Читать книгу Alexis Band 1 - Claudia Knöfel - Страница 7
Alexis – ein Weihnachts(b)engel stellt sich vor
ОглавлениеGlauben Sie an das Christkind? So mit Engelhaar, Flügeln und weißem Flatterhemd? Das ist nämlich die meistverbreitete Version. Falls ja, dann sollten Sie etwas Zeit in meine mémoires investieren, ich räume nämlich mit den landläufigen Vorurteilen auf.
Zunächst möchte ich mich vorstellen: Ich heiße Alexis und bin seit einer halben Ewigkeit ein „Engel“. Ich habe von 1620 bis 1642 gelebt und war gegen Ende meines kurzen Lebens als Diener bei Kardinal Richelieu beschäftigt. Mein „Job“, so sagt man heute, bestand darin, seine Speisen auf eventuelle giftige Substanzen zu testen. So ein wichtiger Mann hat schließlich immer seine Widersacher, nur ist heute die Beseitigung von Personen des öffentlichen Lebens etwas subtiler geworden. Heute könnte man beispielsweise einen Mann wie Richelieu über die Medien untragbar machen, ohne ihn zu töten.
Nun gut, die Zeiten haben sich geändert. Ich war also Speisenvorkoster bei dem mächtigen Mann, ganze drei Tage lang. Dann bestätigten sich die negativen Vermutungen meines Arbeitgebers: Das Hühnchen in Weißweinsauce war mit Arsen versetzt.
Während des Sterbeprozesses merkte ich, wie sich meine Seele vom Körper löste. Ich schwebte durch den Speisesaal, dann durch den Palast, dann durch Paris. Ich war in der Lage, viele Dinge gleichzeitig wahrzunehmen. Ich sah den Bäcker in Nancy, der seine Frau verprügelte. Ich sah die Grauen des Dreißigjährigen Krieges. Ich schaute auf die kämpfenden Bauern in China, die der Ming-Dynastie ein Ende bereiteten. Und, und, und … Es war und ist sehr interessant, einige Vorgänge auf Erden gleichzeitig zu verfolgen, ohne selbst gesehen zu werden. So verging die Zeit …
Es muss zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein, Napoleon war mal wieder auf Expansionskurs, da rief eine leise Stimme immer wieder meinen Namen: „Alexis!“ Fast hundertfünfzig Jahre war ich durch Raum und Zeit geschwebt, ohne dass mich jemand gerufen hatte. Zugegeben, zuerst hatte ich etwas unter Langeweile gelitten, denn während meines allzu kurzen irdischen Lebens hatte ich viele soziale Kontakte gehabt. Aber man gewöhnt sich schließlich an alles – auch an die Einsamkeit. Also ignorierte ich die Stimme zunächst. Aber irgendwann war nichts mehr zu ignorieren. Das zarte Stimmchen wurde immer lauter und eindringlicher. Zuletzt brüllte es mir durch das nicht mehr vorhandene Mark und Bein: „Alexis!!!!“ – „Ja, bitte?“, fragte ich zögernd. (Die ersten beiden Worte nach mehr als einhundertsechzig Jahren!) „Alexis, wir brauchen dich! Bald ist Heiligabend. Du musst bescheren!“ – „Bescheren? Ich denke, das macht das Christkind, das Jesuskind oder der Weihnachtsmann? Und wer bist du überhaupt?“ Ich hasste es, mir Befehle erteilen zu lassen, und schon gar nicht von unsichtbaren Stimmen. „Ich bin der Nikolaus!“ – „Der Zar aus Russland???“ – „Nein!!! Ich bin der heilige Nikolaus und für die Verteilung der Weihnachtsgeschenke zuständig. Ein Weihnachtsmann und ein Christkind können unmöglich die Kinder der Welt an einem Abend bescheren. Deshalb sind wir auf die Unterstützung durch andere Seelen angewiesen. Da es immer mehr Kinder gibt, werden auch immer mehr Verteiler gesucht. Jetzt haben wir dich auch zum stellvertretenden Weihnachtsmann ernannt, Engel Alexis.“ Fast wäre ich von meiner Wolke gekippt. „Engel Alexis? Und stellvertretender Weihnachtsmann?“ – „Bilde dir nichts drauf ein. Wir müssen den Menschen die Illusion wahren. Jeder Weihnachtsbote ist ein Engel und stellvertretender Weihnachtsmann. Welche Wirkung hat es wohl, wenn sie wissen, dass ihnen der Diener und Dieb Alexis die Geschenke auf den Gabentisch legt?“ Mist. Der Knabe wusste Bescheid.
