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Die Geschichte von Alexis, zwei Nachbarskindern im Schnee und der Maus Sancho
ОглавлениеAlors, mesdames et messieurs, da bin ich wieder: der unvergleichliche, unverbesserliche Weihnachtsengel Alexis, der Liebling der Armen und der Schrecken meines Vorgesetzten, des heiligen Nikolaus. Was mich – nebenbei bemerkt – überhaupt nicht tangiert. Die Hauptverwaltung unserer Behörde, die WGVHS hat mir die Kürzung meiner Pensionsansprüche angedroht, so ich weiter gegen die bei uns im Himmel bestehende WVO und die WGVRL verstoßen sollte. Aber auch das interessiert mich herzlich wenig, da mein Pensionsalter erst am Ende der Ewigkeit erreicht sein wird. Überhaupt – diese Beamtensäcke! Das Überflüssigste, was sich die Chefetage in den letzten achtzig Jahren ausgedacht hat. Und weshalb? Nur um die Weihnachtsgeschenke unter der Weltbevölkerung zu verteilen.
Die Verwaltung besteht zu 40% aus deutschen Ministerialbeamten, zu 50% aus Generälen der ehemaligen Ostblockstaaten und zu 10% aus Wiener Kaffee-Experten. Das sind die gemütlichsten Beamten. Obwohl, als Beamten kann man den Chef der himmlischen Backstuben, den Ur-Wiener Krummziebel Josef, wohl kaum bezeichnen. Er ist mein bester Freund hier oben. Und das, obwohl das Verhältnis zwischen der ehemaligen Donaumonarchie und Frankreich (man erinnere sich, ich bin Franzose!) nicht immer zum Besten gestanden hat.
Josef, von dem später noch ausführlich zu berichten sein wird, kocht den besten Kaffee. Sie kennen bestimmt den berühmten TV-Werbespot „Dieses Kaffee-Aroma – himmlisch!“ Das ist Josef Krummziebels spezielle Mischung, die er zu Lebzeiten (1896-1937) kreiert hat. Dabei ist er der genialste Zuckerbäcker, den die Welt und der Himmel je gesehen haben. Doch ich schweife wieder mal ab. Ich wollte Ihnen heute erzählen, was sich in der Bonner Beethovenstraße kurz vor Weihnachten im Jahr 1938 zugetragen hat. Beginnen wir die Erzählung also am 11. Dezember …
„Schneheflöckchen, Weissröckchen, wahann kommst du geschneit …“, sang die zehnjährige Luzie und hauchte die beschlagenen Scheiben in ihrem Kinderzimmer an. Es schneite dicke Flocken, und bald könnte es zu einer Schneeballschlacht reichen.
Luzie wollte Simon Goldmann, den Jungen aus dem Haus gegenüber, mit Schnee einbalsamieren. Er sollte vor Nässe triefen und sich einen fetten Schnupfen holen. Denn immer, wenn Luzie gerade auf dem Schulhof ihr Pausenbrot aß, zauberte Simon seine Maus Sancho aus dem Ärmel. Sancho war sein ständiger Begleiter, und Simon wusste genau, dass Luzie Mäuse nicht ausstehen konnte. „Bäh!“ Angewidert ließ sie dann ihr Butterbrot fallen und lief davon. So musste sie stets die restlichen Schulstunden mit knurrendem Magen überstehen, denn das Brot hatte Simon inzwischen brüderlich mit seiner Maus geteilt.
Eigentlich war es schade, dass Simon so eklig war. In der weiten Nachbarschaft wohnten nur wenig Kinder, die miteinander hätten spielen können. Luzie war oft allein, ihre beste Freundin wohnte im angrenzenden Stadtbezirk, und wenn die Hausaufgaben erledigt waren, herrschte bereits Dunkelheit. Jetzt, in der kalten Jahreszeit, wollte ihre Mutter nicht, dass sie am späten Nachmittag noch unterwegs war.
