. Ich musste ihn vom Fußballplatz gleich ins Krankenhaus fahren und dort dann noch stundenlang warten. Die Notaufnahme war überfüllt. Du glaubst nicht, was den Leuten alles an einem Wochenende passiert.«

»Ja, davon habe ich auch schon einmal gehört.«

»Nun sitzt er bei mir zu Hause und ist schlecht gelaunt. Hilft doch aber nichts. Muss er halt durch.«

»Ja, da hast du recht.«

»Ich muss zum Schreibwarengeschäft und du?«

»Ich will nur kurz eine Zigarette rauchen.«

»Das ist keine gute Angewohnheit Timo.«

»Schlechte Angewohnheiten wird man umso schwerer wieder los.«

»Da hast du wohl Recht. Es lohnt sich aber meistens. Bis später.«

»Bis dann.«

Tja, gute Angewohnheiten. Schlechte Angewohnheiten. Für wen sind sie gut? Für wen schlecht? Findet man seine Angewohnheiten selbst nicht meistens gut? Sonst würde man sie doch lassen, oder? Natürlich weiß jeder, dass Rauchen ungesund ist. Eigentlich gibt man damit der Tabakindustrie nur einen Haufen Geld. Haben die einen abhängig gemacht? Warum habe ich angefangen zu rauchen? Keine Zeit zum Weiter grübeln. Muss arbeiten. Geld verdienen. So läuft das eben.

»Da bist du ja.«

»Was gibt es Jan?«

»Hier, die drei Auftragsmappen soll ich dir vom Chef geben. Du sollst sie heute noch abarbeiten. Er will das erledigt haben. Es gibt schon wieder neue Anfragen.«

»Gut, wird erledigt.«

»Du solltest weniger Pausen machen und mehr arbeiten, dann schaffst du auch mehr.«

»Kann sein Jan.«

»Es ist so. Mach dich mal schnell an die Arbeit.«

Lass du mich nur in Ruhe. Puh, was der Typ mich ab nervt. Ich gehe ja schon. Mal sehen, was das alles ist. Okay, gut. Alles klar. Das dauert aber seine Zeit. Wird dann wohl wieder spät werden heute. Eigentlich habe ich ja nur einen Teilzeitjob. Überstunden werden eh nicht bezahlt. Doch wenn ich keine mache, bin ich den Job wieder los. Ich mag diesen Job. Und ich brauche ihn. Muss schließlich Miete und Rechnungen zahlen. Die Miete wurde letzten Monat erhöht. Jetzt kostet die Wohnung 20 Euro mehr. Für mich viel Geld. So, weiter machen. Das Erste ist erledigt. Bleiben noch zwei übrig. Gut, für die Homepage brauche ich super Ideen. Okay, alles klar. Geschafft. Wie spät ist es? Schon 15:10 Uhr. Dann bekomme ich noch die S-Bahn. Leider hat das Arbeitsamt schon zu. Mist, muss ich dann morgen machen. Dafür erst einmal zum Chef hoch. Laptop aus. Mappen mit den Flyern mitgenommen und los.

»Hallo Iris, hat der Chef kurz Zeit für mich?«

»Ja, geh ruhig rein.«

Klopf, klopf.

»Ja bitte.«

»Hallo. Ich wollte dir die Mappen bringen.«

»Ah, sehr gut. Vielen Dank. Leg sie dorthin.«

»Ja, da wäre dann noch eine kleine Bitte.«

»Was denn Timo?«

»Ich muss unbedingt zum Arbeitsamt. Die Miete wurde erhöht und ich habe unbezahlte Rechnungen. Das Geld reicht nicht aus. Kann ich morgen eine Stunde später herkommen?«

»Ja, das kannst du machen. Ist kein Problem. Erledige du mal deine Angelegenheiten. Ich kann dir ja leider nicht mehr zahlen. Du weißt ja …«

»Ja, ich verstehe das doch. Bin dankbar, überhaupt hier sein zu können.«

»Gut, dass du das verstehst Timo. Oh, Telefon. Bis morgen dann.«

»Bis morgen und danke.«

Wunderbar. Ging doch ganz einfach. Dann kann ich das morgen auch erledigen. Wird ja auch Zeit. Ist schließlich wichtig. Die S-Bahn habe ich zwar verpasst. Doch die Zeit kann ich für eine Zigarette nutzen. Prima!