Vor meinem Job bei Richelieu hatte ich mich von meinen „langen Fingern“ ernährt, und zwar gar nicht schlecht. Ich war nur deshalb zum Speisenvorkoster ernannt worden, weil ich mich an dem Collier von des Kardinals Mätresse vergriffen hatte. Diamanten reinsten Wassers! Saphire so blau wie das Meer! Während ich das Schmuckstück bewunderte – ein kapitaler Fehler, ein Dieb sollte immer schnell das Weite suchen – trat der wachhabende Posten ein. Wie konnte ich mich verteidigen? Er zog den Degen, ich hatte keine Waffe parat.
Der Kardinal geruhte mich vor die Wahl zu stellen: Entweder den Tod durch den Strang, oder ein Leben als Testesser. Obwohl ich ahnte, dass die zweite Möglichkeit mein Leben nur unwesentlich verlängern würde, entschied ich mich dafür, des Kardinals Speisen auf eventuelle Unverträglichkeiten zu probieren. Was daraus folgte, habe ich bereits erwähnt.
„Komm mit, Alexis! Die Zeit drängt!“ Was blieb mir übrig, als der Stimme zu folgen? Ich muss gestehen, die Neugierde hatte mich gepackt. Und etwas Abwechslung konnte schließlich auch nicht schaden. Außerdem würde ich am Morgen des 25. Dezember wieder auf meiner Wolke sitzen, um mich von dem Stress zu erholen. Also erhob ich mich seufzend von meinem Beobachtungsposten und schwebte der Stimme hinterher. Ab und zu verlor ich die Orientierung, aber die Stimme lotste mich immer wieder auf den richtigen Weg. Schließlich gelangten wir in eine Halle von unglaublichen Ausmaßen. Ein Dach sah ich nicht, dafür riesige Pakettürme. Allerhand fleißige Seelen stapelten Päckchen auf Päckchen in die bereitstehenden Schlitten, vor denen geduldige Rentiere bereits auf ihren Einsatz warteten. Aber auch Wolken wurden mit Geschenken beladen. Die Halle war durch unendlich viele Mauern abgeteilt, sodass der Eindruck entstand, die Schlitten und Wolken stünden in Boxen. Und es war höllisch laut, eine Geräuschkulisse wie auf einem Volksfest. „Dort ist dein Platz, denn du wirst in den Rheinprovinzen1 bescheren: Aachen, Köln, Koblenz, Bonn und so weiter.“ Zum ersten Mal sah ich ihn, den geheimnisvollen Oberweihnachtsmann. Braune Knopfaugen, die mich zu durchdringen schienen. Obwohl mein Sündenregister seit meinem Tod im Jahre 1642 ohne Eintrag war, bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen. Er war mittelgroß, hatte einen weißen Rauschebart und weiße schulterlange Locken, die unter einer seltsamen goldenen Kopfbedeckung hervorschauten. Dieser, ich nenne es mal Hut, war ziemlich hoch und lief oben spitz zu. Im Gegensatz zu diesem edlen chapeau war sein abgetragenes Gewand aus rotem Samt ziemlich schäbig. In der Hand hielt er einen Hirtenstab aus Gold. Er zog mich einige Meter weiter zu einer verwaisten Box, über der „Rheinprovinzen“ stand. Eine watteweiche Wolke wartete darauf, beladen zu werden. „Beeil dich!“ Damit verschwand der Nikolaus. Ich kratzte mich am nicht mehr vorhandenen Kopf. Das schien ja in Arbeit auszuarten! Aber ich schwebte brav zu dem nächstgelegenen Paketberg und griff mir einige Geschenke, um sie auf die Wolke zu laden. Diese Prozedur wiederholte ich einige tausendmal. Dann flog ich los.
