Читать книгу Alexis Band 1 - Claudia Knöfel - Страница 8

Die Geschichte von Alexis, einer Weihnachtssteuer, hässlichen Franzosen und einem hilfsbereiten Kurfürsten

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Heute erzähle ich vom Weihnachtsabend des Jahres 1810. Meine Probezeit als himmlischer Paketzusteller sollte just am Ende dieses Tages seinen Abschluss finden. Als gebürtiger Franzose hatte ich Teile der Rheinprovinzen bescherungsmäßig zu versorgen. Das Gebiet beschränkte sich in diesem Jahr auf die Linie Köln/Koblenz, allerdings nur linksrheinisch. Napoleon hatte sich diesen und andere Landstriche ein paar Jahre zuvor einverleibt. Die Menschen lebten hier unter französischer Verwaltung, unter dem Joch von Bonapartes Armee – noch. Denn nur wenige Jahre später sollte sich das Rad der Geschichte drehen und dieses Gebiet an Preußen fallen.

Ich muss gestehen, dass ich Napoleon nicht besonders mochte. Schon wegen dieser Sache mit den kaiserlichen Schatzkammern – nach meinem Geschmack viel zu gut bewacht. Diverse Bürger hatten bereits versucht, dort ihr Einkommen mittels Selbstbedienung ein wenig aufzubessern. Wie ich von meiner Wolke hatte beobachten können, stets ohne Erfolg. Entweder landeten sie im Kerker, wo sie einen äußerst unwirtlichen Aufenthalt genossen – oder auf dem Schafott. Die armen Kreaturen taten mir in der Seele leid, denn zu Lebzeiten war ich Alexis, der Schrecken der kaiserlichen und königlichen Finanzdepots, gewesen. So manchem Kämmerer hatte ich unverhoffte Freizeit beschert, da die Bestandsaufnahme der mit Louisdors gefüllten Geldsäcke an einigen Tagen sehr schnell erledigt gewesen war. Selbstverständlich behielt ich nicht alles für mich, man hat schließlich auch als Dieb ein soziales Gewissen. Außerdem hatte ich Tantiemen an Teilhaber zu zahlen, ohne die diese Aktionen nie hätten stattfinden können. Die Summe der Schweigegelder an die königlichen Chargen war ebenfalls beträchtlich gewesen. Doch ich will mich nicht beklagen. Gemessen am heutigen Spitzensteuersatz waren diese Abgaben akzeptabel gewesen.

Doch kehren wir zurück in das Jahr 1810. Als ich am Weihnachtsmorgen im himmlischen Paketverteilungszentrum, heute WGVHS genannt, ankam, stutzte ich. Seit einigen Jahren praktizierte ich diesen Job nun schon, und nie waren Pakete für die Brühler Bevölkerung dabei gewesen. Warum?

Ich dachte nach. Es war ja noch früher dunkler Morgen, genug Zeit also, um der Sache auf den Grund zu gehen … „Alexis! Ich warne dich! Wenn du wieder Extratouren einlegst, wirst du gekündigt – und zwar fristlos!“, tönte eine mir bestens bekannte Stimme. Ich wagte einen Protest. „Aber Chef, da stimmt doch was nicht, da müsste man doch mal …“ Doch der Nikolaus fiel mir ins Wort: „Gar nichts musst du, Alexis, sondern nur bescheren. Du bist stellvertretender Weihnachtsmann und nicht Sherlock Holmes!“ Angesichts der angespannten Situation verschwieg ich lieber, dass die Geburtsstunde des Privatdetektivs erst einige Jahrzehnte später schlagen würde und gab Gas.

