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Das Phantom der Gänsekeule
Оглавление„Naja“, sagt Herr P. mit glasigen Augen, richtet sich halb auf und schnuppert der Duftspur der Kellnerin hinterher, die gerade zwei Teller mit Gänsekeulen, Rotkohl und Klößen an uns vorbeigetragen hat, „naja, ein wenig Brot täte es zur Not vielleicht auch.“ Dabei versucht er, mit dem Taschenmesser eine goldene Haselnuss zu zerteilen.
Drei Mägen knurren Zustimmung. Verschwommen erinnere ich mich an die halbe Schnitte Toast mit Käse zum Frühstück. Das ist jetzt annähernd dreizehn Stunden her.
Es ist fast Adventszeit. Wir sitzen in einem hübschen Weinhaus in einer kleinen Stadt, ganz in der Nähe, wo der Mittelrhein in den Niederrhein übergeht. Wir – das sind Herr K., mein Verleger, Herr P. und Frau M. – und ich. Frau M. hat, wie schon bei den beiden Büchern zuvor, mein neuestes literarisches Werk abschließend lektoriert.
Vor wenigen Stunden ist dieses wenige Kilometer entfernt der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Nun möchten wir das gelungene Ereignis gerne ein wenig feiern, am liebsten mit Gänsekeulen, Rotkohl und Klößen. Doch wir sind flexibel. Wenn die Vogelbeine „aus“ sind, gäben wir uns auch mit den Kleinigkeiten auf den vor uns liegenden Speisekarten zufrieden, wie zum Beispiel gebackenem Camembert, ein paar Käsewürfeln oder einer aufgewärmten Tagessuppe.
Leider haben wir Pech. High Noon in der Küche war zweiundzwanzig Uhr, wie uns die Serviererin mit dem strengen Blick eines Feldwebels klargemacht hat. Jetzt ist es zehn nach und die Küche ist „dicht“. „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder nach zweiundzwanzig Uhr etwas zu essen haben wollte?“, fragt sie unumwunden und sammelt die Speisekarten wieder ein, die sie uns kurz zuvor gebracht hatte.
Ich komme mir vor wie ein Hund, der mal an der Wurst schnüffeln darf, bevor sie ihm vor der Nase weggezogen wird. „Was zu trinken?“, fragt die Kellnerin und zückt Bleistift und Notizblock.
„Ein schönes frisch gezapftes Bier wäre herrlich!“, lächelt Herr K. die Kellnerin an. Doch die scheint eine Allergie gegen freundliche Gäste zu haben. Ihre Augen versprühen Gift. „Das hier ist ein WEINHAUS. Wir haben WEIN, das steht doch draußen dran. Als Bier gibt es nur Hefeweizen in Flaschen!“
Herr K., der lange bei der Bundeswehr gedient hatte, erkennt sofort die Befehlsstruktur in dieser Kneipe. Was hier der Feldwebel sagt, duldet keinen Widerspruch, schon gar nicht von hungrigen Gästen. Ergeben verlangt Herr K. noch einmal die Speisekarte und bestellt schließlich ein Viertel Roten. Ich entscheide mich für ein kleines Fläschchen Wasser, ebenso Herr P. und Frau M., wobei sie um zwei Gläser bitten.
Frau M., die bereits verstohlen einige Pappuntersetzer zerpflückt und in den Mund gesteckt hat, schaut trotzig in die Runde. „Wenn es hier schon nichts Offizielles zu essen gibt, dann verweigere ich auch den Getränkeumsatz!“ Wir nicken zustimmend und blicken verlangend auf die Tafel, die sich neben unserem Tisch befindet. Weißwürstchen mit Krautsalat, steht darauf mit Kreide geschrieben, Flammkuchen und Gänsekeulen mit Rotkohl und Klößen.
Mir ist flau. Dort, wo einst mein Magen war, scheint sich nun ein riesiges Loch zu befinden. Vor Lesungen pflege ich nämlich nichts zu essen. Kaffee, Tee, das ja, aber keine feste Nahrung.
Ich habe nämlich mal erlebt, dass nach dem Genuss von Linsensuppe eine widerspenstige kleine Hülsenfrucht in meinem Hals stecken blieb, die sich hartnäckig weigerte, die Speiseröhre hinabzurutschen. Das war nicht weiter schlimm, hätte ich nicht am Abend einen Text vortragen müssen. Das kratzige Gefühl auf meinen Mandeln und der Drang, mich zu räuspern, führten dazu, dass ich meinen Text in unziemlicher Eile vorlas. Seither faste ich vor solchen Veranstaltungen.
Frau Feldwebel kommt und knallt ein Viertel Roten und zwei Fläschchen Wasser vor uns hin. Dann blickt sie missbilligend auf Herrn P., der gerade mit seinem Schweizer-Messer die Tischdekoration geknackt hat – drei vergoldete Haselnüsse. Exakt die Hälfte der Beute schiebt er seiner Gattin rüber.