So, jetzt aber runter auf den Bahnsteig. Da kommt sie ja schon. Oh, eine neue Bahn. Wie schick. Noch saubere Sitze. Keine Sprüche mit Edding drauf gekritzelt. Riecht noch alles neu. Mal sehen, wie lange noch. Sogar alle Fenster geöffnet. Sitzen auch kaum Leute hier drin. Vor allem Ältere stört ja der Zugwind oft. Ich bin eben noch jung.

Aussteigen und heimgehen. Brauche eigentlich noch ein Feierabendbierchen. Mist! Wo kriege ich jetzt Geld her? Werde mal in allen Hosentaschen nachsehen. Nichts. In allen Jackentaschen. Oh, wer sagt es denn. Gleich 70 Cent gefunden. Wohnungstür aufschließen. Und weiter suchen. Wo könnte ich noch Kleingeld haben? In meiner Tasche vielleicht. Volltreffer! Und auf dem Wohnzimmertisch. Mal zählen. Super, das reicht doch schon. Also, los zum Supermarkt. Kann es kaum erwarten. Da ist es ja. Wartet schon auf mich im Regal. An die Kasse und nichts wie heim. Bierchen in den Kühlschrank und dann schön kühl genießen, herrlich!

Wohlfühlhose an. Auf das Sofa setzen. Bierchen vor mir. Zigarette drehen. Wunderbar! Endlich abschalten. Keiner, der einen nervt und stresst. Entspannen!

In den nächsten drei Tagen unternahmen wir viel zusammen. Fuhren an die Strände, die wir gerne mochten, kochten das Essen, das wir beide gerne aßen, schauten noch weitere nette Filme an und stritten uns nicht. In Los Llanos gingen wir zum Café »Frida« um ein leckeres, selbstgemachtes Eis zu essen. Ich aß Kaktus-, Ziegenmilch-, und Bananeneis mit Petersilie. Sehr köstlich! Mika wählte Eis mit schwarzem Sesam, Marzipan mit Blaumohn und Avocado. Abgesehen von vielen außergewöhnlichen und ständig wechselnden Eissorten, gibt es dort wahrscheinlich auch die einzigen veganen Eissorten auf der gesamten Insel. Dieses Café ist wirklich weiter zu empfehlen.

»Was machen wir Weihnachten?«, fragte Mika mich eines abends beim Essen.

»Ich weiß nicht. Planen wir doch einen schönen Tag zusammen.«

»Wir könnten morgens nach El Pilar fahren, mittags lecker essen und dann habe ich letztens eine neue Serie runter geladen, die wir uns ansehen können.«

»Das hört sich sehr gut an. Wie heißt die Serie denn?«

»Dexter«, antwortet er.

»Noch nie davon gehört.«

»Ich auch nicht, aber was ich darüber gelesen habe, klang sehr interessant.«

»Super, ich bin gespannt.«

Mika ahnte nicht, dass ich Susan gebeten hatte online ein Buch für mich zu bestellen. Da er sehr gerne historische Romane las, hatte ich im Internet ein interessantes Buch gefunden, welches ich ihm zu Weihnachten schenken wollte. Ich hoffte nur, dass es morgen ankommen würde, denn bis Weihnachten waren es nur noch zwei Tage.

Glücklicherweise rief mich Susan gleich am nächsten Vormittag an und teilte mir mit, dass das Buch angekommen war und ich es abholen konnte. Gleich nach der Arbeit fuhr ich bei ihnen vorbei, gab ihr das Geld und steckte den Roman in meine Tasche. Ich war schon auf seine Reaktion über dieses Geschenk gespannt.