Zwei Männer spazierten die Straße entlang, sie trugen schwarze Ledermäntel. Luzie bekam plötzlich Angst. Sie hatte oft gehört, wie ihre Eltern über diese Leute sprachen. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch sah sie, dass einer von den beiden Fremden am Haus von Simons Eltern klingelte. „Luuuuzie! Komm essen!“ Widerwillig wandte sie sich von der Scheibe ab und sprang vom Fensterbrett.
„Da war‘n zwei Männer von dieser Polizei. Sind bei Goldmanns reingegangen“, mampfte Luzie, denn es gab Puttes. Das ist eine Art Kartoffelkuchen, der im Ofen gebacken wird. Luzie liebte Puttes. „Erstens, wie oft soll ich dir das noch sagen, mit vollem Mund spricht man nicht, und zweitens heißt diese Polizei Gestapo. Das sind gefährliche Leute“, sagte Luzies Mutter, während sie den Salat in Schüsseln verteilte. „Hoffentlich holen sie nicht Goldmanns“, murmelte der Vater. „Weshalb?“, wollte Luzie wissen. „Weil sie Juden sind. Hitler mag keine Juden, keine Kommunisten, keine Zigeuner. Eigentlich mag er überhaupt keine Leute, die eine eigene Mentalität entwickeln.“ – „Was macht denn die Gestapo mit Goldmanns, wenn sie abgeholt werden?“ – „Ich weiß nicht. Darüber wird nicht gesprochen. Vielleicht Gefängnis.“ – „Ins Gefängnis, nur weil sie Juden sind?“ Luzie konnte das nicht fassen. Der Rest der Mahlzeit verlief schweigsam.
Nachdem sie mit den Hausaufgaben fertig war, zog sie sich eine warme Jacke an. Vielleicht reichte es schon für einen Schneemann? Die Flocken fielen so dicht, dass sie kaum ihre Hände vor den Augen sah. Deshalb bemerkte sie auch nicht sofort Simon, der unter dem Vordach saß. „Was machst‘n du hier?“, fragte Luzie misstrauisch. Er antwortete nicht sofort. Er hatte geheult. „Die haben meinen Vater gesucht. Aber er ist weg. Sie wollten ihn mitnehmen. Meine Mutter sagt, wenn wir Geld hätten, könnten wir auch fliehen. Nach England oder nach Amerika.“ Luzie war erstaunt. „Habt ihr kein Geld? Man sagt doch, dass alle Juden reich sind.“ – „Wir nicht. Seitdem meine Eltern den Buchladen schließen mussten, geht es uns wirklich schlecht.“ Luzie erinnerte sich an die Nacht, in der die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäftsleute von Nazis zerschlagen worden waren. „Wo ist denn dein Vater jetzt?“, fragte sie Simon. „Ich weiß nicht. Meine Mutter redet nicht darüber.“
So saßen die beiden Kinder noch bis zum Einbruch der Dunkelheit auf den Treppenstufen, zum ersten Mal in Eintracht. Aber Simon hatte Angst, und auch Luzie spürte eine Bedrohung, die sie – da war sie sicher – von nun an nicht mehr loslassen würde.