Ich wage noch einmal einen Vorstoß. „Hätten Sie nicht etwas Brot für uns?“, frage ich die Feldwebel-Dame zaghaft und setze hinzu: „Wir sind nämlich sehr hungrig!“ Damit hoffe ich, in der Kommandierenden so etwas wie Mitleid zu erwecken. Und, tatsächlich, sie knurrt: „Mal sehen, was ich für Sie tun kann!“
In mir keimt Hoffnung und plötzlich habe ich ein Déjà-vu: Vor einigen Jahren wollte ich mit Freunden in diesen Räumen Gans essen. Es war um Sankt Martin. Bei einem Besuch in der Kleinstadt eine Woche zuvor hatte ich nämlich eine Tafel an dem Weinhaus gesehen, auf der stand: „Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen“.
Wunderbar, eine nette kleine Gaststätte, ein deftiges Mahl und noch dazu ein guter Rotwein! Ich war begeistert und voller Vorfreude.
Dann reservierte ich einen Tisch und bestellte schon mal vorsichtshalber sechs Portionen des edlen Geflügels. Fröhlich, hungrig und erwartungsvoll trafen wir an einem kalten Samstagabend in der Gaststätte ein. Zufälligerweise war es derselbe Tisch wie der, an dem wir nun an diesem Abend saßen.
Doch leider hatte der Wirt vergessen, meine Bestellung zu notieren. Zudem waren bedauerlicherweise alle Gänse ausgeflogen, weshalb wir uns zu dem Einzigen entschlossen, was die Küche noch zu bieten hatte. Das waren vor Fett triefende Bratkartoffeln und ebensolche Schnitzel. Der guten Stimmung tat das keinen Abbruch. Vor allem unsere Gallen liefen an jenem Abend zur Höchstform auf.
Jetzt macht sich die Kellnerin mit einem hoch beladenen Tablett auf den Weg in den Nebenraum, wo eine Gesellschaft die gerade eingetroffenen Nachspeisen mit einem freudigen „Aaah!“ begrüßt. Dann kommt die Serviererin zurück und stellt einen kleinen Teller mit Graubrot auf unseren Tisch.
Herr P. zählt verzückt. „Es sind vier Scheiben! Sie hat für jeden von uns eine Scheibe gebracht!“ Dann nimmt er sich zwei, reicht eine seiner Frau und bricht vor Freude in Tränen aus.
Ich schaue auf das trockene Brot und wage einen kühnen Vorstoß. Ein Wink zu dem an der Theke Gläser polierenden weiblichen Feldwebel, zwei Schritte, und sie ist an unserem Tisch. „Haben Sie ein wenig Schmalz für uns?“, frage ich.
Dann passiert es. Ich sehe es ganz deutlich.
Ein Engelchen tippt der Frau auf die Schulter und flüstert: „Tu‘ es. Bringe den Hungrigen ein wenig Schmalz!“ Auf der anderen Seite steckt ein kleiner Teufel sein gehörntes Haupt hinter ihrem Rücken hervor und brüllt: „Tu es NICHT! Gib ihnen kein Schmalz!! Wo kämet ihr denn hin, wenn jeder Gast nach zweiundzwanzig Uhr noch etwas zu essen haben wollte!! Wohin wohl?? In den Himmel!!!“
Dann lacht er so böse, dass mir das Blut in den Adern gefriert.
Das war´s. Die Würfel sind gefallen. In einem winzigen Moment sehe ich das rote Glühen in den Augen der Kellnerin.
Der Schmalztopf, den ich schon zum Greifen nah wähnte, rückt in weite Ferne. Heftig schüttelt die Frau den Kopf. „Das geht nicht. Wenn ich einmal damit anfange, ist es vorbei. Dann wollen alle Gäste Schmalz nach zehn Uhr abends. Auf keinen Fall, das geht nicht. Wo kämen wir denn da hin?“
Dann reicht sie Herrn K. die Rechnung und bittet um Bezahlung. Sie möchte Feierabend machen.
Als wir diesen wirtlichen Ort verlassen, sehen wir auf dem Tresen eine dekorative Schale mit vertrockneten Äpfeln. Ich greife mir zwei von den verschrumpelten Früchten und verspeise sie sofort.
Daheim, es ist inzwischen nach Mitternacht, finde ich vor meiner Tür Blumen, Wein und zwei Stücke Schokoladenkuchen. Meine Freunde haben an mich gedacht.
Den Kuchen hat meine Nachbarin gebacken. Darüber freue ich mich wie ein Schneekönig. Ich bin noch nicht ganz in der Wohnung, da liegen nur noch Krümel auf dem Teller.