Am Morgen des 24. Dezembers fuhren wir hoch nach El Pilar, wo die Vulkanroute beginnt. Eine Stunde lang marschierten wir durch Kiefernwälder, die so gut dufteten, dass man immerzu einen tiefen Atemzug nehmen wollte. Ab 1700 Meter gab es nur noch vereinzelnde Kiefern, dafür mehr Vulkangestein, welches bei jedem Schritt knirschte. Hier und da versanken unsere Füße ein wenig im Lavastaub. Es sah wie immer sehr interessant und wunderschön aus. Ich blickte mehrmals über einige, feine Wolkenschleier und viele Bananenplantagen bis auf den endlos scheinenden Ozean hinab. El Pilar war mein Lieblingsort, denn hier war es so friedlich und still. Die Luft roch frisch und meistens war es kühler als unten am Meer. Wenn man abseits der Wanderwege ging, war man ganz alleine hier oben und ich empfand es als himmlisch.Vor allem wenn die Wolken wie Wellen über die Bergketten schwebten und man von oben auf sie hinab blickte. Dieses Naturschauspiel nannten die Einheimischen »cascada«, was »Wasserfall« hieß, da die Wolken wie ein Wasserfall über die Bergkuppen hinab glitten.

»Wo wirst du eigentlich wohnen, jetzt wo deine Oma gestorben ist?«, riss Mika mich aus meinen Gedanken.

»Ich werde nach Berlin fahren.«

»Was willst du denn in Berlin?«, wollte Mika wissen als wir uns für den Abstieg aufmachten.

»Arbeiten.«

»Das kann aber dauern, bis du einen Job dort gefunden hast.«

»Nein.«

»Wieso das denn nicht?«

»Ich habe mich per Mail bei einer Zeitarbeitsfirma beworben. Die suchen immer Leute und haben mich gleich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn ich angekommen bin.«

Mika sah mich überrascht an.

»Das ist doch gut. Und eine Wohnung hast du auch schon?«

»Ja, von einer Studentin, die ein Jahr ins Ausland geht. Mittlerweile kann man eben ganz viel über das Internet erreichen.«

»Ich weiß das.«

»Die Wohnung liegt in Schöneberg. Ist klein und nicht so teuer. Das passt wunderbar.«

»Das freut mich für dich«, meinte Mika und lächelte.

»Ja, mich auch.«

Nach einer weiteren dreiviertel Stunde kamen wir wieder zum Auto und fuhren die kurvenreiche Straße nach Hause zurück. Dort angekommen bereitete Mika uns ein leckeres Essen zu. Da wir für den nächsten Rastro keine Äpfel mehr finden konnten, hatten wir gestern jede Menge Mandeln und Esskastanien gesammelt, die man auf der Insel an einigen Stellen massenhaft finden konnte. Mika wollte für Sonntag gebrannte Mandeln zubereiten, die wir auf dem Flohmarkt verkaufen wollten. Auch Esskastanien wurden sehr gerne gekauft. Doch nun zauberte er uns erst einmal ein Essen mit Maronen und Kartoffeln, bestreut mit Rosmarin aus dem Ofen. Dazu gab es Gemüsebratlinge und Salat aus unserem Garten. Es schmeckte sehr gut und nach dem Essen holte ich das Geschenk aus meinem Zimmer und legte es auf seinen Platz auf den Tisch.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, verkündete ich lächelnd. Mika, schloss die Kühlschranktür und sah das Geschenk an.

»Oh, du hast ein Geschenk für mich?«, stellte er erstaunt fest.

»Ja, komm mach es auf«, drängte ich ihn und setzt mich gegenüber seines Platzes an den Tisch.

»Warte noch kurz.«

Er eilte aus der Küche in sein Zimmer und kam kurz darauf mit einem Geschenk in seinen Händen zurück.

»Auch ich habe ein Geschenk für dich.« Lächelnd überreichte er es mir. Ich war total baff, denn damit hatte ich gar nicht gerechnet.

Wir sahen uns beide an und öffneten gleichzeitig unsere Geschenke.

»Oh, schön. Eine kleine Wärmflasche«, bedankte ich mich bei ihm.

»Die ist aus dem Naturladen, den du so magst«, erklärte er und drehte dabei das Buch um, »weil du ja so oft frierst.«

»Genau, danke.«

»Sehr gut, ein historischer Roman. Danke.«

»Ich weiß doch, wie gerne du historische Romane liest und der hörte sich sehr interessant an.«

»Ja, durchaus«, bemerkte er, während er den Klappentext las, »da werde ich viel Zeit mit verbringen.«

»Ja, es ist ein sehr dickes Buch.«

»Das ist gut so.«

Wir lächelten uns an.