„Okay, Chef, bin schon unterwegs!“

Selbstverständlich würde ich die Angelegenheit weiter verfolgen, das war doch klar. An diesem Weihnachtsabend bescherte ich in einem nahezu höllischen Tempo. Statt wie üblich die Geschenke auf die Tische zu legen, schmiss ich die Pakete nach guter alter englischer Sitte durch die Schornsteine. Um elf Uhr war ich fertig. Ich parkte meinen Schlitten über dem Waldgelände von Schloss Augustusburg und schwebte in die Brühler City. Hier herrschte eine traurige Stimmung! Keine Kerzen in den Fenstern, keine Buchsbäumchen, an die man Talglichter gesteckt hatte. Die wenigen Menschen, die durch die Stadt liefen, sahen sehr unglücklich aus. Ich konnte sie allerdings nicht nach dem Grund fragen, denn man ist als Engel in der Fähigkeit zu kommunizieren doch sehr eingeschränkt. Ich konnte lediglich die Gespräche der Menschen belauschen, und das tat ich dann auch. Als ein älteres Ehepaar den Marktplatz überquerte, flog ich neben ihnen her. „Weißt du noch, wie wir früher Weihnachten gefeiert haben? Die ganze Familie saß beisammen, erzählte sich Geschichten und aß Lebkuchen. Die Kerzen brannten und die Kinder spielten miteinander. Das war schön!“, sagte die Frau. „Jaja!“, seufzte der Mann wehmütig. „Seitdem dieser Präfekt in der Stadt ist, macht das Leben keine Freude mehr. Er blutet uns aus mit seinen Steuern!“, fuhr er fort. Die Frau nickte. „Und jetzt noch dieser Weihnachtszehnt! Die Ernte war dieses Jahr so schlecht, es bleibt kaum etwas zum Leben.“


Ich hatte genug gehört. Der Präfekt der Stadt schien also schuld zu sein an dieser Misere. Ich flog los, Richtung Schloss. Dort hatte sich die Präfektur eingenistet. Ich schwebte an den uniformierten Wachen vorbei durch das wunderschöne Treppenhaus in einen herrlichen blau-weiß gekachelten Speisesaal und weiter durch die angrenzenden Schlafzimmer und Salons. Das hier war zwar nicht Versailles, aber für rheinische Verhältnisse doch ganz comme il faut. Ich gratulierte dem bayrischen Erbauer Kurfürst Clemens August posthum zu seinem wirklich ausgezeichneten Geschmack. Nebenbei bemerkt: Auch ihn hatte der Nikolaus als stellvertretenden Weihnachtsmann zwangsverpflichtet. Geradezu eine Umwälzung der politischen Verhältnisse! Ein Adeliger, der im frühen neunzehnten Jahrhundert, wenn auch nur für einen Tag, als Dienstleister für die niederen Schichten des Volkes tätig ist!

Doch zurück zur Geschichte. Ich flog, da sich in den unteren Räumen nur Lakaien zu befinden schienen, in den ersten Stock. Aha. In einem großen Saal, vermutlich ein Audienzraum, fand ich die Verwaltungsspitzen. Sie lümmelten an einem großen Tisch, tranken Wein und zählten Goldstücke. „Das sind wahrscheinlich die Weihnachtssteuern, die ihr den Menschen abgenommen habt, ihr Gauner!“, dachte ich und beobachtete ein wenig das Geschehen. Ein großer Fettwanst mit schmierigen Haaren schien der Präfekt zu sein, der Uniform nach zu urteilen. Ein dürres Männlein mit schlecht gepuderter Perücke schrieb unablässig Zahlen in ein Buch, das war bestimmt der Kämmerer. Ein harmloses Bürschchen, mit dem würde ich leichtes Spiel haben. Die anderen in der Runde schienen bedeutungslos zu sein. „War das nicht eine superbe Idee von mir, jede weihnachtliche Aktion zu besteuern? So haben wir wenigstens genug Geld für unsere Weihnachtsfeier gescheffelt“, kicherte ein Glatzkopf mit Hasenscharte. Meine Güte, der Kaiser der Franzosen schien nur die hässlichsten Männer nach Brühl beordert zu haben! „Deine Idee war hervorragend, Jacques. Denn seitdem Napoleon die Weihnachtsgelder gestrichen hat, sieht es für unsereins wahrhaft düster aus. Gut, dass wir eine Einnahmequelle gefunden haben!“, grunzte der Präfekt. Die Runde grölte. Ich hatte genug gehört und schämte mich für meine Landsleute. Ich musste diese Schlawiner das Fürchten lehren und den Menschen hier in der Stadt ein unvergesslich schönes Weihnachtsfest bereiten. So viel stand fest.