In den meisten Familien fand die Bescherung am Morgen des 25. Dezembers statt, also musste ich die Heilige Nacht gut nutzen. Systematisch verteilte ich meine Gaben. Wunderbares Holzspielzeug und Schaukelpferde für die Fürstenkinder und den Nachwuchs des Bürgertums. Äpfel, Nüss‘ und Mandelkern für die Kinder der einfachen Bevölkerung. Nach der neunhundertsten Bescherung wurde ich richtig warm, die Sache fing an, mir zu gefallen. Ich flog in die schön geschmückten Stuben der wohlhabenderen Leute und legte die Geschenke ordentlich auf die herausgeputzten Tafeln. In manchen Häusern brannten kleine Kerzen an Buchsbäumen. Weihnachtsbäume waren zu dieser Zeit im Rheinland noch relativ unbekannt. Ich besuchte die Ärmsten der Armen und legte gestrickte Socken und Schals auf die blankgescheuerten Küchentische. Ich bescherte in Klöstern und Schlössern entlang des Rheins. Und irgendwann neigte sich der himmlische Paketberg seinem Ende entgegen.
Zum Schluss war nur noch ein kleiner Samtbeutel übrig, dessen Verschluss sich geöffnet hatte. Rein zufällig riskierte ich einen Blick hinein. „Mon Dieu!“, hauchte ich. Ein Geschmeide aus Gold mit Rubinen, mit passendem Armband und Ohrgehängen. Hätte ich noch Finger gehabt, wie hätten sie gejuckt! Ich schaute auf meine Liste. „Spangenberg, Tuchmacher zu Bonn, Aloysiusstr. 8“, stand da an letzter Stelle. Und ein Vermerk: Ich sollte die Klunker an den Weihnachtsbaum hängen, diesen Gag hatte sich der Hausherr für seine Gemahlin ausgedacht. Familie Spangenberg war nämlich aus dem fernen Berlin nach Bonn eingewandert, und das Familienoberhaupt hatte hier die Tuchfabrik gekauft. Das Aufstellen eines Weihnachtsbaumes, in Preußen seit einiger Zeit immer mehr in Mode gekommen, gehörte zu den heimatlichen Bräuchen, die Familie Spangenberg gerne praktizierte. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg, wobei ich an die Zeiten dachte, in denen mich der Anblick solch edlen Schmucks zu gewissen Taten inspiriert hatte. Aber jetzt war ich ja ein Engel, und Engel begehen nun mal keine Diebstähle. Ich schwebte also in die Halle des reichen Industriellen und hängte meine Gaben an den riesigen Weihnachtsbaum. Wie herrlich die Diamanten glitzerten! Mir blutete, sinnbildlich gesprochen, das Herz. Wenigstens einen Ohrring! Theoretisch hätte ich ihn ja verloren haben können. Meine Hand umschloss liebevoll das Schmuckstück und löste es vorsichtig vom Tannenzweig. Ich machte mich wieder auf den Heimweg. Als ich mich gerade auf meiner Wolke niedergelassen hatte, brüllte die mir bereits wohlvertraute Stimme: „Alexis, mach dich sofort auf die Socken und häng das Schmuckstück wieder an den Weihnachtsbaum. Sonst suspendiere ich dich sofort!!!“ Naja. Mal ehrlich, was hätten Sie gemacht? Ich muss zugeben, die ganze Sache hatte mir Spaß bereitet. Eine echte Abwechslung sozusagen. Also machte ich mich wieder auf den Weg ins Rheinland. Spangenbergs pflegten nämlich nicht am 25. Dezember zu bescheren, sondern am Heiligabend nach der Christmette. So bekam ich das Drama sozusagen live mit. Im Hause des Tuchmachers war die Hölle los, alle Anwesenden auf der Suche nach dem Ohrring. Der Hausherr hatte einen hochroten Kopf und kroch auf allen Vieren unter dem Tannenbaum herum. Die Dame des Hauses (Wow! Auf dem Dekolleté nahm sich das Geschmeide bestimmt gut aus!) schluchzte hysterisch. Mir gelang es, das Teil unauffällig an der Spitze des Baumes zu platzieren. Der kleine Sohn sah es zuerst und zeigte mit dem Finger nach oben: „Da, schau, Mama, da oben glitzert es wunderschön!“ Im Nu hatte die Aufregung ein Ende, Spangenbergs wünschten sich „Frohe Weihnachten“ und schritten zur festlich gedeckten Tafel. Ich machte mich auf den Heimweg.