Seit Jahren beobachtete ich von meiner Wolke aus den Terror, der sich in Deutschland und später in den angrenzenden Staaten abspielte. Es war unglaublich. Menschen, die verschleppt und in eigens dafür eingerichteten Lagern getötet wurden, nur weil sie einer anderen Religion angehörten oder andere Denkweisen hatten. Ich hatte schon viele Verbrechen im Namen der Menschlichkeit gesehen, aber das hier schlug dem Fass den Boden aus. Wie oft hatte ich den Nikolaus zu überreden versucht, endlich etwas dagegen zu unternehmen! Aber er schüttelte stets den Kopf. „Wir sind Engel und keine Eingreiftruppe!“
Nachdem ich das Gespräch zwischen den Kindern gehört hatte, empfand ich eine hilflose Wut. Simon hatte ich besonders in mein Herz geschlossen, denn er erinnerte mich stark an mich selbst, als ich zehn Jahre alt war. Nichts als Unsinn hatte ich im Kopf gehabt! Kübelweise kippten meine beiden Brüder und ich aus dem ersten Stock des elterlichen Wirtshauses dreckiges Abwaschwasser auf die Passanten, die durch die enge Pariser Gasse flanierten. Oder wir schmuggelten Mäuse in die Gaststube. Die Erinnerung an die kreischenden Gewerbedamen, die sich auf die Stühle flüchteten, verleitet mich noch heute, nach über dreihundert Jahren, zu einem Lächeln. Die Zeit, in der ich heranwuchs, war bestimmt nicht sorgenfrei. Wie oft hatte es uns am Nötigsten gefehlt! Dennoch, ich verbrachte eine relativ unbeschwerte Kindheit und eine aufregende Jugend, bis zu meinem frühen Tod.
Ich war nun traurig, dass Simon und Luzie und allen anderen Kindern in diesem Land die Unbeschwertheit, die eine glückliche Kindheit ausmacht, genommen wurde.
Darüber sprach ich mit dem Krummziebel Josef. Josef war zu Lebzeiten Kommunist gewesen, und die Nazis hatten ihn auf offener Straße zusammengeschossen. Seitdem bescherte er dem Himmel göttliche Kaffeepausen und der Erdbevölkerung die tollsten Weihnachtsplätzchen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Denn Krummziebel hatte als Chefkonditor im legendären „Sacher“ gearbeitet, und seine Torten waren schlichtweg formidable. Häufiger Gast in seiner Backstube war der Nikolaus, der seinen Leibesumfang durch den Genuss der himmlischen Leckereien fast verdoppelt hatte.
„Müsstest halt was tun!“ Josef strich Aprikosenmarmelade auf riesige Schokoladenteigplatten. „Und was?“ – „Das alte Robin-Hood-Prinzip: Nimm den Reichen, gib‘s den Armen. Da drin bist du doch Experte. Dieser Gauleiter Grötemeyer zum Beispiel, dieser alte Fettsack. Der hat Geld genug. Klaust halt a paar Steinerln von seiner Alten und gibst sie den Goldmanns als Weihnachtsgeschenk. Dann können‘s auswandern. Wo ist das Problem?“
„Das Problem bekommt ihr, wenn ihr euch in die Probleme der Menschen einmischt. Wir sind für Weihnachtsgeschenke zuständig, und nur dafür. Das wisst ihr beide genau. Also: Wen ich beim Manipulieren erwische, der putzt künftig die Himmelstreppe, haben wir uns verstanden?“ Oje. Der Nikolaus hatte uns belauscht. Lautlos war er in den Backhimmel geschlichen, um zu naschen. Seine Finger waren voller Teig, und aus dem Bart tropfte Kuvertüre. Aber Josef und ich konnten darüber nicht lachen, ganz im Gegenteil. Denn die Treppe zum Himmel hat mehrere Millionen Stufen. Sie zu reinigen, das ist schlimmer als Galeerenarbeit!
Was konnten wir also tun? In erster Linie mussten wir den Nikolaus an Heiligabend ablenken, denn ich fand Josefs Idee gut. Grötemeyer war wirklich ein Miststück, und der kleine Simon lag mir am Herzen. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. Ein Feuer musste her, natürlich nur pro forma. Die himmlischen Backstuben bezogen ihre Gluthitze, die sie natürlich zum Backen benötigten, von der Höllenfeuer AG. Hier oben gibt es selbstredend kein Feuer, sondern nur Harfenmusik. Und damit kann man keine Plätzchen backen. Also hatten Himmel und Hölle einst einen Versorgungsvertrag geschlossen, an dessen Zustandekommen der Krummziebel Josef maßgeblich beteiligt gewesen war. Doch dazu später mehr.