»Wie wäre es, wenn ich jetzt Guacamole zubereite und wir uns Dexter ansehen?«

»Sehr gerne. Ich kann den Ofen schon anmachen und unsere Decken holen.«

»Gute Idee.«

Seine leckere Guacamole, bestehend aus zwei reifen Avocados, einer Tomate, ein ganz kleines bisschen Zwiebel, Knoblauch und natürlich Salz schmeckte immer gut. Dazu gab es Tortillachips aus unserem Naturkostladen und wie immer heißen Tee für mich und kalten Tee für ihn. Eigentlich mochte ich keine Avocados, aber wenn Mika seine Guacamole zubereitete, schmeckten mir Avocados sehr gut. Wir machten es uns vor dem Ofen auf der Matratze gemütlich und er machte seinen Laptop an. Nach nur zwei Folgen waren wir begeistert von der Serie, die somit zu unserer Lieblingsserie wurde. Wir schauten bis zum Abend die gesamte erste Staffel und gingen dann zu Bett. Ich war dankbar und glücklich darüber, dass Mika keinen Alkohol mehr trank und wir wieder schöne Zeiten gemeinsam verbrachten.

Einen Tag vor Silvester hämmerte Mika morgens gegen meine Zimmertür.

»Wach auf Mira, durch unser Haus fließt ein Bach.«

»Was?«, fragte ich verschlafen nach.

»Es gießt in Strömen und das Dach ist wohl irgendwo undicht. Auf jeden Fall fließt nun Wasser durch unser Haus. Steh endlich auf.«

»Oh Mist. Okay.«

»Du kannst ruhig barfuß beim Aufwischen bleiben. Ich steige auf den Dachboden und schaue nach, ob ich das Loch im Dach finde.«

»Alles klar.«

Ich holte Eimer und Waschmopp und begann mit dem Aufwischen des Wasser, welches in der Tat den Flur entlang floss und sich auch schon in der Küche und dem Wohnraum ausbreitete. Die Matratze vor dem Ofen hatte Mika schon auf den Wohnzimmertisch gelegt, ebenso den Korb mit den Holzscheiden. Ich weiß nicht mehr wie lange ich wischte, aber irgendwann kam Mika zu mir und erklärte, dass er einige undichte Stellen im Dach ausfindig gemacht und Einer darunter gestellt hatte. Mit einem Handtuch wischte er ebenfalls das Wasser auf, wrang es in der Spüle der Küche mehrmals aus und irgendwann hatten wir es geschafft.

»Puh, geschafft«, stöhnte ich und setzte mich an den Küchentisch.

»Es wäre schneller gegangen wenn du nicht so langsam gewischt hättest«, bemerkt er spitz.

Ich blickte ihn finster an.

»Ich habe jetzt erst einmal Hunger«, antwortete ich leicht mürrisch, erhob mich und bereitete mir ein Müsli zu.

»Möchtest du auch ein Müsli?«

»Natürlich, was für eine dumme Frage. Schließlich habe ich die ganze Zeit auf dem Dachboden geschuftet.«

»Du bist ein Held«, entwischte es mir augenblicklich.

»Ich vernehme Sarkasmus in deiner Stimme.«

»Ach wo. Bewunderung!«, rief ich übertrieben aus.

»Und schon übertreibst du wieder. Sei doch einfach dankbar. Schließlich hätte ich dich auch weiterhin hier unten wischen lassen können. Dann wärst du nie fertig geworden.«

»Ja, ja. Hier dein Müsli.«

»Tust du etwa wieder kein frisches Obst in dein Müsli?«, fragte er während er sich eine Banane ins Müsli schnitt.

»Nein, immer noch nicht.« Ich war mittlerweile sehr genervt von seinen Bemerkungen.

»Ich verstehe dich echt nicht Mira. Du bist so kompliziert.«

Zum Glück klingelte in diesem Moment sein Handy, so das ich nicht antworten musste.

»Guten Morgen Susan«, rief er fröhlich aus.

War er jetzt wieder gut gelaunt?

Ich wollte nicht darüber nachdenken. Es war mir zu anstrengend und ich hatte keine Lust dazu.

»Super, machen wir. Danke für die Einladung. Tschau.«

Er legte sein Handy beiseite, aß einige Löffel Müsli und blickte mich dann an.