Aber wie? Ich brauchte Verstärkung. Und wer war da wohl besser geeignet als …? Genau. Sie haben es erraten: Clemens August, Kurfürst und Erzbischof zu Köln. Ich schwebte zu meinem Schlitten zurück und flog anschließend nach Dresden, wo er als himmlischer Paketzusteller arbeitete. Wenig später hatte ich ihn gefunden, in Schweiß gebadet und augenscheinlich ganz froh über die Unterbrechung. Kurz schilderte ich ihm den Sachverhalt, und er wurde fuchsteufelswild. „Mein schönes Schloss! Diese Hunde! Ich komme sofort mit!“, tobte er. Ehrlich gesagt, ich hätte diesem Schöngeist so einen Wutanfall gar nicht zugetraut.

Wir flogen ins Rheinland. Überflüssig zu erwähnen, dass der Chef uns von dieser Aktion lautstark abzubringen versuchte. „Einfach ignorieren!“, riet ich Clemens August, der zunächst merklich zusammengezuckt war. Gegen fünf Uhr in der Frühe kamen wir in Brühl an. Unterwegs hatten wir bei diversen Apothekern ausreichende Mengen Laudanum besorgt, genug, um das Schloss in einen drei Tage andauernden Tiefschlaf zu versetzen. Wir kippten die Beruhigungsmittel in die Speisen und Getränke der immer noch feiernden Besatzer. Dann schwebten wir in den Wald, um die schönste und größte aller Tannen zu besorgen. Denn ich fand diesen neuen Brauch, Nadelbäume mit kleinen Lichtern zu schmücken, äußerst reizvoll und wollte ihn im Rheinland fest etablieren. Ich muss gestehen, ohne mich selbst loben zu wollen, dass mir das auch gelang.

Gemeinsam stellten wir die Tanne auf dem Marktplatz auf und schmückten sie festlich. Keine Menschenseele war in der Stadt zu sehen. Dann flogen wir wieder zum Schloss. Lautes Schnarchen tönte uns entgegen. Im Audienzsaal packten wir die Geldstücke in Säcke, die wir mit den Weihnachtsgeschenken unter den Tannenbaum legten. Wir transportierten Tische und Stühle zum Marktplatz. Aus Küche und Keller des Schlosses hatten wir die edelsten Speisen und Weine organisiert, die wir zu einem exzellenten dîner zusammenstellten. Mehrere Spanferkel drehten sich auf Spießen. Eine Truthahn-Consommé, getrüffelte Poularden, sechzehn verschiedene Bratengerichte, vierzig spanische Pasteten, eine Unzahl geräucherter Fische und gesottener Enten aus dem hiesigen Jagdrevier standen in edlen Porzellanterrinen zum Verzehr bereit. Das Herzstück der Tafel aber bildete ein Aufsatz aus Zuckerwerk, der eine Schwanenfamilie darstellte. Zum Schluss zündeten wir die Kerzen an.

Eine Zeit verging. Uns kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann erschienen einige müde Gesichter an den Fenstern. Nach einer Weile kamen die Menschen aus ihren Häusern auf dem tief verschneiten Marktplatz zusammen. Ungläubig staunend starrten sie auf den prächtig geschmückten Weihnachtsbaum und die festliche Tafel. Plötzlich rief eine Stimme: „Fröhliche Weihnachten!“ Das Eis war gebrochen. „Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten!“, schallte es über den Platz.

Clemens August und ich blickten uns an und wussten: Diesen Heiligabend würde man in Brühl so schnell nicht vergessen. „Um Himmels Willen, Alexis, ich muss wieder nach Dresden zurück. Ich bin noch nicht fertig mit der Bescherung!“ – „Ehrensache, Clemens August, dass ich dir helfe.“ Und so schwebten wir zu meinem Schlitten zurück, um Richtung Osten aufzubrechen.

Etwa über Siegen tönte die mir bestens bekannte Stimme: „ALEXIS!!“ – „Ist was, Chef?“ Ich hatte beschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen. Probezeit hin oder her. „Also, Alexis,“ der Nikolaus räusperte sich, „also Alexis, du hast den Job. Deine Probezeit ist beendet.“ Na also, dachte ich. Auch wenn Sigmund Freud noch nicht geboren war: alles nur eine Frage der Psychologie.

Und zufrieden lenkte ich den Schlitten gen Dresden.

Alexis Band 1

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