Doch je weiter ich mich von der Erde entfernte, desto mehr nahm mein Bedauern ab. Was hätte ich mit dem Schmuck anfangen sollen? Einen Hehler kannte ich nicht, und eine Geliebte, der man das Zeug an die Ohren heften konnte, hatte ich auch nicht. (Das war übrigens eine Sache, die ich hier oben vermisste. Aber wie will eine körperlose Seele sinnliche Freuden spenden?)
Jetzt wissen Sie, wie aus mir ein Weihnachtsengel wurde. Nun erledige ich den Job schon mehr als zweihundert Jahre, und in dieser Zeit habe ich eine Menge erlebt, zum Beispiel meine Landsleute, die das Rheinland besetzten und nicht eben gentlemanlike mit den Einheimischen umgingen. Ich habe die Menschen während der Weltkriege beschert, als Lebensmittelmarken unter die Weihnachtsbäume gelegt wurden. 1920 wurde mein Gebiet größer, ich hatte auch das Ruhrgebiet zu versorgen. So erlebte ich wieder eine französische Besatzung, aber diesmal auch den Widerstand der einheimischen Bevölkerung. Fast arbeitslos war ich während der Weltwirtschaftskrise. So viele hungernde Menschen auf den Straßen in der zivilisierten Welt hatte ich bis dato noch nicht erlebt – auch nicht zu meinen Lebzeiten. Das Elend war schrecklich, mir taten vor allem die Kinder leid. Während der schlimmsten Zeit, die Deutschland je erlebt hatte, unterliefen mir bei der weihnachtlichen Bescherung hin und wieder kleine „Fehler“. So mancher Nazi wird sich gefragt haben, weshalb er nur eine Packung Zigaretten auf dem Gabentisch vorfand. Und so mancher Verfolgte wird seine spätere Flucht aus der Heimat mit dem Verkauf von Pelzmänteln oder Juwelen finanziert haben, die überraschenderweise unter dem Christbaum lagen.
Doch mit der Zeit war die Arbeit für einen einzigen Engel pro Region angesichts des Bevölkerungswachstums nicht mehr zu bewältigen, und die Wirtschaftswunderjahre sorgten für einen drastischen Anstieg des Paketaufkommens. Gelegentlich habe ich nun Verstärkung, es sind die sogenannten „Weihnachtsengelassistenten“, die mir ein wenig zur Hand gehen. Auch habe ich hier oben Freunde gefunden, allen voran den Krummziebel Josef, den obersten Chef der hiesigen Backstuben, oder Billy Koslowsky, einen ehemaligen „Hell‘s Angel“. Von beiden wird in meinen histoires noch ausführlich zu berichten sein. Das Verhältnis zu meinem Chef ist leider nicht immer ungetrübt, doch auch davon später mehr. Aber obwohl in manchen Jahren das Damoklesschwert der Suspendierung über meinem Haupte schwebte, beschere ich weiter nach individuellen Maßstäben.
Die Verteilaktion wird heutzutage nach modernen logistischen Gesichtspunkten organisiert. Die modernen Turbo-Wolken haben größere Ladekapazitäten und fliegen schneller. Tja, man muss eben mit der Zeit gehen …