»Willst du gar nicht wissen, wozu wir eingeladen wurden?«

Ich wusste das es besser war nun interessiert nachzufragen, um ihn nicht wieder zu verärgern.

»Doch klar. Was für eine Einladung ist es denn?«, fragte ich so freundlich nach wie ich es nur konnte.

»Zu einer Silvesterparty morgen Abend in ihrem Haus. Ist das nicht toll?«

Obwohl ich es eigentlich nicht toll fand, begrüßte ich die Einladung mit einem fröhlichen: »Oh toll, das wird bestimmt gut.«

»Auf jeden Fall. Endlich wieder eine Party mit netten Leuten.«

Ich nickte nur und begann mein Geschirr abzuwaschen. Dort gibt es bestimmt viel Alkohol, schoss es mir durch den Kopf. Hoffentlich konnte er der Versuchung widerstehen.

Am Silvesterabend war Mika bestens gelaunt und freute sich schon sehr auf die bevorstehende Party. Als wir zu Susan und Kalle fuhren, überlegte ich zwar ob ich ihn auf das Thema Alkohol ansprechen sollte, schwieg jedoch lieber. Als wir um 20.00 Uhr in dem Haus eintrafen, waren schon einige Leute dort. Viele von ihnen kannte ich nicht und es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass viele von den anwesenden Leuten Urlaubsgäste waren. Ich erwischte mich dabei, dass ich immer wieder mit den Augen nach Mika suchte, um zu sehen, ob er Alkohol trank oder nicht. Leider hielt er keine Stunde durch, bis ich ihn das erste Bier trinken sah. Ich stöhnte innerlich auf. Enttäuschung machte sich in mir breit und die Hoffnung war augenblicklich gewichen. Stattdessen spürte ich ein neues Gefühl in mir aufkeimen. Die Gleichgültigkeit. Ich hatte keine Lust mehr mich über Mika den Kopf zu zerbrechen. Ich wollte nicht mehr diskutieren, seine schlechte Laune ertragen und war froh, dass ich diese Insel bald verlassen würde und ihn somit auch. Nur auf Distanz und mit Kontaktabbruch war es möglich, jemanden wirklich zu verabschieden und sich von demjenigen frei zu machen. Die Zeit mit ihm war mir einfach zu anstrengend und nervenaufreibend geworden. Ich wollte einfach nicht mehr.

Gegen 1:00 Uhr sprach ich Mika das erste Mal darauf an, dass ich bald fahren wollte.

»Oh, du verdirbst einem echt jeden Spaß«, lallte er in meine Richtung und hielt sich dabei an der Tischkante fest.

»Du kannst ja hier übernachten«, bot ich ihm an, »aber ich will fahren.«

»Ich will hier aber nicht übernachten, sondern nur noch ein bisschen feiern. Eine halbe Stunde noch, okay?«

»Na gut«, stimmt ich mürrisch und müde zu.

»Super«, rief er aus und sprach wieder mit den beiden jungen Leuten, die er kennen gelernt hatte, »dann haben wir noch Zeit für ein letztes Bier.

Ich entfernte mich von diesen angetrunkenen Leuten und setzte mich an einen freien Tisch. Immer wieder schaute ich auf mein Handy und erinnerte ihn exakt 30 Minuten später daran, dass die Zeit nun um sei und ich fahren würde.

»Du bist so krank«, schrie er mich an, »wie kannst du nur so kleinkariert sein?«

»Ich fahre jetzt«, verkündete ich und ging einfach in Richtung Haustür. Sollte er doch hierbleiben. Es war mir egal. Ich war wütend und müde.

Als ich in meinem Auto saß und den Motor anstellte, sah ich einen torkelnden Mika auf dem Weg zu meinem Wagen kommen. Er schlug mit beiden Händen auf die Motorhaube und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um mir zu zeigen, wie dumm ich doch sei. Dann versuchte er die Beifahrertür zu öffnen, was ihm nicht sofort gelang und er fluchend schließend in mein Fahrzeug einstieg. Er schimpfte weiter vor sich hin, weil er nun den Gurt nicht in die Fassung stecken konnte und ich langsam anfuhr.