Also, der Chefkonditor verfügte über beste Beziehungen zur Hölle, deshalb bekam er am Heiligabend, als bei uns die Hektik ihren Siedepunkt erreichte, etliche Kubikkilometer Rauch in seine Backstube geliefert. Stinkender, beißender Höllenqualm verpestete die Himmelsluft, die sonst nach Vanille oder Veilchen roch. „Feuer! Zu Hilfe, Feuer!!! Die Plätzchen verbrennen!!!!“ Krummziebels Geschrei drang bis zum Nikolaus, der gerade Weihnachtspakete in die Wolken lud. „Die Plätzchen verbrennen? Um Himmels Willen!!!!!“
Und mit einem Affenzahn, so schnell es sein stattlicher Umfang zuließ, sauste er in die Backstube. Als ich sicher war, dass der Chef abgelenkt war, flitzte ich auf meiner Turbowolke Richtung Erde. Dort hatte ich meine Mission schnell erfüllt: Der Inhalt der Schmuckkassette von Grötemeyers Gattin verschwand auf unerklärliche Weise, um wenige Minuten später bei Goldmanns auf dem Wohnzimmertisch aufzutauchen. Dann flog ich wieder zurück und betrat leise pfeifend die riesige Kumuluswolke, auf der sich die Backstube befand. Ich muss gestehen, ich war mit mir zufrieden.
Drei Tage später. Es schneite und schneite. Luzie, Simon und die anderen Kinder zogen ihre Schlitten die Beethovenstraße rauf und runter. Als es dunkel wurde und Luzie nach Hause wollte, zog Simon sie am Ärmel beiseite. „Wir verreisen. Aber sag‘s nicht weiter. Hier, pass gut auf ihn auf!“ Und Simon zog seine Maus Sancho aus der Jackentasche. „Kannste haben. Mutter will nicht, dass er im Zug mitfährt.“ Er nahm Luzies Hand und setzte die Maus darauf. Luzie, die einem Reflex folgen und im ersten Moment wegrennen wollte, besann sich. Sie begriff, was Simon ihr da für ein Geschenk machte. Das war nicht nur ein kleines Nagetier, sondern viel mehr – nämlich Freundschaft. Und sie wurde traurig, weil sie fühlte, dass Simon nicht mehr nach Deutschland zurückkehren würde.
Am nächsten Tag kam Simon nicht mehr zum Spielen auf die Straße. Luzies Mutter kaufte für die Maus einen Käfig. Die ganze Familie freute sich über die Kapriolen des kleinen Kerls, der noch ein langes und vergnügtes Mäuseleben hatte.
Und Simon? Er und seine Mutter hatten Deutschland verlassen. Sie emigrierten in die USA, wo Simons Vater an einer Tankstelle jobbte. Später dann arbeitete er als Bibliothekar und eröffnete sogar einen kleinen Buchladen, in dem er hauptsächlich deutsche Literatur anbot.
Das war die Geschichte von Luzie, Simon und der Maus Sancho. Natürlich hatte die Sache noch ein Nachspiel für den Krummziebel Josef und mich. Denn der Nikolaus hatte schnell bemerkt, dass es kein Feuer war, das am Heiligabend die Backstube zum Rauchen brachte. Und natürlich hatte er sofort mich im Verdacht, die ganze Sache ausgeheckt zu haben. Josef hatte Courage und gestand ebenfalls seine Teilnahme an dem Coup. In ungewohnter Sanftmut drückte der Chef ein Auge zu. Statt der Treppe hatten wir nur die Backstuben zu reinigen, eine lästige Aufgabe, die aber nur bis zum 1. Dezember des folgenden Jahres dauerte. Während dieser Prozedur hatten wir viel Zeit zum Nachdenken, und wir beobachteten die Ereignisse auf der Erde. Und wir schmiedeten Pläne. Da war zum Beispiel die Bäckersfrau, die …
Aber das ist eine andere Geschichte.