»Kannst du wenigsten warten bis ich angeschnallt bin?«, schrie er mich wütend an, »du bist so eine blöde Kuh. Echt, total die scheiß Aktion ziehst du hier ab.«

Ich antwortete nicht, sondern fuhr einfach los. Schließlich war er angeschnallt und blickte finster zu mir herüber.

»Denkst du, dein Schweigen ärgert mich? Ist mir doch scheißegal.«

»Dann ist es ja gut«, erwiderte ich und grinste leicht vor mich hin. Gleichgültigkeit ist ein mächtiges Gefühl!

Nach einigen, weiteren Beschimpfungen schwieg er und als wir an unserem Haus ankamen und er endlich ausgestiegen war, schloss ich das Auto ab und ging ins Haus. Er stolperte im Dunkeln hinter mir her. Ich ging ins Bad und anschließend ins Bett. Was er tat, war mir egal. Selbst am nächsten Morgen, tat ich, wozu ich Lust hatte und fuhr mit dem Auto hoch nach El Pilar, wo ich die Natur genoss und glücklich war, ganz alleine spazieren gehen zu können.

»Wo warst du?«, fragte Mika mich, als ich wieder zurück kam.

»In El Pilar.«

»Aha. Und? War es schön?«

»Ja.«

»Ich habe Mittagessen für uns gekocht.«

»Wie nett von dir. Ich habe auch schon etwas Hunger.«

»Dann kannst du ja schon einmal den Tisch decken. Es dauert noch ungefähr 10 Minuten.«

»Okay, mache ich.«

Während des Essens sprach niemand von uns über den gestrigen Abend. Stattdessen unterhielten wir uns über belanglose Dinge und ich lobte sein leckeres Essen.

Auch die nächsten Wochen verbrachten wir, ohne zu diskutieren oder spitzen Bemerkungen. Mika trank keinen Alkohol und wir verbrachten eine gute Zeit zusammen.

»Hast du noch einen letzten, netten Film?«, fragte ich ihn grinsend.

Er blickte auf und lächelte ebenfalls.

»Ja, natürlich.«

»Verrätst du mir, wie er heißt?«

»Ziemlich beste Freunde.«

»Ziemlich beste Freunde.«

»Ja, wolltest du das nicht lassen mit dem ständigen Wiederholen?«

»Ach ja, habe ich vergessen. Tut mir Leid.«

»Schon gut. Ab übermorgen wird es mir vielleicht sogar fehlen.«

»Kaum vorzustellen, aber das wäre lustig. Du wirst mir bestimmt fehlen Mika.«

»Ach was.«

»Nein, ehrlich. Ich werde dich vermissen.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Warum nicht? Wir hatten doch auch viele schöne Momente zusammen, oder nicht?«

»Doch die hatten wir und die sollten wir auch in Erinnerung behalten.«

»Leider merkt man sich oft die schlechten Augenblicke.«

»Das tun höchstens die Frauen. Männer vergessen schlechte Dinge sofort wieder. Frauen sind nachtragend und erinnern sich scheinbar an jedes Wort, das man mal gesagt hat.«

Ich musste lachen.

»Ja, das stimmt. Da können wir ja sogar noch etwas von euch Männern lernen.«

»Nicht nur das.«

»Sonst fällt mir da nichts weiter ein.«

»Oh, mir eine ganze Menge.«

»Kann ich mir vorstellen. Komm, lass uns abräumen und den Film ansehen. Machst du noch einmal den Ofen an?«

»Natürlich. Wenn du abwäschst?«

»Das mache ich.«

»Super.«

Es war so schön. Die letzten Tage waren wirklich alle so harmonisch und angenehm mit Mika. Woran lag das nur? Warum ging das vorher nicht so oft?

Der Film gefiel mir sehr gut und ich genoss den letzten Abend mit Mika auf unserer großen Matratze vor dem Ofen. Draußen leuchteten hunderte von Sternen und der Vollmond schien durch das große Fenster auf uns hinab.

»Gute Nacht Mika.«

»Gute Nacht Mira.«

Der große Tag war gekommen. Da ich nicht gleich nach Deutschland fahren wollte, hatte ich beschlossen noch nach La Gomera zu reisen. Die zweitkleinste der Kanarischen Inseln, die ich noch nicht kannte. Ich wartete bis zuletzt mit dem Packen, was mir jetzt zum Verhängnis wurde. Die verbleibende Zeit wurde knapp und ich war nun im Stress. Mika half mir beim Einpacken all meiner Sachen, doch bald stellten wir fest, dass ich gar nicht alles mitnehmen konnte.

»Kannst du bitte meine Sachen zu meiner Chefin in den Laden bringen?«, fragte ich ihn deshalb, »ich hole sie mir dann in einigen Monaten dort wieder ab.«

»Das kriege ich wohl hin«, nickte Mika zuversichtlich.

Mittlerweile rannte ich fast, um auch noch alles einpacken zu können, was unbedingt mit musste und um die Fähre nicht doch noch zu verpassen. Schließlich hatten wir es geschafft und standen vor dem vollgestopften Auto.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass ich eher anfangen soll zu packen«, stellte ich fest.

»Ich dachte, dass ich dir so etwas nicht sagen muss.«

»Nun ist die Zeit um und ich muss schnell losfahren. Eine blöde Verabschiedung ist das.«

»Ja, das ist keine richtige Verabschiedung. Das müssen wir noch irgendwann einmal nachholen«, antwortete Mika.

»Du kommst einfach nach«, rief ich erfreut aus.

»Ich weiß nicht, ob ich Geld habe, um nach La Gomera zu fahren.«

»Wir werden sehen, Ich muss nun echt losfahren.«

Wir umarmten uns kurz. Ich empfand es als zu kurz aber ich musste schnell in mein Auto einsteigen.

»Da fährt sie nun einfach davon«, stellte Mika erstaunt fest.

Ich lächelte und gab Gas. Ein letztes Mal fuhr ich den holprigen Weg mit den vielen Steinen entlang und bog auf die Straße ab. Ich verließ dieses Haus und Mika mit einem komischen Gefühl. Zwanzig Minuten später erreichte ich den Hafen von Sta. Cruz. Die Fähre lag natürlich schon im Hafen und ich war tatsächlich eine der letzten Passagiere.

Die Fahrt nach La Gomera dauerte einige Stunden, weil wir über Teneriffa fuhren, doch dann war ich auf La Gomera und überwältigt von der Schönheit dieser kleinen Insel. Obwohl so klein fand ich diese Insel gar nicht. Auf jeden Fall war La Gomera noch viel schöner als La Palma und ich schrieb Mika eine SMS, dass er unbedingt herüberkommen solle.

Wir schrieben uns fast jeden Tag viele SMS und ich musste feststellen, dass ich ihn wirklich ein wenig vermisste. Leider kam Mika nicht nach La Gomera, weil er kein Geld hatte, was ich tatsächlich sehr schade fand.

Obwohl wir uns jeden Tag SMS schrieben, merkte ich dennoch, wie gut mir die Trennung von ihm tat. Es war merkwürdig, denn auf der einen Seite tat es mir gut, dass er nicht bei mir war und auf der anderen Seite wünschte ich mir auch, dass er hier war. Trotzdem er mich so oft mit seinen Worten verletzt hatte, mochte ich ihn gerne. Am Meisten bedauerte ich, dass er glaubte ein Suchtmensch zu sein, der immer irgendeine Droge brauchte.

Zwei weitere Tage auf dieser wunderschönen Insel, spürte ich eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die ich schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Ich fühlte mich richtig gut. Ich spürte eine innere Freiheit in mir aufkeimen. Mein Selbstbewusstsein kam zurück und ich fand meine innere Zufriedenheit wieder. Ich verweilte lange Zeit in dem wunderschönen Nationalpark, mit seinen erstaunlichen Pflanzen, überwucherten Baumstämmen und riesigen Blätter. Auch die Strände waren schön und ich übernachtete sogar in einer Höhle, die einige Meter hoch in einen Felsen geschlagen war. Ansonsten schlief ich im Auto auf den Parkplätzen der Strände. Ich genoss die Zeit auf dieser schönen Insel außerordentlich. La Gomera ist sehr steil und die Vegetation ist anders, als auf La Palma. Hier hatte es vor einigen Jahren einen großen Waldbrand gegeben. Doch nun konnte man kleine, frische Triebe an den verbrannten Bäumen erkennen. Die Natur war einfach faszinierend.

SeelenTattoo

Подняться наверх